Die Illustration zeigt den künstlichen Baum Sol aus der Solarpunk Geschichte "Flora 2.0" von Coral Alejandra Moore. Grafik: Daniela Benedix
Grafik: Daniela Benedix

Flora 2.0: So sieht der Baum der Zukunft aus

In einer unbestimmten Zukunft zerstören Dürren und Waldbrände die Länder der Karibik. Im Wettlauf gegen die Zeit versucht eine junge Wissenschaftlerin, ihre Erfindung zum Laufen zu bringen.


Dieser Text erschien zuerst auf Englisch in der ersten Ausgabe des Solarpunk Magazine. Mit der Erlaubnis der Autorin haben wir “Flora 2.0” für transform ins Deutsche übersetzt.


Die Sonne über Inés brannte in einem grässlichen Rot, das ihr sichtlich unangenehm war. Zum gefühlt hundertsten Mal zog sie die Bänder ihrer Filtermaske hinter ihrem Kopf zurecht und atmete versuchsweise ein. So war es besser. Bis jetzt hatte sie mit der Wahl des Ortes für ihre Werkstatt Glück gehabt. Obwohl andere Teile der Karibik seit Monaten in Flammen standen, hatte sie die Auswirkungen der Brände auf ihrem sonnigen Hang hier in Puerto Rico meist nicht bemerkt. Heute jedoch verdunkelte sich der Himmel in beängstigendem Tempo. Dabei war die Sonne noch lange nicht untergegangen. Weiße Flocken fielen langsam zu Boden, wie der erste Schneefall des Winters. Nur dass es nicht Winter war. Und hier hatte es noch nie geschneit.

Wenn das so weiterginge, müsste Inés die heutigen Tests verschieben. Und wenn der Wind länger als ein paar Stunden in diese Richtung drehte, würde sie wegen der Brandgefahr evakuiert werden müssen. Das hieße dann auch, die gesamte Ausrüstung aufzugeben. Sie hatte keine Ahnung, woher sie dann noch die Mittel für einen Neuanfang nehmen sollte.

Die Zuschüsse der Regierung in San Juan, die sich um die Förderung sauberer Energiealternativen bemühte, hatten es ihr ermöglicht, ihr Traumprojekt zu verfolgen, ohne sich Sorgen darüber machen zu müssen, woher das Geld zum Überleben kommen würde. Das Geld reichte aber nicht, um die teuren Bauteile zu kaufen, um diesen Traum tatsächlich zu verwirklichen. Dafür brauchte Inés Investor:innen. Ginge der Test hier
und heute schief, würden diese wahrscheinlich kein Geld mehr in das Projekt stecken wollen. Nicht ohne Daten, die bewiesen, dass es funktioniert.

Dieser Text ist erschienen in transform No. 9 – Juhu! Diese Welt geht unter (Bestellen)

Inés zog das zerbrochene Solarpanel ein paar Zentimeter nach oben, bevor sie die darunter liegenden Leitungen und Drähte löste.

»Was summst du da? Ist das Calle 13?« Claritas Stimme ertönte aus den Lautsprechern an der Basis der Testplattform. Sie befand sich innerhalb ihres Kontrollzentrums, weit weg von Rauch und Asche, die Inés zu schaffen machten. Inés wurde sich der Melodie in ihrem Kopf gewahr, während sie die nächstgelegenen Panels vorsichtig an den Rändern anhob und an ihren Platz setzte. »Ja. Warum?«

»Ich möchte die Geschichte dieses Moments in allen Einzelheiten erzählen können, wenn jemand fragt, was ich gemacht habe, als…« Inés biss sich auf die Lippe. Sie beugte ihre Hand in einem unbequemen Winkel, um einen Draht auf der Rückseite des neuen Panels zu befestigen. »Als was?«

»Als wir den ersten synthetischen Baum gebaut und dafür den Nobelpreis bekommen haben. Weiter so, Nena.«

Inés stieß kichernd Luft aus, ihre Maske rutschte. »Du preschst wieder vor. Eins nach dem anderen. Wenn wir die Module nicht vor dem Zerbrechen bewahren können, bevor sie laufen, werden wir rein gar nichts gewinnen.« Aus den Lautsprechern hörte sie Clarita auf Tasten tippen. »Die Dehnungsmessungen sind genau am Rand des Toleranzbereichs.«

Inés fluchte leise vor sich hin. Die Panels hatten nicht die richtige Größe. Sie wichen nur um den Bruchteil eines Millimeters ab, aber das reichte aus, um sie bei jeder Drehung knacken zu lassen. Sie würde einen anderen Hersteller suchen müssen. »Es muss nur lange genug halten, um ihn in Gang zu bringen. Danach kann er die Beugung der Platten selbst regulieren.«

Inés schloss zwei Schläuche an die Rückseite an und rastete die Platte ein. »Wie sieht es aus?« »Perfekt«, sagte Clarita. Ein schnelles Klicken, die Wasserpumpe rauschte kurz. »Wir haben Strom auf den Platten.«

Inés kämpfte sich auf die Füße, trat zurück und betrachtete ihr Werk. Der Rumpf war einen Meter breit, die vier dicken Gliedmaßen hingen regungslos an seinen Seiten herab. Er war nicht besonders schön anzusehen, aber Inés liebte den drei Meter hohen Turm aus silbrig-schwarzen Platten. Sie hatten ein paar kleinere Tests gemacht und alle Berechnungen waren aufgegangen. Nun aber die gesamte Maschine zusammengesetzt zu sehen, zum ersten Mal nach der jahrelangen Arbeit, erfüllte sie mit einer Zufriedenheit, wie sie sie noch nie in ihrem Leben empfunden hatte.

Clarita hatte sich einen klugen Namen für ihre Schöpfung gewünscht, vielleicht ein Akronym, aber Inés hatte ihn einfach Sol – die Sonne – genannt, und dabei war es geblieben. Sie schaute in den Himmel und runzelte die Stirn. Der Rauch hatte sich noch nicht allzu schlimm entwickelt. Hoffentlich reichte das bisschen Sonne aus.

Die Lichter auf Sols Anzeige erwachten langsam zum Leben, blinkten erst rot, dann gelb und schließlich grün. Inés atmete tief durch. »Die Indikatoren sind grün.« »Er baut jetzt Wasser ab. Die Sauerstoffemissionen sehen gut aus.«

»Nehmen die Bakterien den Wasserstoff auf?«

Clarita zögerte und tippte auf der Tastatur. »Jep.«

Die nächsten fünfzehn Minuten des Wartens waren quälend lang. »Fast geschafft«, murmelte Inés leise vor sich hin. »Du kannst es schaffen.« Sols System war komplexer als die Nutzung von Sonnenenergie in herkömmlichen Batterien. Mit einer Reihe speziell entwickelter Bakterien wandelte Sol die Energie in sauberen Brennstoff um, der unbegrenzt gespeichert werden konnte. Hier gingen biologische und elektrotechnische Prozesse Hand in Hand, und gemeinsam erreichten beide mehr, als es jedes einzelne Feld jemals für sich allein vermocht hätte.

Inés überlegte, die Paneele wieder abzuwischen. Asche besprenkelte die glänzenden Oberflächen schneller, als ihr lieb war. Sie schaute in den Himmel. Er wurde immer dunkler. Die rote Glut der Feuer färbte den Bergkamm am Horizont rot. Ihnen lief die Zeit davon. Clarita riss sie aus ihren Grübeleien: »Die Servos drehen sich. Beeil dich!«

Ihr Herz klopfte ihr bis zum Hals. Diesmal würde es wirklich klappen. »Wie sieht der Output aus?« Clarita schwieg und rechnete. »Zehn Prozent. ¡Ea rayo! Ich kann es nicht fassen!«

Inés wusste, dass es das Vernünftigste wäre, das Ganze abzuschalten und nochmal in Ruhe durchzurechnen. Es juckte sie in den Fingern, die Daten zu studieren und herauszufinden, wo sie die Leistung verbessern konnten. Aber das würde nur alles verzögern. »Fahr ihn hoch.«

»Bist du sicher?«, fragte Clarita.

»Wenn wir evakuieren müssen, können wir ihn nicht bewegen. Er wird sich selbst bewegen müssen. Wir gehen zur nächsten Phase des Tests über.«

»Wer prescht jetzt vor?« Claritas Lachen war ansteckend, selbst wenn es durch die Lautsprecher verzerrt wurde. »Ich starte ihn.«

Clarita schwieg so lange, dass Inés sicher war, dass die Startsequenz fehlgeschlagen war. Vielleicht reichte der Strom nicht aus, um die CPU zu betreiben? Vielleicht gab es einen Fehler im Code? Inés hatte Sol so sorgfältig programmiert, wie sie ihn zusammengebaut hatte, aber es gab keine Möglichkeit zu sagen, ob er heute funktionieren würde oder nicht.

Bis jetzt.

Das Surren kam so leise, dass Inés sicher war, dass sie es sich einbildete. Sie traute ihren Ohren nicht, bis sich eines von Sols Gliedern zu heben begann und sich der Sonne entgegenstreckte. »Er ist online.« Clarita klang, als könne sie es auch nicht glauben. »Er berechnet den optimalen Winkel und bewegt sich aus eigener Kraft.«

Kleinere, dünnere Paneele verzweigten sich von dem Glied, während es sich entfaltete, und sahen jede Sekunde mehr wie ein Palmwedel aus. Ein weiteres Glied bewegte sich. Clarita pfiff. »Er ist bei zwölf Prozent Umwandlung angelangt. Er verdoppelt die natürliche Photosynthese, und dabei hat er noch nicht einmal zwei Gliedmaßen entfaltet.«

»Erzeugt er schon Wasser?«

»Hundert Prozent agua pura, das sich in seinem Reservoir sammelt. Der Output entspricht zwar nicht dem Input, aber er ist nahe dran.«

»Und es ist sauber.«

Ein drittes Glied erwachte zum Leben, hob und entfaltete sich und drehte seine dunklen Flächen dem Himmel entgegen.

Sol war alles, wovon Inés geträumt hatte, und noch so viel mehr: Er bedeutete Hoffnung. Clarita flüsterte: »Ich hatte keine Ahnung, dass er so schön sein würde.«

Die Blätter von Sol schimmerten, als sie die schwachen Lichtstrahlen einfingen, die durch die rauchige Luft drangen. Der Sonnenbaum sah genauso aus, wie Inés ihn Jahre zuvor gezeichnet hatte. Als sie beschlossen hatte, die Welt zu retten.

Text: Coral Alejandra Moore
Bild: Daniela Benedix (Portfolio)

Zur Person

Gastautor:in
Coral Alejandra Moore ist eine US-amerikanische Geschichtenerzählerin mit puerto-ricanischen Wurzeln. Sie begeistert sich für Genetik und Mikrobiologie ebenso sehr wie für Vampire und Werwölfe. (Website)

Solarpunk

Solarpunk bezeichnet ein Genre der Science-Fiction und Fantasy-Literatur, das eine utopische, hochtechnisierte Gesellschaft in Einklang mit der Natur beschreibt. Der Begriff ist ein Kofferwort aus Solar, was für Sonnenenergie steht, und Punk, analog zu anderen Science-Fiction Sub-Genres wie Steampunk oder Cyberpunk. Solarpunk ist aber auch Teil der Bewegung für antikoloniale und umweltfreundliche Gesellschaftskonzepte.

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