Das Leiden der Lämmer

Die TV-Serie Hannibal erzählt die Geschichte von der Beziehung zwischen Dr. Hannibal Lecter – Psychologe, Kunstliebhaber und Kannibale – und Will Graham – dem FBI Special Agent mit einer besonderen Fähigkeit.

Will Graham wird von seinem Boss dafür eingesetzt, die Position der Mörder einzunehmen. Diese also zu verstehen, um sie ausfindig machen zu können. Was er dafür benötigt ist eine überdurschnittliche Fähigkeit zur Empathie.

 

Zum Mörder werden um Mörder zu verstehen

Und tatsächlich: Graham wird von Hannibal Lecter nach dem ersten Treffen als eine Person beschrieben, die „reine Empathie“ besitzt. Im umgangssprachlichen Verständnis ist Empathie unter anderem die Fähigkeit, sich als Schauspieler in fiktive Geschichten hineinzuversetzen und entsprechend zu handeln. Im Extremfall wie dem des Will Graham begeht dieser die bereits geschehenen Morde eins zu eins mental nochmals.

Neben dieser kognitiven Perspektive auf Empathie, ist bei Will Graham die emotionale Wirkung der Empathie extrem, er versetzt sich so sehr in die Mörder hinein, dass sich das Morden nicht, wie es für ihn sollte, schlecht anfühlt.Die beschriebene „reine Empathie“, ist für Will Graham eine groteske, aber nützliche Fähigkeit, die er selbst nicht beeinflussen kann. Durch die Manipulation von Dr. Lecter verliert er nach und nach seinen Realitätsbezug.
Durch seine Arbeit beim FBI, durch die er nur mit den grausamsten Morden konfrontiert wird, ist die emotionale Empathie mit durchweg negativen Emotionen verknüpft. Das Hineinversetzen geht bei ihm so weit, dass er die Morde in Gedanken begeht, um sich völlig in den Mörder hineinversetzen zu können. Völlig akkurat ist er hierbei zwar nicht, immerhin braucht er die gesamte erste Staffel, um Dr. Lecter als Kannibalen und Mörder zu enttarnen. Dennoch ist die Begabung der “reinen Empathie” basierend auf ihren Symptomen auch in der nicht fiktiven Welt ein Rätsel in psychologischen Kreisen.

Die Emotionen anderer Menschen leichter erkennen und verarbeiten

Hochsensibel nennt man Menschen, die in der Regel vielschichtige und starke Persönlichkeiten vorweisen und vor allem dadurch auffallen, dass sie Reize sehr viel tiefer, intensiver und detaillierter aufnehmen und speichern können.
Besonders die psychosoziale Feinwahrnehmung ist hierbei geschärft. Das bedeutet, dass die Emotionen anderer Menschen leichter erkannt und verarbeitet werden können. Hochsensibilität kann also zu einem erhöhten Maß an Empathievermögen führen. Allerdings sind nicht alle hochsensiblen Menschen auf derselben Ebene erreichbar. Man unterscheidet zwischen sensorischer, kognitiver und emotionaler Sensibilität. Also entweder haben sie eine schnellere Überstimulation beim Spüren, Denken oder beim Fühlen. Selbstverständlich sind dies keine sich gegenseitig ausschließenden Kategorien. Die meisten Hochsensiblen haben Tendenzen hin zu einer Kategorie, sind aber auch für die anderen empfänglich.

Hochsensibilität kann soziale Gehemmtheit und negative Emotionalität hervorrufen.
Gleichzeitig ist bei Hochsensiblen das Denken insofern beeinflusst, dass die betroffenen Menschen eher dazu tendieren, in großen Zusammenhängen zu denken. Dies geht einher mit einer großen Vorstellungskraft. In Verbindung mit traumatischen Erfahrungen kann Hochsensibilität soziale Gehemmtheit und negative Emotionalität hervorrufen. Wer Hannibal gesehen hat, kann sich in etwa vorstellen, wie das dann aussieht.

Schon Pavlov klingelte seinen Hund an, und untersuchte kognitive Lernprozesse bei Tieren. Durch seine Funde weiß man, dass Hochsensibilität auch bei Tieren vorkommt und somit eine essentiell neuronale Ursache hat. Evolutionär könnte man Empathie dadurch erklären, dass man zum Überleben weniger genau wissen muss, was das große Tier jetzt genau tut, sondern eher, was es tut. Und das je nachdem, was man in genau dem Moment tut.

 

Wir brauchen alle Menschen, die uns verstehen.

Indem wir also auf eine bestimmte Art und Weise handeln, können wir Situationen erschaffen, in denen andere Lebewesen vorhersehbar sind. Besonders gut ausgeprägte Empathie, oder eben Hochsensibilität, ist evolutionär durch die praktische Verbindung zum Überleben der Rasse gegeben. Diversität ist wichtig, denn nicht alle Menschen können auf das Mammut zurennen in der Hoffnung, dass die eigene Körperkraft genügt.

Hochsensibilität ist keineswegs eine Krankheit, sie ist ein Phänomen, das wohl zwischen 15 und 20% der Weltbevölkerung betrifft. Die wissenschaftliche Untersuchung von Hochsensibilität steckt allerdings noch in den Kinderschuhen (die ersten, bis heute grundlegenden, wissenschaftlichen Ansätze stammen aus dem Jahre 1997) und ist vor allem neuronal noch nicht annähernd ausreichend erforscht.

Vermutlich genau wegen dem Fehlen an tatsächlichen wissenschaftlichen Daten ist in der modernen Wettbewerbs- und Heldenkultur die Hochsensibilität praktisch unbekannt, und wird oft als Schwäche, Einbildung, Neurose oder dergleichen angesehen. In den meisten anderen Kulturen jedoch wird Hochsensibilität genau wegen ihrer evolutionär angelegten Stärken geschätzt und genutzt.

Ob die fiktive Figur des Will Graham tatsächlich hochsensibel ist, ist allein dadurch schwer zu beantworten, dass er eine fiktive Person ist. Was man über Hochsensibilität und den Wert von Empathie lernen kann, muss aber glücklicherweise nicht fiktional bleiben.
Nach drei grandiosen Staffeln von Hannibal sind mir persönlich drei Dinge über Empathie klar geworden.

Empathie ist nicht gleich Sympathie.
Erstens: die Fähigkeit, sich in andere Menschen hineinversetzen zu können, ist weder positiv noch negativ konnotiert. Empathie ist nicht gleich Sympathie. Was man letztendlich mit dem Wissen, das man aus der Empathie gewinnt anstellt.

Und zweitens: Menschen, die anders sind, haben einen besonderen Wert innerhalb der Gesellschaft, der nicht unterschätzt oder unterdrückt werden sollte.

Aber vor allem sagt Hannibal dies: Wir alle brauchen Menschen, die uns verstehen. Jemanden, der uns versteht auf eine empathische Art und Weise. Die wissen, was wir brauchen, wann wir lügen und mit denen wir uns auch nur über Blicke austauschen können. Die wir in uns hineinsehen lassen und die dasselbe für uns tun.

Empathie ist dafür da, das Leben meistern zu können. Und Liebe ist dafür da, dass es auch wert ist, das Leben meistern zu wollen.

 

713313448_89920Autorin Michelle Kunz studiert die Auswirkungen von TV-Serien auf das normales Leben und nebenbei noch Philosophy & Economics. Dazu hat sie einen riesigen Schatz an unnötigem Wissen, Wortspielen und Filmzitaten, die zu jeglicher Situation (un)passend angebracht werden.

 

Titelbild: Chris Sardegna, cc0 unsplash

Newsletter


Auch spannend
Diese Programme sind die Software For Future