Die Vision von der Gesellschaft als große Familie

Ist unsere Gesellschaft im neoliberalen Denkmuster von einem alles und jeden optimierenden Staat gefangen? Es braucht eine neue, linke Vision. Warum nicht die der modernen Großfamilie?

Was ist es, das uns verbindet? Wie schaffen wir aus den vielen Einzelnen und kleinen Gruppen eine Gemeinschaft? Ist es, wie uns Neoliberale lange erzählt haben, die Idee vom Staat als Unternehmen und den Bürgern als Wettbewerben, oder ist darauf doch eine andere Sicht möglich? Ich glaube, ja! Wenn wir verstehen wollen, wie wir etwas Verbindendes finden und ein Gemeinschaftsgefühl schaffen können, dann sollten wir uns ein Vorbild an etwas nehmen, was wir alltäglich in verschiedensten Formen leben: Familie.

Die linke Lücke

Viele klassische Themen der politischen Linken wie zum Beispiel die einer gerechten Ressourcenverteilung oder auch neuere Felder wie Geschlechtergerechtigkeit und die Ehe für alle sind aus dem Fokus der Öffentlichkeit geraten oder haben sich zumindest zum Teil erledigt. Projekte wie eine allzu individualistische Identitätspolitik, die in ihrer jetzigen Form häufig eher Trennendes als Einendes betont, erscheinen mir nicht geeignet, eine Gesamtvision von Gemeinschaft zu vermitteln.

Dagegen gibt es zumindest eine linke Erzählung, die dies über Jahrzehnte geschafft hat und bis heute nachwirkt. Es ist das schwedische Folkhemmet, das „Volksheim“, in dem die Mitglieder der Gemeinschaft nicht nach den Regeln einer Klassengesellschaft sondern einer Familie zusammenleben. Leider sind uns Erzählungen dieser Art abhanden gekommen.

Zusammenleben nicht nach den Regeln einer Klassengesellschaft, sondern einer Familie.

Die Alte-Neue Rechte hat diese ideologische Lücke mit ihren Konzepten und Erzählungen, von „Altparteien“ über „Schießbefehle“ bis zur „Umvolkung“ gefüllt und den politischen Diskurs direkt oder indirekt in der letzten Zeit dominiert. Sie löst damit (wirtschafts)liberale Erzählungen ab, die nicht nur in Deutschland lange das politische Handeln bestimmt haben. Eine davon war das Konzept „der Staat ist ein Unternehmen“, das der Neoliberalismus lange erfolgreich immer wieder verankert hat und das es erlaubt hat, viele Bereiche des öffentlichen und alltäglichen Lebens unter eine Verwertungs- und Wettbewerbslogik zu stellen.

Damit wurden sogar Bürger zu Wettbewerbern, der Staat wurde zum reinen Manager. In der Konsequenz hatte diese Idee eine deutlich zersetzende Kraft für eine Gesellschaft, ebenso wie für die Natur, die nur als Produktionsressource gesehen wurde. Ein großes Hoch erlebte in dieser Zeit die Technik, teils zu unserem Wohl, aber teils auch zu unserem Schaden: Was machbar war, wurde umgesetzt, ob es nun den Verlust der Privatheit bedeutet oder uns heimlich beeinflussen soll.

Es fehlt der gemeinsame Deutungsrahmen

Es gibt viele Einzelideen, wie unser Umgang mit Natur und Technik gestaltet und unser gesellschaftlicher Zusammenhalt bewahrt werden kann, zum Beispiel eine vegane Lebensweise oder mehr Empathie füreinander. Was aber fehlt, sind gemeinsame Denk-, Deutungs- und Argumentationsrahmen, eine gesamtgesellschaftliche Vision, die Orientierung bietet. Bezugspunkte, an denen konkrete Maßnahmen geprüft und ausgerichtet werden können, so abstrakt sie auch sind.

Eine große Familie, die im Einklang mit Natur und Technik lebt, als Gesamtvision.

Unser Verhältnis zu Natur und Technik, also zwischen Menschen und ihrer Lebensgrundlage, scheint im Moment eher negativ geprägt zu sein: Verzicht, Überforderung, tiefgreifender Wandel, alles das sind Begriffe, mit denen derzeit darüber gesprochen wird. Was uns wohl abhanden gekommen ist, ist der Einklang mit Natur und Technik. Dieser Deutungsrahmen steht für Menschen, die die Natur respektieren und die Technologie beherrschen – und nicht umgekehrt. Ein anderer Rahmen, um den es hier genauer gehen soll, betrifft das Verhältnis von Menschen untereinander, ein Punkt, der durch aktuelle politisch-kulturelle und soziale Verwerfungen wieder in den Mittelpunkt rückt.

Wie können wir einer Gesellschaft mit unterschiedlichen Lebensbedingungen vieler Menschen wieder ein Gemeinschaftsgefühl vermitteln? Eine Vision präsentieren, nach der Einzelne gleiche Rechte haben und sich frei entfalten können, sich zugleich aber auch als Teil einer Gemeinschaft fühlen? Ich denke, wir müssen anfangen, über unsere Gesellschaft nachzudenken wie über eine große Familie, mit allen Regeln und Prinzipien, die für eine funktionierende Großfamilie genauso wie für die gesamte große Familie von 80 Millionen Menschen in Deutschland (und darüber hinaus) gelten.

Familie als Platz für Viele

Eine Großfamilie – ob sie sich nun wirklich als eine große Familie realisiert, als Hausgemeinschaft, als Wohnprojekt und so weiter – kann nicht nur aus Menschen bestehen, die allesamt gleich ticken. Schon wegen ihrer Größe vereint sie ganz unterschiedliche Menschen. Es kann den kauzigen alten „Onkel“ geben, der ein paarmal zu oft über die Vergangenheit spricht, es aber eigentlich herzensgut meint, genauso wie die verrückte „Großtante“, die sich schon immer die Haare färbt und ein freies Leben lebt.

Oder die „Schwester“, die mit ihrem Mann und zwei Kindern lebt und viel Zeit in ihre kleinere Familie steckt. Getragen wird eine solche Großfamilie von einem Gemeinschaftsgefühl, in dem klar ist, dass man immer wieder gemeinsam „an einem Tisch sitzt“, also einander in verschiedenen Zusammenhängen begegnet. Das heißt nicht, dass alle dieselben Lebensumstände haben, aber man trifft sich und tauscht sich idealerweise aus.

Der kauzige “Onkel”, die verrückte “Großtante”, die konservative “Schwester”, sie alle gehören dazu.

In einer solchen Familie sind sich nicht immer alle direkt grün: Der eine „Cousin“ trägt vielleicht gerne Frauenkleider, worüber die „Oma“ sichtlich die Nase rümpft, worüber wiederum die „Mutter“ sich ärgert. Aber prinzipiell gilt: Leben und leben lassen. Gerade eine linke Vision von Gesellschaft muss auch Platz für jene schaffen, die einem vielleicht nicht direkt nahestehen, ob es nun der „Cousin“, die „Oma“ oder die „Mutter“ ist.

Wir müssen wieder über Pflichten sprechen

Um ein Gemeinschaftsgefühl in einer so großen Familie herzustellen, müssen von allen Beteiligten Prinzipien befolgt werden. Man unterstützt einander gerade in schweren Zeiten, wenn auch die eine vielleicht mit etwas Bauchgrummeln, den anderen dafür umso lieber. Gegenseitige Unterstützung hat in dieser Familie einen echten Wert, anders als in Systemen, die das Recht des Stärkeren propagieren und Menschen, die anderen helfen, als „naive Gutmenschen“ beschimpft.

Ebenso gehört es aber dazu, sich einander die Meinung sagen zu dürfen, ohne gewisse Regeln des Anstands (was für ein altmodisches Wort!) zu verletzen. Ja, das rumpelt auch mal, aber in einem funktionierenden Miteinander ziehen Gewitterwolken wieder vorbei. Alle wissen ohnehin, dass das Familienleben nicht halb so gut wäre, wenn alle dasselbe täten oder meinten.

Rücksichtnahme, Anteilnahme, Humor als wichtige Ingredienzen.

Man muss außerdem zurückstecken können. Anderen das etwas mehr, das sie haben, gönnen. Im Streit auch mal den Kürzeren ziehen können. Und die eigene Identität nicht zu einem heiligen, unantastbaren Gral erklären: Ein Witz in Ehren – ob über unfähige Maulhelden („Bei dir ist auch der Hammer schuld, wenn du dir auf den Finger haust!“), paillettenverliebte Diven („Du leuchtest schöner als mein Weihnachtsbaum!“) oder andere – wird am besten von allen belacht.

Ein gesunder Humor ist eigentlich eine erstaunlich reife Art, sich mit den Eigenheiten der Menschen auseinanderzusetzen. Eine ständig bierernste Atmosphäre, in der sich alle belagern, um einander bei der ersten Gelegenheit eine Grenzüberschreitung vorzuwerfen, ist hingegen eine echte Horrorvorstellung.

Aber nicht nur die Einzelnen haben Pflichten einander gegenüber, sondern auch die gesamte Familie an sich. Am Tisch einer großen funktionierenden Familie werden Gäste ebenso wie Neuankömmlinge offen empfangen. Diese wiederum müssen bestimmte Grundregeln befolgen, wenn sie gute Gäste sein oder sich in die Familie integrieren wollen.

Eine Familie von vielen Familien

Klar ist, dass unsere Gesellschaft nicht eine einzige große Familie ist. Diese Großfamilie ist eher ein weitverzweigtes System aus vielen kleineren Familien, die in sich unterschiedliche Bedingungen haben, ob es sich dabei um traditionelle Kernfamilien, Regenbogenfamilien, Wahlfamilien, Wohnprojekte oder andere Familienarten handelt.

Was sie eint, sind die oben beschriebenen Prinzipien wie gegenseitiger Respekt und Rücksichtnahme; einander etwas gönnen können; zwar für seine Rechte einzustehen, aber sich nicht immer in den Mittelpunkt zu stellen, und noch viele andere. Und auch unsere lokale, regionale oder deutsche Großfamilie steht nicht für sich, sondern ist selbst verwoben mit vielen anderen Familien wie der großen europäischen Familie. Darüber hinaus (und sogar innerhalb dessen) ist es derzeit realpolitisch gesehen etwas schwierig, aber: Man wird das ja wohl noch träumen dürfen.

Nahe Verwandte gibt’s auch im Geiste.

Ebenso ist klar, dass Familie an sich nicht das meint, was (nur) durch Blutsverwandtschaft definiert wird. Die Bindung zwischen Eltern und Kindern spielt beim Menschen prinzipiell eine wichtige Rolle, aber sie ist nicht die einzige Form der Bindung. Gerade Kinder verlassen irgendwann das Nest (wenn auch nicht unbedingt das Haus) und gründen ihre eigenen Familien, und schon da enden die reinen Blutsbande. Und manche entdecken nicht (nur) Partner, sondern, in welchem Alter auch immer, ihr Ökodorfprojekt, ihr Mehrgenerationenhaus oder ihre Mit-Transen als zusätzliche oder neue Familie.

So reden, argumentieren und handeln

Diese Familienmetapher soll eine Grundlage für die politische Linke sein, um ihre Ideen und Maßnahmen zu ordnen und sie immer wieder gegen den Gesamtentwurf zu halten, um sie kritisch zu prüfen. Sie entspricht, glaube ich, ohnehin den Denkstrukturen der politischen Linken, die sich noch nie für Abgrenzung, sondern eher für Inklusion eingesetzt hat, aber andererseits immer wieder Schwierigkeiten hat, gewisse Regeln und Pflichten für unsere Gemeinschaft zu motivieren.

Natürlich darf man eine solche Metapher nicht überstrapazieren, ab einem gewissen Punkt hinkt jeder Vergleich. Spontan könnte man beispielsweise auf die Frage kommen, wer denn in unserer großen Familie das Familienoberhaupt sei, wenn man Familie denn wirklich so denken würde. Nun, man könnte natürlich antworten, die jeweils gewählten Oberhäupter, ob nun Bürgermeister, Ministerpräsidenten oder Bundeskanzlerinnen. Aber tatsächlich wird diese Rolle für jeden jemand anderes spielen, zum Beispiel das verehrte Sportidol, eine große Kunstlegende oder eine spirituelle Führungsperson. So, wie viele von uns unseren Lieblingsonkel oder unsere Lieblingsoma hatten, und so, wie eine Großfamilie eben verschiedene Bezugspunkte für die Einzelnen bietet.


Titelbild: CC-BY-2.0, Laurel Harvey

 

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