Viele Industriebrachen werden zu teuren, hippen Quartieren ausgebaut. In Eberswalde wird es anders gemacht.
In seinen 127 Jahren hat der Rofin viele Geräusche gehört: Zuerst das wuchtige Hämmern, Walzen und Schneiden von Rohrleitungen. Dann von Munition und Panzerteilen. Backsteine, die unter Bomben zerbersten. Wieder das Walzen und Schneiden, im metallischen Takt. Nach der Wende wurde es stiller. Mal Technobeats, sonst nicht viel. Heute von allem etwas: Fräsen, Spraydosen, Soundcheck einer Jugendband. Doch hinter den Geräuschen ist alles anders als zuvor.
Der Rofin, das ist der Rofinpark in Eberswalde, benannt nach der früheren Rohrleitungsfabrik und der Finow, die unterhalb des Gewerbeparks vorbeifließt. 100.000 Quadratmeter Fläche, davon 20.000 Nutzfläche in Gebäuden. Alte Backsteinbauten, ein, zwei, vielleicht drei Stockwerke hoch. Auf manchen der gepflasterten Straßen und Gassen dazwischen sind noch immer Schienen verlegt.
Wo das große Geld vor wenigen Jahren noch undenkbar war, wird es heute dankend abgelehnt.
In dieser Größe und Industrie-Optik ist das Gelände ein Schatz. Für Anlagen dieser Art haben Investor:innen andernorts etliche Millionen gezahlt, um sie dann zu hippen Quartieren für kreative Eliten und Besserverdienende umzubauen.
Anders der Rofin: Wo das große Geld vor wenigen Jahren noch undenkbar war, wird es heute dankend abgelehnt. Den Profit soll die Stadtbevölkerung haben – in Form eines Ortes für alle. Damit ist der Rofinpark Vorreiter und Symbol einer viel größeren, unbekannten Transformation im äußersten Nordosten Deutschlands – als Hoffnung wie als Warnung.
Ei im Kunstnebel
“Wir sind bemüht, hier eine Balance zu bewahren”, sagt Sarah Polzer-Storek, die Eigentümerin des Rofins, während sie über das Gelände geht und einige der stets 90 bis 100 Mietparteien vorstellt.
Da ist Dominik im Zucht und Zucker, einem Second Hand Laden für Platten und Kleidung. Gerade wird eine kleine Bühne eingerichtet für ein Konzert am Abend. Bands von Jugendlichen aus der Stadt treten in einem Wettbewerb gegeneinander an – heute ist das Finale.
Da ist das KATI, eine Hausbrauerei. Drei, vier Grüppchen an Gäst:innen sitzen davor und läuten das Wochenende ein.
Da sind die Leute von einer Sanitär- und Heizungsfirma und die Industriekeramiker, die auch gleich Schluss machen für die Woche.
Ansonsten da: Elektrohandel, Tischlerei, Metallbauer, Boulderhalle, Kaffeerösterei, kleine Kreative, einige Vereine. Die ältesten Mieter sind ein afrikanischer Kulturverein und eine Spielothek. Der jüngste ist ein Kraftsportverein.
Erst seit 2024 aber unübersehbar im Rofin ist Adam Read, ein Performance-Künstler. Vor und in einer großen früheren Fertigungshalle bastelt er an “many things at the same time”. Eine Art Ei aus Stoff, riesig und von Kunstnebel umhüllt. Von oben hängen rote Bänder herab, auf dem Boden liegen Loriot-artige Puppen. Damit wird Read auf Tour gehen, in Norwegen und Kanada. “Absolut krasse Performance-Kunst, die man in Eberswalde so nicht erwarten würde“, sagt Polzer-Storek.
Das neue Kreuzberg
Eberswalde liegt im Landkreis Barnim, 60 Kilometer oder eine halbe Stunde mit dem Zug nordöstlich von Berlin. Rund 41.000 Menschen leben hier. Die Stadt gilt als eine Wiege der Industrie in Brandenburg, seit vier Jahrhunderten wird hier produziert: Messer, Hämmer, Landmaschinen, Dachpappen, Asphalt, Kräne oder eben Rohre.
Nach der Wende leerte sich die Stadt, Betriebe schlossen, tausende Menschen zogen weg. Kreative nutzten den Leerstand und die Industriebrachen. Aus dem “Märkischen Wuppertal” wurde das “neue Kreuzberg”. Mit der Hochschule für Nachhaltige Entwicklung und durch den Zuzug von Hauptstädter:innen auf der Suche nach Ruhe – und niedrigeren Mieten – ist Eberswalde zu einem gewissen grünen Image gekommen. Wer heute hier aus dem Bahnhof tritt, sieht vor sich ein mächtiges, hölzernes Fahrradparkhaus.
Die Hochschule für Nachhaltige Entwicklung Eberswalde (HNE) ist eine der bekanntesten deutschen Hochschulen mit Schwerpunkt auf Nachhaltigkeit und an vielen Projekten in der Region beteiligt. Auch an den drei in diesem Text beschriebenen: Rofinpark, AngerWERK und Startup Labor Schwedt.
Daran war noch nicht zu denken, als Sarah Polzer-Storek 1993 als Jugendliche von Frankfurt am Main nach Eberswalde zog. Der Vater hatte den brach liegenden Rofinpark übernommen und wollte ein Wohn- und Gewerbezentrum daraus machen.
Barnim statt Bosnien
Doch damals, als Eberswalde sich leerte, ging das schief. 2008 wurden die Konten der Familie monatelang gesperrt. Und Polzer-Storek, die als junge Historikerin eigentlich zu ethnischen Konflikten in Bosnien-Herzegowina forschen wollte, übernahm aus der Not heraus. Nicht ganz freiwillig, sagt sie rückblickend, und schon gar nicht hoffnungsvoll: “Die Prognose für Eberswalde war negativ, das Gelände verkommen und wertlos.”
In den Jahren danach bekam sie viel ab, sagt sie: von Banken nur überteuerte Kredite, aus der Stadt nur Skepsis. Der Rofin war verschrien für Schattenwirtschaft, Drogen, einen illegalen Club. Sie selbst wurde lange bedroht durch einen Kriminellen. In ihrem dunkelsten Moment stand sie hochschwanger und bis zu den Knien im eiskalten Wasser, weil eine der Hauptleitungen gebrochen war.
Der Wendepunkt kam ausgerechnet in der Corona-Pandemie, sagt Polzer-Storek. Die Menschen hätten wieder mehr lokale, gemeinschaftliche Angebote genutzt, eben auch die im Rofin. Das Jahr 2021 war in Brandenburg das “Jahr der Industriekultur”. Die alten Industrieanlagen in Eberswalde wurden belebt und bespielt, auch im Rofinpark mietete die Stadt eine Halle für Konzerte und eine Klanginstallation. “Immer mehr Leute haben gesehen, dass man hier gut Kultur machen, entdecken oder sich einfach ausruhen kann.”
Wachsen in Grenzen
Mit dem finanziellen Erfolg und der Anerkennung kamen die Zweifel. “Erst jahrelang zu leiden und mich demütigen lassen zu müssen und dann plötzlich Gewinnerin im Kapitalismus zu sein, hat mir gezeigt, wie ungerecht das System ist”, sagt Polzer-Storek. Die 100.000 Quadratmeter des Rofins sind heute ein Vielfaches wert. “Es klingt furchtbar, aber es ist ja so: Ich habe das Kapitalismus-Game gewonnen.” Doch sie wolle dieses Spiel nicht weiter mitspielen, sagt sie.
Seit 2024 ist der Rofinpark Gemeinwohl-bilanziert. Konkret heißt das etwa, dass kleine Mietparteien, wie Vereine, nur sehr geringe Mieten zahlen müssen. Die geringste beträgt nur einen Euro pro Monat. Die Mietparteien, die gute Umsätze machen, zahlen dafür etwas mehr. So überstanden alle die Pandemie.
Es klingt furchtbar, aber es ist ja so: Ich habe das Kapitalismus-Game gewonnen.
So spielt der Rofin aber auch nicht die Einnahmen ein, die in einem Gewerbepark mit 100 Unternehmen und Vereinen möglich wären. Es ist kein Geld da, das Gelände und die über hundertjährigen Gebäude von Grund auf zu sanieren. Für Sarah Polzer-Storek ist das aber gut so. Sie lehnt es ab, immer weiter und schneller zu wachsen. “Wir wachsen innerhalb unserer Grenzen genauso, wie die Stadt das Bedürfnis hat”, sagt sie.
Um zu erklären, was das im Detail heißt, deutet sie auf Haus 34, in dem sie mit einem Team den Rofinpark verwaltet. “Ich finde die Tür wirklich schrecklich. Sie passt natürlich zu den hässlichen Fenstern, die nicht in die Industrieoptik passen. Aber wir ersetzen Gebäudeteile erst, wenn sie tatsächlich kaputt sind, damit wir weniger Ressourcen verschwenden.” Zahlreiche mit hellem Backstein geflickte Wände im Rofin belegen ihre Aussage.
Wachsen in Grenzen
Heute wird der Rofinpark in Eberswalde geachtet: als relevanter Standort von Wirtschaft und Kultur, nicht wegen des Gemeinwohl- und Postwachstums-Charakters. Ganz anders bei Nadine Binias. “Der Rofinpark ist ein Leuchtturm in der Region, weil er Raum für Transformation bietet”, sagt sie.
Binias leitet in Angermünde, einer Kleinstadt eine halbe Stunde nördlich von Eberswalde, das AngerWERK. In dem Zentrum für gemeinwohlorientierte Gründungen berät sie Menschen, die dort, in der Uckermark, soziale und ökologische Projekte umsetzen wollen. Wie sie damit anfangen, wie sie an Fördermittel dafür kommen, wie sie die Öffentlichkeit erreichen.
“Aus Großstadt-Sicht klingt es banal, aber Räume sind dafür essentiell”, sagt sie. “Nur wenn es Räume gibt, können aus den vielen Einzelkämpfern in den Dörfern und Kleinstädten auch Initiativen werden.” Der Rofinpark und das AngerWERK seien solche Räume.
Transformation soll nicht nur in Großstädten stattfinden, sondern auch hier, auf dem Land im Osten, wo “Transformation” in den letzten Jahrzehnten genau andersrum ablief.
Was dort dann entsteht, sind Ideen wie ein neues, öffentliches Lernzentrum für Handwerk der nachhaltigen Art, ein Permakulturgarten oder ein Mehrgenerationen-Spielplatz. Oder auch bloß ein Bastelangebot für Kinder. “Der Menschen-zentrierte Aspekt ist wichtig, weil sonst viele denken, sie sind nicht gemeint”, sagt Binias.
Das AngerWERK selbst hat wie ein gutes Dutzend weiterer Transformationsprojekte Geburtshilfe durch die Bundesregierung bekommen. Genauer, durch ein Projekt des Bundesministeriums für Bildung und Forschung. 3,5 Millionen Euro für mehr regionale Wertschöpfung, Nachhaltigkeit und soziale Ideen in den Landkreisen Barnim, Uckermark und Uecker-Randow – grob gesagt im Korridor zwischen Berlin und Stettin.
Transformationswende
Der Gedanke: Transformation soll nicht nur in Großstädten stattfinden, sondern auch hier, auf dem Land im Osten, wo “Transformation” in den letzten Jahrzehnten genau andersrum ablief. Unternehmen gingen fort, Jobs verloren. Der ÖPNV und die Ärzt:innen, die Bäckereien und Kneipen, kurz: die Daseinsvorsorge, verschwand mit jedem Jahr etwas mehr. Zurück blieben strukturschwache Städte und Dörfer. “Von Transformation zu sprechen, noch dazu von einer sozial-ökologischen, löst hier daher oft Irritation aus”, sagt Binias.
Ganz konkret und Wohlstands-bestimmend würde dieser große Wandel gerade in Schwedt, einer Industriestadt kurz vor der Grenze zu Polen. Groß geworden ist der Ort durch die Verarbeitung von Mineralöl und die Herstellung von Papier. Beides keine sonderlich nachhaltigen Industrien. Doch ein “Startup Labor” soll helfen, sie, soweit es geht, zu solchen zu machen, wieder gefördert durch ein Regierungsprogramm. Etwas industrielle Revolution, hier, in der ostdeutschen Peripherie.
In der Raffinerie in Schwedt wurden bis zum Überfall Russlands auf die Ukraine große Mengen russischen Öls verarbeitet. Das Embargo darauf ist für die Stadt ein finanzielles Problem und Anreiz für einen Umbau der Industrie zugleich.
Die allgemeine Sorge sei nun, sagt Binias, dass diese Bemühungen von Eberswalde über Angermünde bis nach Schwedt bald ausgebremst oder sogar rückabgewickelt werden könnten. Weil die Millionen aus Berlin künftig anderswo ausgegeben werden. Weil es der Zivilgesellschaft schwerer gemacht werden könnte, sich zu organisieren. Oder weil die politische Stimmung in der Region noch weiter nach rechts abrutscht als sie es ohnehin bereits getan hat.
“‘’Transformation’ ist sehr rot-grün konnotiert. Wenn es nun eine Art Pushback gibt, würde das die Mühen für mehr Daseinsvorsorge hier um ein paar Jahre zurückwerfen”, sagt Nadine Binias.
Für immer Frühling
Auch Eberswalde ist politisch nicht so grün, wie es mit dem Blick auf den Rofinpark wirkt. Nur drei Grüne sitzen im Stadtrat, Sarah Polzer-Storek ist eine von ihnen. Dafür neun AfDler, sie bilden die stärkste Kraft. Auch bei den Landtags- und Bundestagswahlen gewann die Partei haushoch.
“Der Stadtteil hier, Finow, ist konservativ, leider teilweise auch rechtsradikal”, sagt Polzer-Storek. Mit dem frisch gekachelten Pizzaofen und ein bisschen Geld für Freibier wolle sie ein paar Leute aus dem Viertel einladen. “Mein Ansatz ist schon klare Kante gegen rechts, aber ich will zeigen, dass das hier ein positiver Ort für alle sein kann.”
Während sie das sagt, hält ein paar Meter weiter, vor der Boulderhalle, ein alter 911er Porsche. Gentrifizierung ist eine Gefahr für den Rofin, wenn auch noch in weiter Ferne. Polzer-Storek will versuchen, dass der Gewerbepark “bodenständig bleibt”. Kein schickes Fitnessstudio, kein hipper Coworking-Space, lieber noch mehr Handwerk und mehr Mittelstand.
Im Zucht und Zucker läuft der Soundcheck für den Band Contest. “Ich träum von einem Land, in dem für immer Frühling ist, …”, singt die Frontfrau. Draußen, vor dem Laden, weht der Geruch von Graffiti herüber. Adam Read sprüht Gymnastikball-große Kugeln rot an. Die Boulderer bouldern und in der Spielothek wird gespielt.
Text und Titelbild: Jonas Mayer
Media
Von der Industriebrache zum Reallabor für eine neue Postwachstumsära. Vortrag von Sarah Polzer-Storek, 2023. (Zum Video)




