Kann mich die Angst vor Terror am guten Leben hindern?

Ich bin Befürworter des guten Lebens. Das heißt ich möchte es genießen, mich mit positiven Dingen beschäftigen, vielleicht ein wenig naiv sein, nachts gut schlafen und morgens sorglos verpennt in den Spiegel blicken. Zu meinem guten Leben gehört außerdem Neugierde für meine Mitmenschen. Und manchmal beißt sich letzteres mit allen anderen Punkten.

Habe ich jemandem in die Augen geschaut, der meine Werte verurteilt, mein Leben missachtet, der sogar bereit wäre, mich zu töten?
Wenn ich von radikalisierten Jugendlichen in Deutschland höre, scheint mir die Naivität schwer mit dem sorglosen Blick in den Spiegel zu vereinbaren. Laut Verfassungsschutz leben 7.900 Salafisten in Deutschland. Gleichzeitig sei die Zahl der Rechtsextremisten auf 22.000 gestiegen. Allein diese Zahlen erschrecken mich derartig, dass ich mir lieber schnell eine Serie anschalte, um die Schreckgespenster aus meinem Kopf zu verdrängen. Psychologen würden sagen, ich befinde mich in einem Zustand kognitiver Dissonanz: meine Gedanken und Gefühle sind unangenehm und lassen sich nicht miteinander vereinbaren. Um mich daraus zu befreien, kann ich auf verschiedene Strategien zurückgreifen: 1. das Problem lösen, das die Dissonanz ausgelöst hat, 2. meine Wünsche und Vorstellungen an das gute Leben aufgeben, 3. die Erregung dämpfen, durch Alkohol oder Sport, oder 4. die gewonnenen Informationen abwerten oder leugnen und in Zukunft vermeiden.

Am nächsten Morgen ist das Gesicht im Spiegel zerknittert und sorgenvoll. Was nun? Alkohol vertrage ich nicht. Sport auch nicht. Meine Wünsche sind mir zu wichtig, ich kann sie nicht aufgeben. Die letzte Option – das Problem lösen. Was ist denn eigentlich das Problem? Ich wage mich daran, mehr Informationen zu Salafisten, Islamisten und Dschihadisten zu sammeln. Die Rechtsextremen werden vorerst auf die Wartebank gesetzt.

Wie so oft habe ich es mir zu einfach gemacht: zuerst entdecke ich, dass es sich wirklich nicht um eine homogene Gruppe handelt. Viele Salafisten erkennen demokratische Werte an und sind unpolitisch, dann gibt es politisch-missionarische Salafisten, die jedoch Gewalt ablehnen. Und dann gibt es solche, die sie befürworten. Nicht zu vergessen: dschihadistische Salafisten, die zu Gewalt aufrufen und selbst gewaltbereit sind. Laut Claudia Dantschke vom „Zentrum Demokratische Kultur“, einer Initiative gegen extremistische Radikalisierung, gehören zu dieser Gruppe in Deutschland ca. 850 Personen.

In meiner Stadt habe ich die „Lies!“-Aktion mitbekommen, bei der in der Fußgängerzone Korane verteilt wurden. Ich hätte sogar fast einen mitgenommen. Ganz einfach aus Interesse daran, was die Leute sich so durchlesen. Das waren dann wahrscheinlich die missionarischen Salafisten. Habe ich dort also jemandem in die Augen geschaut, der meine Werte verurteilt, mein Leben missachtet, sogar bereit wäre, mich oder andere dafür zu töten?

Auch hier hätte ich gerne Scheuklappen. Wenn einem etwas Angst macht, versucht man es zu vermeiden. Das ist logisch, wenn es um Säbelzahntiger und Spaziergänge auf der Autobahn geht. Aber es ist gefährlich, wenn es um Sachen geht, die mich nicht konkret gefährden. Wie Spinnen, oder jemand der mir einen Koran in die Hand drücken möchte. Denn durch die Vermeidung gewinnt die Angst an Kraft. Ich suche also nach mehr Informationen, und finde das Buch „Generation Allah. Warum wir im Kampf gegen religiösen Extremismus umdenken müssen“ des Psychologen Ahmad Mansour.

Im Interview mit Funkhaus Europa spricht Mansour davon, es handele sich nicht um Zustände in Deutschland, sondern um deutsche Zustände: In seinem Buch erklärt der Radikalisierungsexperte, wie eine ganze Generation von Jugendlichen von Salafisten umgarnt wird. Die Extremisten holen die Kinder dort ab, wo sie stehen. Sie zeigen Präsenz vor Jugendzentren, Fußballplätzen und anderen Orten, an denen Jugendliche versuchen, die Langeweile zu bekämpfen. Und ihr Angebot ist bestechend: Ein klares Weltbild, Aufgaben, die einem höherem Ziel dienen, das Gefühl von mütterlich-göttlicher Geborgenheit und väterlich-klarer Autorität. Die Welt wird einfach gemacht, es gibt die eine Wahrheit, die muslimischen Opfer und deren Feinde. Und dann ist das Ganze jetzt auch noch trendy.

Ich habe mich der Angst gestellt. Das fühlt sich im Prozess hart an und im Fazit gut.
Es sind nicht nur perspektivlose Jungs mit schlechten Deutschkenntnissen und destruktivem, jugendlichen Unternehmungsgeist, die auf die Propaganda anspringen. Es sind noch nicht mal nur Jungs. Ein Drittel der salafistischen Bewegung und ein Fünftel der nach Syrien ausgereisten Salafisten sind junge Frauen. Ahmad Mansour und andere Experten betonen immer wieder, dass es keine typische Biographie gibt, an der sich die Radikalisierung voraussagen lässt. Gemeinsamkeiten gibt es aber. Oft fehle ein Urvertrauen zur Mutter und damit auch in die eigene Unversehrtheit in einer friedlichen Welt. Zu Vätern, die oft abwesend oder autoritär sind, komme nach wie vor in vielen Familien der Glaube, Erziehung bestünde darin, den Willen des Kindes zu brechen. Dazu wird auch Erniedrigung durch das Erzeugen von Scham und Tabuisierung von Sexualität praktiziert. Von außen werden Diskriminierungserfahrungen gesammelt. Was bleibt, sind Jugendliche und Kinder auf der Suche nach Orientierung, ohne Selbstbewusstsein und mit einem schrägen Wertesystem.

Die meisten sind erreichbar

Orientieren – das müssen wir uns alle in unserer Pubertät. Und auch danach immer wieder. Ich muss gerade mein Weltbild orientieren. Wie kann es passieren, dass diese Kinder so allein gelassen werden? Wie können sie hier zur Schule gehen und gleichzeitig Demokratie und die Gesetze ablehnen? Wie kann es sein, dass sie im Extremfall Gewalt und Zerstörung als Antwort auf ihre Fragen und Gefühle wählen? Nach der Angst vor dem Thema kommt jetzt Trauer über die Umstände auf.

Wie ein Rettungsring auf rauer See wirken da Maßnahmen von Deradikalisierungsprojekten wie der Beratungsstelle HAYAT oder des Violence Prevention Network in Berlin und anderen deutschen Großstädten. Ahmad Mansour schätzt, dass sich 80 Prozent der zukünftigen Radikalen erreichen lassen. Und genau das versuchen zahlreiche Initiativen. Es geht darum Zweifel anzuregen, zuzuhören und präsent zu sein. Die Familien werden darin unterstützt, Kontakt zu den entglittenen Kindern zu halten, mit den Jugendlichen wird das Gespräch gesucht. Ihre Empathie gegenüber sich selbst wird gefördert. Googelt man Empathie, findet sich etwa: „das Vermögen, sich in Eigenarten eines Gegenübers z.B. mit anderem kulturellen Hintergrund einfühlen zu können.“ Diesen Blick kann man auch nach innen richten.

Im Sinne der introspektiven Empathie schaue ich wieder auf mich und mein gutes Leben. Ich habe mich der Angst gestellt, das fühlt sich im Prozess hart an und im Fazit gut. Ich hatte Zweifel daran, wie groß mein Herz sein kann, wie viel Platz darin sein kann für jemanden, der mir Angst macht. Aber wir haben ja auch noch unseren Kopf, der ist schon rein organisch größer. Ich kann nur jeden dazu ermuntern, Kopf und Herz für das Thema zu bemühen. Man selbst profitiert davon und unsere Gesellschaft allemal!

 

 

Autorin Lea Falk aus Bielefeld schrieb diesen Beitrag für die zweite transform Ausgabe und begeisterte uns sofort!
Illustration: Maria Dittmann für transform.

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