“Es liegt an uns”

Anne und ich trampen an diesem Tag von Wien aus Richtung Osten. Es geht sehr schnell. Nach kurzer Zeit schon stehen wir an einer Raststätte östlich von Wien, wo uns Samantha und Petra (Namen geändert) nach Budapest mitnehmen. Alle, denen wir unser nächstes Reiseziel, Budapest, genannt haben, haben uns für halbwegs verrückt erklärt, angesichts der aktuellen Umstände.

Tausende gestrandete Flüchtlinge kampieren am Keleti-Bahnhof, die Regierung scheint, wie überall in Europa derzeit, überfordert. Das Flüchtlingsthema war aber von Anfang an etwas, dem wir uns unweigerlich würden stellen müssen, wenn wir diese Reise machen wollten, das war klar. Schließlich ist unsere Route mehr oder weniger die umgekehrte so genannte „Balkan-Route“ nach Europa (Griechenland-Mazedonien-Serbien-Ungarn-Österreich-Deutschland). Das war aber Zufall. Inwiefern wir dem Thema Flüchtlinge begegnen und was wir damit machen, war unklar. Wegsehen wollten wir aber auf keinen Fall.

Als wir unsere Rucksäcke in den Kofferraum von Petra und Samantha legen, wird offenbar, dass wir das große Los gezogen haben. Er ist voll von selbst eingekauften Hilfsgütern: Wasser, Toastbrot, Taschentücher, Gemüse, Knabbereien, alles in veritablen Care-Paketen abgepackt. Mutter und Tochter sind (wie einige Österreicher derzeit) auf dem Weg zum Keleti-Bahnhof in Budapest, um dort Flüchtlinge zu versorgen. Auf dem Weg bringen sie uns auf den neuesten Stand der Information, was auch bitter nötig ist, denn wir hatten bisher nur sehr punktuell Zugang zu Medien. Alle von Keleti abfahrenden Zügen waren gestrichen worden. Ein Flüchtlingszug, der dort mit dem Versprechen abgefahren war, direkt nach Wien zu gehen, wurde kurzerhand in ein ungarisches Auffanglager (bei Bicske) umgeleitet. Die Flüchtlinge weigerten sich auszusteigen, die Polizei hatte den Zug umstellt (später wurde er geräumt).

Am Morgen waren mehrere hundert Flüchtlinge aus der Budapester Innenstadt in einem großen Zug aus Menschen aufgebrochen, um die österreichische Grenze zu Fuß zu erreichen. Außerdem wurden anscheinend einige Österreicher vor kurzem von den ungarischen Behörden bei dem Versuch gefasst, Flüchtlinge auf eigene Faust in ihren Autos über die Grenze zu schleusen. Ausgegangen war die Aktion von dem österreichischen Linksintellektuellen Robert Misik. Innerhalb kurzer Zeit hatte sich daraus eine Facebook-Bewegung entwickelt. Allerdings ist unklar, wie es damit weitergeht, weil dieses Delikt ab dem 15.9. in Ungarn als Straftat eingestuft wird (momentan ist es nur eine Ordnungswidrigkeit). Es geht also wirklich rund! Samantha und Petra sind trotzdem unerschrocken und wollen auf dem Rückweg versuchen, jemanden mitzunehmen. Allerdings muss Petra morgen auf eine Hochzeit, wie sie feststellt, und kann sich deshalb heute keine Inhaftierung leisten.

Kurz vor Budapest begegnen wir auf der Gegenspur dem Menschenzug. Eine hunderte Meter lange Prozession von Flüchtlingen, die sich aus Verzweiflung auf die Autobahn begeben hat, um das 200 km entfernte Wien um jeden Preis zu erreichen. Man stelle sich diese Verzweiflungstat einmal vor!

Nach einiger Gurkerei in Budapest erreichen wir den Keleti-Bahnhof. Unangenehm fallen als erstes Einheimische in schwarzen „Magyarorszag“ (das heißt „Ungarn“ auf ungarisch)-T-Shirts auf. Nazis? Ja, aber auch, wie wir später erfahren, Fußballfans. Ausgerechnet heute findet ein großes Spiel zwischen Ungarn und Rumänien statt. Deshalb ein enormes Polizeiaufgebot, um Eskalationen wegen eventuell angreifender Hooligans zu vermeiden. Tatsächlich waren die friedlich kampierenden Flüchtlinge kurz zuvor mit Böllern und Pyrotechnik angegriffen worden. Deshalb war die Lage zum Zeitpunkt unserer Ankunft sehr angespannt. Eine Traube aufgeregter Menschen, umstanden von Journalisten und Fotografen, skandierte immer wieder „We love Peace“. Die Flüchtlinge wirkten enorm verzweifelt und gaben ihren friedlichen Absichten in einer spontanen Aktion ausdruckt, in der sie in einer Art spontanen Schweigeminute kniend zwei Finger in die Höhe reckten – nicht „Victory“, sondern „Frieden“.

 

Nachdem sich die Lage entspannt und sich die Polizei geordnet zurückgezogen hatte, begannen wir, die mitgebrachten Hilfsgüter zu verteilen. Die ersten Familien im Hauptbahnhof selbst schienen mit allem versorgt und winkten ab. Es waren zudem sehr wenige. Erst in der Unterführung wurde die ganze Drastik der Situation klar. Eine wahrhafte Unterwelt zeigte sich uns dort, eine infernalische Stimmung lag in der Luft. Die Passage war überfüllt. Menschen kampierten auf dem Boden, manche hatten Zelte aufgebaut. Die meisten waren ruhig, beschäftigten ihre Kinder oder hörten Musik, als man aber beispielsweise mit Tüten voller Obst hineinging wurde schnell klar, wie existentiell die Lage für sie ist. Innerhalb weniger Sekunden hatte man alle Packungen verteilt. Menschen näherten sich sofort mit stierem Blick, man gab ihnen die Güter direkt in die Hände. Als ich den Sack ablegte, öffnete und vermeintlich der Einfachheit halber „Take“ sagte, begannen die Leute hastig zu raffen und beinahe gewalttätig zu werden. Es war ein kurzer, aber abgründiger Einblick (ein Vorgeschmack?), wie Menschen in Not werden können.

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Welten, die aufeinanderprallen.

Wer denkt, ich fühlte mich dabei trotzdem irgendwie gut, irrt. Ich fühlte mich nicht karitativ oder besonders wohltätig. Ich fühlte mich scheiße. Die Zeiten, in denen lächelnde Celebrities Essenspakete und Medizin verteilen und damit punkten, sind hiermit beendet. Diese Bilder sind Lügen und verrottete Ideologie. Was wir hier tun mit all unserer Spenderei ist nur der Tropfen auf einen heißen Stein – auf einen Stein, den wir zudem mit einem darunter liegenden Feuer immer weiter aufheizen. Das Feuer ist die globale Handels- und Finanzpolitik, und wir gießen mit unseren liebgewonnen Ansprüchen (subventioniertes EU-Gemüse, Supermärkte, Autos, Billigflüge innerhalb Deutschlands) billiges Öl hinein.

Es liegt an uns!

Von einem syrischen Arzt und seinem Team, der neben uns geparkt hat und dessen Rolle uns nicht ganz klar war (wahrscheinlich freiwilliger Helfer aus Solidarität), bekommen wir ein paar Fritten und Hähnchenschlegel in die Hände gedrückt. Tatsächlich hatten wir ziemlich Hunger. Samantha und Petra fahren uns noch durch den chaotischen Budapester Verkehr auf den Campingplatz, den wir uns vorab ausgeguckt hatten. In der ganzen Stadt brennt die Luft wegen des Fußballspiels, Martinshörner, schreiende, besoffene Fans, ein Helikopter über den Köpfen. Ein Wahnsinnstag.

Am nächsten Morgen erhalten wir die Nachricht, dass es Petra und Samantha anscheinend tatsächlich gelungen ist, Flüchtlinge nach Österreich mitzunehmen, auch wenn die Flüchtlinge indes, die sich von Budapest zu Fuß auf den Weg nach Österreich gemacht hatten, in einer, wie es offiziell heißt, „einmaligen Aktion“ mit Bussen abgeholt und glücklich an die österreichische Grenze gebracht worden sind. Der österreichische Außenminister Kurz betont aber: Das Dublin-Abkommen, demzufolge Flüchtlinge in dem Land Asyl beantragen müssen, in dem sie zuerst in die EU eingereist sind, bleibt bestehen. Wir werden sehen!

Hut ab vor Samanthas und Petras vielleicht etwas hemdsärmeligen, aber unerschrockenen Engagement. Von Zeit zu Zeit braucht es eben zivilen Ungehorsam, um ein Zeichen zu setzen. Symbolische Handlungen sind wichtig! Und hiermit sei diese kleine, große Tat zweier mutiger Wienerinnen der Öffentlichkeit kundgetan.

 

Der Beitrag( (c), Samstag – 5.9.2015) und die Bilder(c) stammt von Philipp Backhaus, der von seiner Reise durch Europa bloggt.

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