Der Unterschied zwischen Wissen und Handeln

Ich bin 23 Jahre alt, männlich, in Deutschland geboren und wohnhaft, außerdem Student. Sohn, Freund, Bekannter, et cetera. Neben diesen Bezeichnungen, beschreibe ich mich lieber durch das, woran ich glaube. Zum Beispiel, dass wir nachhaltig leben sollten.

Deswegen kaufe ich meine Kleidung nur bei Second-Hand-Läden statt bei billigen Modegiganten. Außerdem verzichte ich komplett auf Fleisch und unterstütze bei jeder Gelegenheit regionale Produkte. Zugegeben, das ist bisher nicht besonders originell. So wie ich lebe, gestalten vermutlich viele Menschen in meinem Umfeld ihren Alltag. Es ist normal. Ebenso normal ist es auch, in den Urlaub zu fliegen.

 

Sind Widersprüche im Alltag vermeidbar?

Zum Beispiel nach Indien. Ich war noch nie in diesem Land. Es ist unglaublich weit weg, dass es mir in Gedanken aufregend und exotisch vorkommt. Ich suche ich im Internet nach günstigen Flügen. „So richtig nachhaltig ist das aber nicht“, sagt mir ein Freund, als ich ihm von meinem Plan erzähle. Damit hat er natürlich Recht, darüber muss ich gar nicht lange nachdenken. „Wie passt das mit deinem Lebensstil zusammen?“ Als er das fragt, muss ich überlegen.

CC0, Chee Huey Wong, pexels

Erst mal die Fakten: Hin- und Rückflug von Frankfurt am Main nach Bombay verursachen um die viereinhalb Tonnen CO²-Ausstoss. Das ist fast die Hälfte des durchschnittlichen Pro-Kopf-Verbrauchs eines Deutschen. Selbst mit einem noch so nachhaltigen Lebensstil könnte ich diese Umweltbelastung nicht wettmachen.Mein Selbstbild gerät ins Wanken. Ich versuche mir zu erklären, warum mit diesem Widerspruch auf einmal mein Alltag so Kopf steht. Deswegen treffe ich mich mit Dr. Nils Franke.

“Wir belügen uns permanent.”
Er unterrichtet an der Universität Leipzig die Theorie der Gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit. Die geht davon aus, dass alles Wissen gesellschaftlich erzeugt und vermittelt wird. Dadurch entsteht so etwas wie eine gesellschaftliche Brille, durch die wir die Wirklichkeit sehen – und so letztendlich unseren Alltag gestalten.

“Widersprüche sind im Alltag immanent vorhanden, das heißt, sie kommen natürlich im Alltag vor. Erst in dem Augenblick, in dem wir sie ansprechen, werden sie zum Problem. Im Alltag sind sie nämlich gar kein Problem, weil wir mit so einer inkohärenten Struktur leben können. Wir belügen uns permanent. Erst bei der Diskussion und Reflektion gibt es die Chance, dass wir aus dem Widerspruch Konsequenzen ziehen.” Und hier beginnt eigentlich mein Problem.

 

Ich will selbst erfahren, wie es sich anfühlt

Eine Konsequenz zu ziehen fällt mir schwer, denn es bedeutet, dass ich auf etwas verzichten muss. Um diese Entscheidung habe ich mich gedrückt, bis der Freund mich darauf ansprach– und das, ohne es zu wissen. Ich versuche jetzt, das Ganze logisch, oder um genauer zu sein konsistent, zu betrachten. Denn dann gibt es eigentlich nur einen richtigen Schluss: Da ich nachhaltig leben will und mir wünsche, dass auch andere das tun, muss ich auf meine Reise verzichten. Aber Logik ist nicht das einzige, was mich beschäftigt. Wenn ich mir Bilder vom Nubra-Tal oder vom Pichola-See ansehe oder Reiseberichte über Indien lese, weckt das eine enorme Sehnsucht in mir. Dann will ich diese Geschichten selbst erleben, will selber erfahren, wie sich dieses Land anfühlt.

“Logik verwechseln die meisten mit Wahrheit.”
Das ist nicht nur ein Gefühl – es ist ein Reiz, wie eine Naturgewalt. All diese Dinge – Logik, Reize, Gefühle – spielen bei meinen Handlungen also eine Rolle. Ich versuche nicht bloß, nachhaltig zu leben, weil es logisch und sinnvoll erscheint, sondern auch, weil es sich gut und richtig anfühlt. Genau so funktioniert das auch andersrum. Ich weiß, dass der Flug nach Indien nicht nachhaltig – und somit nach meiner Vorstellung von einem richtigen Handeln nicht logisch ist. Trotzdem will ich.

Nils Franke erklärt:

“Zwischen Wissen und Handeln gibt es einen Unterschied. Dabei ist Logik ein interessanter Begriff. Logik verwechseln die meisten Menschen mit Wahrheit. Und dabei benutzen sie oftmals den Begriff richtig. Dabei ist das erste, was sie in einem Logikhandbuch lesen, dass genau das der falsche Schluss ist. Logik hat nichts mit Wahrheit und auch nicht mit dem Richtigen zu tun. Logik ist nur die Lehre vom richtigen Schluss. Sie hat also nichts mit Wirklichkeit zu tun, sie ist lediglich der Versuch, herauszufinden, wie wir eigentlich richtig argumentieren. Wenn es dann um unsere Entscheidungen geht, spielt Rationales eine große Rolle. Aber es kommen eben auch andere Dinge dazu, zum Beispiel Emotionen, Reize oder andere Bedürfnisse.”

“Ein Leben ohne Widerspruch ist ein völlig langweiliges Leben, ein biedermeierliches.”
Ich begreife langsam, wie wichtig mein Konflikt für mich ist. Denn ich erkenne, dass ich meine Vorstellung von richtigem Handeln ständig hinterfragen muss, logische Konsistenz aber nicht die einzige Antwort bietet. Stattdessen muss ich mich auch auf mein Gefühl verlassen und mich selbst verwirklichen. Eine Sache beschäftigt mich allerdings noch immer: Als mein Freund mich auf den Widerspruch aufmerksam machte, kam ich mir ertappt vor. Ich wurde das Gefühl nicht los, dass er meinem falschen Spiel auf die Schliche gekommen ist.
In dem Moment hatte ich ein schlechtes Gewissen. Jetzt denke ich, dass dieses Gefühl falsch ist. Statt uns zu entlarven, stellt uns der Widerspruch vor eine Herausforderung.

 

So ähnlich sieht es auch Nils Franke. “Ein Leben ohne Widerspruch ist ein völlig langweiliges Leben, ein biedermeierliches. Man stelle sich ein Leben vor, das 80 Jahre lang ohne Widerspruch verlaufen ist. Das ist total langweilig. Wir brauchen neue, alternative Ideen. Deswegen würde ich dieses Gefühl, ertappt zu werden, ablehnen und stattdessen einfach von Dialogformen sprechen. Wie langweilig wäre eine Unterhaltung, in der kein Widerspruch stattfindet? Wenn alle einer Meinung sind, braucht man sich nicht zu treffen. Es wird doch erst dann spannend, wenn irgendwo ein Widerspruch entsteht. Das ist dann etwas, dass man mit diesen Kategorien richtig und falsch gar nicht mehr bezeichnen kann. Erst so kann man seine eigene Position absichern und man kann sich über den Widerspruch fragen: Ist meine Position eigentlich richtig?”

Und nicht nur das. Wenn ich überlege, wie ich mein Bedürfnisse, nachhaltig zu leben und trotzdem einmal um die Welt zu fliegen, vereinbaren kann, kommen mir Einfälle, die ich ohne den Widerspruch nicht bekommen hätte. Zum Beispiel die Möglichkeit vor Ort zu helfen. Ich google und finde, dass es unzählige Chancen gibt, Menschen vor Ort zu helfen und somit nachhaltig etwas vor Ort zu bewirken. Aus einem Gefühl wurde ein Wunsch, aus einem Wunsch ein Widerspruch. Jetzt buche ich doch den Flug nach Indien, und das mit dem Gefühl, meinem Anspruch an einen nachhaltigen Lebensstil gerecht zu werden.

Ich belüge mich nicht, sondern habe dazugelernt. War der Widerspruch erst einmal da, gab es kein Zurück mehr, nur noch ein Weiterdenken. Gut möglich, dass das nicht das letzte Mal war. Bis zum nächsten Mal, Widerspruch, ich freue mich schon auf dich.

 

Text: Lars Hendrik Setz
Gerade lebt Lars zwar in Leipzig, wo er neben seinem Studium beim Radiosender mephisto 97.6 arbeitet. In Gedanken ist er viel lieber an einem skandinavischen Fjord – an denen ist es nämlich immer schön ruhig.

Titelbild: CC Arushi Saini (unsplash); Bild im Text: CC0, Chee Huey Wong, pexels

  1. Was ist das denn am Ende für ein Murks? Das Fliegen wird doch nicht nachhaltiger, weil man erst fliegt und dann Menschen hilft. Fliegen ist ja zu allererst mal eine Belastung für die Klimabilanz. Wieso sollte es da irgendwie ausgleichend wirken, wenn man anschließend Menschen hilft? Anders sähe es aus, wenn das Fliegen notwendige Bedingung wäre, um Menschen zu helfen. Tatsächlich muss man aber nicht fliegen, um Menschen zu helfen. Diese ganze Argumentation ist einfach nur total konstruiert und hilflos. Am Ende geht alles weiter wie bisher: Die Menschen fliegen weiter, nur dass sie sich jetzt auch noch einbilden, das wäre nachhaltiges Verhalten. Sorry, aber damit ist echt nichts und niemandem geholfen.

  2. Mir hat die Perspektive gefallen, dass Widersprüche selbst neues hervorbringen können und diese innere Entwicklung und Auseinandersetzung notwendig ist . Schließe mich den Vorrednern aber an, dass die Idee das Fliegen durch “helfen” zu rechtfertigen echt verfehlt ist. Sie untermalt mit dem Fokus auf “Helfen” aus meiner Sicht eher noch die priviligierte Situation. Klingt auch nach einem psychologischen Rebound Effekt. und zum Thema “Helfen” Für eine kritische Betrachtung (“Stichwort Volountorismus” empfehle ich einen Blick hier. https://www.youtube.com/watch?v=xbqA6o8_WC0

  3. Die Frage ist doch eigentlich: Warum will er unbedingt konsistent sein/erscheinen? Er will nicht “angreifbar” werden (und zwar durch andere und durch sich selbst) in seiner Position des “Guten”. Vor welcher Nichterfüllung seiner natürlichen Bedürfnisse hat er Angst? Für mich sieht das aus wie ein tiefer Schuld-/Minderwertigkeitskomplex (narzisstische Störung), der durch den Aufbau eines falschen Selbst versucht wird, zu verdecken und zu kompensieren. Möge er lernen, sich selbst anzunehmen und zu lieben, wie er ist.

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