Ein Demonstrant hält bei einem Protest in zum Gedenken an George Floyd in 2020 ein Schild mit der Aufschrift "Defund the police" hoch.
Ein Demonstrant hält bei einem Protest in zum Gedenken an George Floyd in 2020 ein Schild mit der Aufschrift "Defund the police" hoch.

Wieso wir der Polizei weniger Geld geben sollten

Die Polizei bekommt jedes Jahr mehr Budget, verfolgt damit aber nur Kleinstdelikte, anstatt strukturelle Probleme in unserer Gesellschaft anzugehen. Das können andere besser, also geben wir ihnen doch das Geld.

Im Juni 2020 holt die Polizei in Bremen Mohammed I. aus seiner Wohnung. Der Mann ist psychisch krank, doch die Polizist:innen warten nicht auf den Krisendienst. I. hat ein Messer, will sich womöglich selbst verletzen und versucht schließlich, zu fliehen. Ein Beamter schießt ihm in die Brust. Mit Handschellen gefesselt verblutet Mohammed I.

Im August 2022 sitzt Mouhamed D. im Innenhof einer Einrichtung zur Jugendhilfe in Dortmund. Er sitzt in einer Ecke, in seinen Händen hält er ein Messer. Der psychisch verwirrte D. blickt erst nach oben, als ihn Polizist:innen mit Pfefferspray besprühen. Dann steht er auf. Ein Beamter erschießt ihn mit einer Maschinenpistole.

Im Juni 2023 fährt Bilel G. ohne Licht durch die Innenstadt von Herford. Als ihn eine Zivilstreife anhalten will, gibt er Gas. Eine Verfolgungsjagd beginnt. In Bad Salzufeln fährt G. in eine Sackgasse und wendet. Ausgestiegene Polizist:innen können gerade noch aus dem Weg springen. Sie drücken 34 Mal ab. G. überlebt, doch wird voraussichtlich querschnittsgelähmt bleiben.

Die Polizei, dein Freund und Helfer?

Mehr Geld für die Polizei zu fordern ist eine klassische politische Forderung – über fast alle Parteien hinweg. Konservative bis rechte Parteien ergänzen die Forderung gern mit “mehr Polizeipräsenz auf den Straßen”. Blaulicht und Uniform sollen im Alltag gut zu sehen sein. Allerdings lässt sich kein kausaler Zusammenhang zwischen mehr Polizeieinsatz und einem Rückgang von Kriminalität beobachten. Die Lösung könnte das genaue Gegenteil von immer mehr Geld sein.

In Deutschland kommen auf 100.000 Einwohner:innen immerhin über 300 Polizist:innen. Mehr sind es nur in Weißrussland (knapp 1.500) oder Singapur (über 700). Wie sicher, frei und lebenswert das Leben in einem Staat ist, ist aber kaum von der Anzahl der Polizist:innen abhängig. In Finnland gibt es weniger als 150 Polizist:innen auf 100.000 Menschen.

Dieser Text ist erschienen in transform No. 9 – Juhu! Diese Welt geht unter (Bestellen)

Egal wie viele Beamt:innen patroullieren, insbesondere wer Sex gegen Geld anbietet, illegal in einem Land lebt oder schlechte Erfahrungen mit der Staatsgewalt machte, ruft bei einem Problem selten die Polizei an. Aus gutem Grund: Polizeigewalt ist traumatisierend bis tödlich.

Polizeigewalt – allzu gern verweisen wir in Deutschland bei diesem Begriff auf die USA und den Tod von George Floyd oder die überfüllten Gefängnisse, die dort als private Unternehmen geführt werden, sollten aber nicht ablenken: Doch auch hierzulande machen rassistische Chats von Polizist:innen regelmäßig Schlagzeilen. Und jedes Jahr sterben Menschen durch die Polizei. In den letzten Jahren waren es mal acht, dann sechzehn, dann wieder zehn. Seit 1952 hat die bundesdeutsche Polizei mindestens 530 Menschen erschossen. Das Bündnis Death in Custody hat zusätzlich mehr als 180 Todesfälle in Polizeigewahrsam seit 1990 ermittelt. Knapp 80 dieser Menschen brachten sich selbst um. Ihnen wurde der Zugang zu Medikamenten oder psychologischer Hilfe verweigert.

Polizist:innen sind nach eigenen Aussagen mit dem Umgang mit psychologisch hilfsbedürftigen Menschen überfordert. “Mehrere Polizist:innen versicherten mir: Wenn ein psychisch kranker Angehöriger ausrasten würde, würden sie nicht die 110 anrufen”, so Stephan Anpalagan. Er ist Journalist, Strategieberater und Lehrbeauftragter für “Interkulturelle Kompetenz” an der Hochschule für Polizei und Verwaltung in Nordrhein-Westfalen. Seine Meinung ist klar: „Sozialpsychische Notfalldienste gibt es überall – und die haben noch nie jemanden erschossen.“

Einmal mit Profis arbeiten

Hier setzt der Ansatz der Defund the Police-Bewegung an: Der Polizei soll Geld genommen werden, um damit Prävention zu leisten oder in akuten Situationen mit psychologisch geschulten Expert:innen zu reagieren.

Institutionen wie der sozialpsychiatrische Krisendienst sind es, die schlussfolgern lassen: Es gibt Alternativen zur Polizei – auch bei sehr heiklen Situationen. Programme für Drogenabhängige, psychologische Beratung in Schulen und ausreichend Therapieplätze: Es gibt Maßnahmen, die auf lange Sicht verhindern, dass die Polizei überhaupt gerufen werden muss.

Gute Gründe für das Schieben von Geld von der Strafverfolgung in Richtung Prävention, gibt es genug:

  • Die Streife hilft nicht: Nur fünf Prozent der Sexualstraftaten werden in Deutschland angezeigt. Die Täter:innen stammen häufig aus dem direkten Umfeld, einschließlich der Familie und des Bekanntenkreises.
  • Auch bei häuslicher Gewalt hilft die Polizei selten. Nur ein Bruchteil der Delikte kommt zur Anzeige.
  • Polizei und Strafsystem verfolgen vor allem die kleinen Fische. Die häufigste von der Polizei bearbeitete Straftat in Deutschland ist der Diebstahl. Oft handelt es sich dabei um Elendskriminalität.
  • Pflichtverteidiger:innen werden von vielen Gerichten erst gestellt, wenn ein Jahr Freiheitsstrafe oder mehr droht. In diese Situation kommen wohlhabende Steuerhinterzieher:innen nicht, die leisten sich Anwälte.
  • Mehr als drei Milliarden Euro kostet die Verfolgung von Rauschgiftdelikten jedes Jahr. Gefasst werden selten große Dealer, sondern Konsumierende. Etwa 15 Prozent deutscher Gefängnisinsass:innen sitzen im Grunde wegen ihrer Drogenabhängigkeit ein.
  • Je prekärer der:die Angeklagte lebt, desto eher wird diese:r in Untersuchungshaft gebracht. Wohnungslose werden mit viel höherer Wahrscheinlichkeit inhaftiert als Menschen aus Mittel- und Oberschicht. Begründet wird dies mit “Erfahrungswerten”. 
  • In Deutschland müssen jährlich etwa 7000 Menschen wegen Schwarzfahrens ins Gefängnis. Sie landen dort, weil sie die Geldstrafe von 60 Euro oder mehr nicht zahlen können. In der JVA Plötzensee in Berlin sitzt ein Drittel wegen “Beförderungserschleichung” ein. Wäre diese eine Ordnungswidrigkeit wie etwa Falschparken, bliebe es bei einem Bußgeld und die Gefängnisse wären leerer.

Die Polizei als politische Organisation

Ein Tag Haft kostet Steuerzahler:innen etwa 150 Euro. Inhaftiert sind aber mitunter Menschen, die Tag für Tag gerade einmal 10 Euro “absitzen”. Die Kosten für den Hochbetrieb von Gefängnissen, Gerichten und Polizei ließen sich besser investieren – in die Prävention von Drogenmissbrauch, Sozialtherapien und nicht zuletzt eine Gesellschaft, in der alle eine Chance auf ein Auskommen haben und nicht im Supermarkt klauen müssen.

Allein die Umverteilung des Geldes von der Polizei zur Sozialarbeit würde nach dem Ansatz von Defund the Police allerdings nicht reichen. “Die Polizei ist eine politische Organisation, schließlich ist sie weisungsgebunden an das Innenministerium. Die Staatsanwaltschaft wiederum ist dem Justizministerium unterstellt [was der Europäische Gerichtshof kritisiert]. Die Europäische Union erkennt deutsche Staatsanwaltschaften wegen dieser politischen Weisungsgebundenheit gar nicht erst als Justizbehörde an, weshalb sie beispielsweise auch keine europäischen Haftbefehle ausstellen darf. Die Spitzen beider Ministerien sind von unseren Wahlen abhängig”, so der Demokratie- und Polizei-Experte Anpalagan.

Der Fokus der Polizei folge also politischer Schwerpunktsetzung und daher unterbewusster und bewusster Diskriminierung. „Als es um die Durchsetzung der Corona-Schutzmaßnahmen ging, sagte die Gewerkschaft der Polizei: ‘Dafür haben wir keine Ressourcen.’ Aber für die Verfolgung kleinster Marihuana-Mengen werden Streifen, für die Verfolgung von Graffiti-Sprayern auch mal ein Hubschrauber eingesetzt.“

Stephan Anpalagan hat dabei einige Ideen, wie man die Polizeiarbeit neu ausrichten sollte: “Marihuana-Konsum geht praktisch ohne Opfer einher. Warum werden Kleindealer oder unverdächtige Shisha-Bars kontrolliert, aber in Technoclubs und auf so manchen Vorstandsfeiern werden Drogen offen konsumiert? Warum werden Kirchen nicht systematisch auf Kindesmissbrauch überprüft? Die Polizei lässt die weiße Mittelschicht in Ruhe und geht dorthin, wohin sie mit Abscheu blickt.”

Wessen Verbrechen zählt mehr?

Jährlich entsteht dem deutschen Staat ein Schaden von 60 Millionen durch Betrug durch Menschen, die Bürgergeld beziehen. Steuerhinterziehung kostet uns hingegen geschätzte 100 Milliarden Euro pro Jahr. Doch Steuerhinterziehung, Wirtschaftskriminalität und Umweltverbrechen haben niedrige Aufklärungsraten und werden teils bewusst vernachlässigt. Berühmtheit erlangte der Fall von vier besonders erfolgreichen Steuerfahndern in Hessen, die als psychisch krank aus dem Dienst entfernt und erst Jahre später vor Gericht rehabilitiert wurden.

Es sind auch diese Verbrechen der Wohlhabenden, auf welche sich die Forderung “Defund the Police” bezieht. “Die Polizei würde mehr akzeptiert werden, würde man sich auf das fokussieren, was in einer Gesellschaft tatsächlich Sicherheit schafft. Für die Polizist:innen selbst wären zudem Supervision und Begleitung wichtig”, sagt Anpalagan, “beides fehlt, die Beamt:innen werden allein gelassen.”

Ganz anders, wenn Polizeiarbeit selbst zum Gegenstand von Ermittlungen wird. Dann kümmern sich Polizist:innen mitunter eindringlich umeinander. “Wenn die Polizei Recklinghausen die tödliche Gewalt durch Dortmunder Polizisten  ermittelt und die Dortmunder Kollegen einen Todesfall durch Recklinghausener Polizisten aufklären sollen, ist das ungefähr so, wie wenn die katholische Kirche den sexuellen Missbrauch durch ihre Priester selber aufklärt. Dann passiert nämlich nichts”, so Anpalagan. Die Staatsanwaltschaft ist bei der Aufklärung seiner Meinung nach keine große Hilfe: “Die sind ja selber von der Polizei abhängig und arbeiten tagtäglich kollegial zusammen.”

Neuer Fokus oder Geldhahn zu? Beides!

Viel zu lange würden die Geldhähne für Prävention, Bildung und Sozialarbeit zugedreht, während die Polizei oftmals unnütze Geldgeschenke bekommen hätte. “Streifenpolizist:innen brauchen kein Anti-Terror-Equipment. Wir haben für solche Ernstfälle Spezialeinheiten, die innerhalb kürzester Zeit vor Ort sind. Aber Panzer oder Maschinengewehre zu schenken ist für viele Politiker:innen im Wahlkampf so pressewirksam wie das hirnlose Touren durch irgendwelche Shisha-Bars”, sagt Stephan Anpalagan.

Wirtschaftsverbrechen sind allerdings komplexer als Drogenkriminalität auf dem Bahnhofsplatz und bestätigen nicht den Rassismus der Mehrheitsgesellschaft. Anpalagan will genau das durch seine Arbeit ändern.

Zumindest sieht er gute Entwicklungen bei der Zusammensetzung der Polizei: „Die Polizei der jungen Bundesrepublik bestand zu einem signifikanten Teil aus Nazis. Lange wurden konservative bis rechte Menschen von Staatsdiensten angezogen.” Heute gibt es viele progressive und selbstkritische Polizeischüler, immer mehr Frauen und Menschen mit internationaler Familiengeschichte.“

Letztlich sind es aber ein sicheres Auskommen, eine Gesellschaft in der es wenig Anlass gibt, mit der eigenen Lebenssituation unzufrieden zu sein, weil der Nachbar viel mehr hat, eine sichere Umgebung ohne drohende Überschwemmung oder Dürre, ein Alltag aus dem man nicht allzu oft drogeninduziert entfliehen will – all das würde erlauben, sich die Polizei zu sparen.

Auf dem Weg dahin: Gelder umverteilen, die Kontrollierenden kontrollieren und neu ausrichten.

Text: Marius Hasenheit

Bild: Taymaz Valley bei Wikimedia

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