Tote Tonne

Ein Verein kauftš Unternehmen die CO2-Zertifikate weg – und will so Umweltverschmutzung teurer machen. Funktioniert das?

Weltweit wurden 2019 rund 70 Millionen Tonnen CO2 ausgeglichen. Gefühlt jedes fünfte Produkt wird rechnerisch klimaneutral produziert oder wenigstens transportiert. Aber der Schein trügt: Deutschland allein emittierte im gleichen Zeitraum etwa 800 Millionen Tonnen CO2. Dennoch kommt über Kompensationszahlung eine Menge Geld zusammen. Der Großteil fließt in den Globalen Süden: Waldschutz in Brasilien, Au‘fforstung in Mexiko, Solarkocher in Kenia. Viele dieser Projekte sind durchaus sinnvoll. Gleichzeitig mutet es neokolonial an, wenn Menschen im Globalen Norden ihren Konsum mittels Waldflächen im Globalen Süden schönrechnen. Auch fielen bereits einige Kompensationsbäume Bränden zum Opfer. Für die Klimaschutz-Organisation ›Compensators e.V.‹ liegt das größte Problem aber woanders: Solche Projekte bekämpfen nur Symptome, anstatt das Problem bei der Wurzel zu packen: die Anzahl von CO2-Zertifikaten im EU-Emissionshandel.

Beteiligt an diesem Handel sind energieintensive Branchen aller EU-Staaten sowie Liechtensteins, Islands und Norwegens. Die Unternehmen dieser Branchen verursachen etwa 45 Prozent der CO2-Emissionen. Dazu zählen zum Beispiel Fluggesellschaften, aber auch Ra‘ffinerien. Sie müssen für jede verursachte Tonne CO2 ein Zertifikat vorlegen. Der Verein kauft diese Emissionsgutscheine auf und legt sie dauerhaft still. »Wenn wir nun mit Spenden Zertifikate aufkaufen, stehen diese Zertifikate der Industrie nicht mehr zur Verfügung, folglich muss die Industrie Emissionen reduzieren«, erklärt Hendrik Schuldt, Vorstand von ›Compensators‹. Keine schlechte Idee, denn die Zertifikate sind zu günstig und es gibt zu viele von ihnen. Das findet auch Jan-Erik Thie, Ökonom am ›Ecologic Institut‹, einem Nachhaltigkeits-Thinktank in Berlin. »Ein Zertifikat kostete bis 2017 noch 5 bis 7 Euro. Heute sind es mehr als 30 Euro. Die Preissteigerung trug dazu bei, die Kohleverstromung zurückzudrängen. Um aber die Anwendung klimaneutraler Technologien in energieintensiven Industrien zu unterstützen, müsste der Preis viel höher liegen.« Um alle Klimafolgeschäden einzupreisen, wären laut Umweltbundesamt 195 Euro pro Tonne nötig.

Die Idee war gut, die Welt zu bereit

Die EU senkt die Anzahl der Zertifikate ab dem Jahr 2021 um 2,2 Prozent jährlich. »Das Problem ist: Diese Obergrenze sinkt nicht schnell genug, um die Ziele des Pariser Klimaschutzabkommens zu erreichen«, so Schuldt, der am Potsdam-Institut für Klimafolgen-forschung arbeitet. Die riesige Menge der Emissionsrechte, die teilweise verschleudert wurden, und das langsame Absinken ihrer Anzahl sind Geburtsfehler des EU-Emissionshandels. Verhandelt von bremsenden EU-Ländern, wurde ein lahmer Emissionshandel eingeführt. Compensators hat sich einiges vorgenommen: »Wir bieten wirkungsvolle Kompensationsleistungen an, klären über den europäischen Emissionshandel auf und treten als politische Stimme für einen ambitionierten und gerechten Klimaschutz ein.«

Emissionshandel

Mit dem Emissionshandel will die EU CO2-Emissionen senken und mittels Preissignalen den Umbau der Wirtschaft fŸördern. Seit 2005 gilt für die Industrie: Wer eine Tonne CO2 ausstoßen will, braucht ein Zertifikat. Diese werden jährlich von der EU verteilt, wobei ihre Anzahl sinkt. Zusätzlich können Firmen, die weniger Zertifikate brauchen, diese weiterverkaufen. Der Emissionshandel soll dafür sorgen, dass Unternehmen, die besonders kostengünstig Emissionen einsparen können, dies zuerst tun. Zusätzlich zum EU- Emissionshandel führte Deutschland 2021 ein nationales System für den Wohn- und Mobilitäts-Sektor ein.

Wie groß ist der Hebel?

Die EU nimmt inzwischen über die Marktstabilisierungsreserve überschüssige Verschmutzungsrechte vom Markt. Übernimmt Compensators nun kostenlos einen kleinen Teil der EU-Arbeit? Der Umweltökonom Schuldt verneint: »Da wir die Zertifikate nicht löschen, sondern sie unbegrenzt lange aufbewahren können, zählen sie rein rechnerisch noch zum Überschuss dazu. Allerdings ist nun der rechnerische Überschuss größer als der tatsächliche Überschuss, da unsere Zertifikate nicht mehr verwendet werden können.«

Marktstabilitätsreserve

Seit 2019 werden über diesen Mechanismus hohe strukturelle Überschüsse abgebaut und der Emissionshandel in Phasen schwankender Nachfrage stabilisiert. Dafür werden in Zeiten von Überschüssen dem Markt Emissions-zertifikate entzogen und bei Knappheit freigesetzt. Umweltverbände kritisieren diese Maßnahme als unzureichend.

Innerhalb des letzten Quartals 2020 hat Compensators über 3000 Zertifikate stillgelegt. Dahinter stehen 3000 Tonnen CO2 – zum Vergleich: Menschen in Deutschland stoßen pro Jahr und Kopf etwa elf Tonnen CO2 aus. Eine übersichtliche Anzahl angesichts der Milliarden Zertifikate, die im Umlauf sind. Auch das ist ein Grund, warum der Verein nicht auf Kompensation allein setzt: »Compensators wird für jede Spende eine doppelte Dividende abwerfen: die reduzierten Emissionen und der erhöhte politische Druck«, so Schuldt. Bisher richtet sich der Verein vor allem an Privatpersonen, nun melden aber auch die ersten Firmen Interesse an: »Wir sind aktuell dabei, unser Angebot für Unternehmen zu optimieren und gehen wohl auch eine Zertifizierung durch beispielsweise den TÜV an«, so Schuldt. Gleichzeitig sieht der Compensators-Vorstand die Hauptverantwortung bei der Politik: »Uns geht die Zeit aus. Wir brauchen sofort einen stärkeren politischen Impuls für den Übergang in eine kohlenstoffneutrale Gesellschaft.«

Ungewöhnlich ist nicht nur der Ansatz von Compensators, sondern auch ihre Organisationsform. Anders als die großen Kompensationsanbieter sind sie ein Verein. Laut Schuldt liegen die Vorteile auf der Hand: »Wir kaufen für den Preis einer Tonne CO2 einfach nur diese Tonne. Wir arbeiten ehrenamtlich und unsere geringen Ausgaben finanzieren wir durch Beiträge der Vereinsmitglieder. Nicht zuletzt ist Vertrauen die wichtigste Währung in unserem Markt. Es geht um Vertrauen in den Umgang mit Spendengeldern und Vertrauen darin, dass die stillgelegten Zertifikate nie wieder auf den Markt kommen.« Der Verein veröffentlicht sämtliche Jahres- und Finanzberichte, Vereinsdokumente sowie die genaue Beschreibung der Zertifikatsstilllegung. Die Initiative ›Transparente Zivil-gesellschaft‹ zeichnete den Verein dafür aus.

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Dieser Text ist Teil unserer siebten Ausgabe. In der geht es um Körper in all ihren Formen und Farben, das Recht auf Selbstbestimmung, den Körper als Waffe und warum spritzende Vulven eine politische Dimension haben.

Seit 15 Jahren arbeitet nun ein Team mit Expertise aus Umweltökonomie, IT, Journalismus und Marketing dezentral und ehrenamtlich für den Verein. Die Anzahl der jährlich zur Verfügung stehenden CO2-Zertifikate sank in dieser Zeit nur langsam. Der Preis pro Tonne CO2 stieg kaum. Schuldt hält das System dennoch für eine gute Idee: »Der Emissionshandel kann einiges bewegen. Nun muss an den Stellschrauben nachjustiert werden: Mehr Zertifikate müssen mittels der Marktstabilisierungsreserve entzogen werden. Es dürfen nicht mehr so viele Zertifikate kostenlos verteilt werden. Mehr Branchen und Länder müssen mitmachen. Dafür kämpfen wir. Wer mitmachen will – kompensierend, aktiv oder als Fördermitglied, ist herzlich willkommen.«

Text: Julia Schächtele & Marius Hasenheit
Foto: Mahdi Rezaei on Unsplash

Quellen

Eine Tonne CO2 sollte 195 Euro kosten
Das Umweltbundesamt beziffert die »Umweltschadenskosten« einer Tonne CO2- Emissionen.
tfmag.de/sparen | umweltbundesamt.de

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Meinungsbeitrag zur CO2-Kompensation
tfmag.de/kompensation | transform-magazin.de

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