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Ich bin hier, wo bist du?

Die Gruppe #ichbinhier hat sich dem praktizierten counter speech im Netz verschrieben. Sie ist die inoffizielle fliegende Einsatztruppe der Kommentarspalten, die Schwarmintelligenz des respektvollen Umgangs. Klar, dass einige Transformistas da gleich mal reinschauen mussten, als der deutsche Ableger vom Kommunikationsstrategen Hannes Ley Ende Dezember gegründet wurde. Könnte ja sein, dass sich hier was tut und sich was verändern lässt?

Die ursprüngliche Gruppe #JagÄrHär ist eine Initiative der schwedischen Journalistin Mina Dennert. Inzwischen hat die deutsche Gruppe 20.000 Mitglieder und über sie wurde in der Tagesschau berichtet. Die Gruppe funktioniert vor allem über ein gemeinsames Handlungsmotto und dient als Netzwerk: Über sie werden moderiert Links geteilt, die des Counter Speech bedürfen. Der eigentliche Hauptzweck: Gesicht zu zeigen, entsprechend dem Namen einer anderen Counter Speech Initiative. In Kommentarspalten ein Gegengewicht zu setzen: gegen höhnische, böswillige Kommentare, aber auch gegen die verängstigte Wiederholung sogenannter alternativer Fakten, im Stil von „Paris brennt – war ja klar – wir sind die nächsten!“

Endlich mal aufgefangen

Aber ein anderer, sehr wichtiger Zweck macht sich von Anfang an bemerkbar, auch für mich und meine Aktivitäten im Netz. Sehr viele Gruppenmitglieder bedanken sich für die Aufnahme und äußern, wie gut es ihnen tut, sich endlich nicht mehr alleine und auf rasch verlorenem Posten zu fühlen. Eben noch mit dem Rücken zur Wand, umringt von höhnischen Trollen, die Reichsbürgerinsignien in deinem Gesicht herumschwenken und sich über einen getöteten Geflüchteten kaputtlachen – und im nächsten Moment „flutet“, so eine empörte Kommentatorin, „ein Einsatzkommando unter dem Hashtag die Kommentarspalte“. Und stellt auf einmal um dich herum Fragen wie: „Warum finden Sie das, lieber Herr Sowieso? #ichbinhier“ und „Danke für Ihre Meinung. Könnten Sie diese auch respektvoll formulieren? #ichbinhier“.

Wie klingt der Hass?

„Ich habe schon lange Kommentare gegen Hass im Internet gepostet“, schreibt Gerda B. in einem Kommentar unter dem Bericht zur Gruppe in der Tagesschau, „bis ich auf diese Gruppe stieß und Mitglied wurde. […] Als ich z.B. zu der Silvesternacht 2015/16 in Köln schrieb, man möge die Polizei ihre Arbeit machen lassen und die Ermittlungsergebnisse abwarten, wurde mir geantwortet, dass man mir ‘eine krasse Vergewaltigung’ wünsche, ich sei schwachsinnig, potthässlich, naiv, hätte keine Ahnung usw. Nun werden solche Hasskommentare von Mitgliedern der Gruppe #ichbinhier durch zahlreiche Kommentare ‘ausgebremst’.“

Und wie geht das?

Es geht also bei dem Projekt Counter Speech nicht immer nur um inhaltliche Aufklärung, obwohl das Zurechtrücken von Fakten, die etwa die Verfassung dieses Landes betreffen, ein wichtiges Motiv für viele #ichbinhier-Leute ist. Du kannst aber auch mitmachen, wenn du nicht in der Lage bist, spontan einen Vortrag über Verfassungsrecht in dein Telefon zu hacken, während du in der S-Bahn sitzt. Denn vor allem ist die Art der Formulierung oder der Nachfrage wichtig. Kluge Kommentare im Sinne der aristotelischen Klugheit, die dem Einzelfall mit Einfühlung und Erfahrung begegnet. Gelassenheit, Ruhe und Humor. Der Inhalt muss nicht entscheidend sein. Signalisiert wird vielmehr: Wir sehen dich. Wir nehmen dich wahr. Es ist nicht egal, was du sagst. Es geht darum, Präsenz zu zeigen.

Was hier umstritten wird, sind oft nicht Inhalte, sondern die inzwischen vieldiskutierten Deutungsrahmen (nicht nur) politischer Debatten, wie sie durch die kognitiven Linguisten George Lakoff und Elisabeth Wehling erforscht wurden. Lakoff machte selbst darauf aufmerksam, dass konservative und rechtsnationale Parteien und ihre Medien (wie etwa Breitbart) erfolgreicher Framing betreiben würden als progressive, weil sie Diskursmacht zu Recht als Marketingprozess behandelten und sich nicht vom Glauben an die menschliche Rationalität hemmen ließen. Ist Counter Speech eine erfolgreiche Gegenstrategie?

Tell me how I feel…

Ich bewundere die #ichbinhier-Mitglieder, die mit starken Argumenten kontern, und ich versuche das selber zu tun, wenn es mir möglich ist. Aber mir scheint, dass die Strategie, die am besten funktioniert, wirklich das Kippen der Stimmung ist, das buchstäbliche Fluten einer Kommentarspalte mit Freundlichkeit. Framing verbindet eine Ebene des Versprachlichten, Begrifflichen mit der Ausdruckswahrnehmung, die emotional ist, die Zugehörigkeit oder Ausgeschlossensein, Bedrohung oder Schutz spürbar macht. Hier können wir ansetzen und den Frame auf der Ebene der Wahrnehmung verschieben, nur indem wir zeigen, wer alles zusieht, ohne zuzustimmen. Schweigen wird als Zustimmung genommen. Daher reicht es oft, das Gefühl zu vermitteln: Das ist jetzt nicht akzeptabel.

So lässt sich die Selbstverständlichkeit aufweichen, mit der sich allzu viele Leute auf bestimmte Deutungsrahmen einigen können. Klar ist: Echte Trolle kann man nicht zähmen. Wer wirklich von der Absicht getrieben ist, Unheil zu stiften, lässt sich nicht so einfach emotional umdrehen. Aber die Wahrnehmung vieler Menschen, die nicht aktiv Böses im Sinn haben, lässt sich beeinflussen, wenn genug Counter Speech zu hören bzw. lesen ist, weil es ihre Selbstverständlichkeiten erschüttert. Ihnen wird damit gesagt: Du wirst nicht bedroht, du wirst ernst genommen, dir wird wertschätzend und aufmerksam begegnet. Hier zählt übrigens wirklich die Menge – allein schon wegen der Aufmerksamkeitsschwelle.

Vom Staat bezahlt!

Natürlich wird heftig protestiert, es gibt Gegenhashtags, jede Menge Hohn und Spott, und wir sind alle linksgrünversifft, eh klar. Für so manche Mitglieder tut mir das leid, denn sie stehen politisch ganz woanders und müssen sich ständig empört rechtfertigen, dass sie keine Linken seien. Als die Gruppe so weit anwuchs, dass in der Tagesschau über sie berichtet wurde, schwor die Kommentarspalte Stein und Bein, wir seien natürlich organisiert, bezahlt, manipuliert, fremdgesteuert, so ein Ableger von Xing oder Dunja Hayalis persönlicher Einsatztrupp.

Davon hört man nicht mehr viel, nachdem einfach durch die Vielzahl der Kommentare, die dies mit den verschiedensten Begründungen richtig stellten, klar wurde, dass keinerlei Organisation dahinter steckt. Wirklich erstaunlich war, wie zäh einzelne Personen an dieser Überzeugung festhielten. Der Deutungsrahmen des systemischen Misstrauens scheint derzeit überaus einflussreich. Das sind schon keine Verschwörungstheorien mehr, das ist schon ein umfassendes Weltbild, das einfach nicht zulässt, dass irgend etwas keinen Drahtzieher im Hintergrund haben könnte. „An so was glaube ich einfach nicht mehr“, schrieb eine Person ganz unspektakulär. Glaubste nicht? Hier sind wir doch.

Wenn du meinst, du meinst, und eigentlich hetzt du bloß…

Glauben und Meinen werden der Gruppe am ehesten zum Problem, genau gesagt, die Meinungsfreiheit. Und zwar nicht, weil die #ichbinhier-Leute sie in irgendeiner Form einschränken würden oder auch nur könnten. Schließlich haben wir keinerlei Zensurmacht, können keine Kommentare oder User sperren, wir können gar nichts – nur fragen, ob du das denn wirklich so meinst, wie du das sagst? Das Problem ist aber, dass es im kollektiven Bewusstsein schon recht fix etabliert ist – Framing again –, dass Gegenrede gegen Hetze ein Verstoß gegen die Meinungsfreiheit sei.

Es wird nicht nur nicht mehr zwischen Meinungen und Fakten, Ansichten oder begründeten Überzeugungen unterschieden. In den Debatten um und sogar innerhalb von #ichbinhier zeigte sich, dass auch zwischen Meinung und Gewaltaufruf nicht mehr so ganz unterschieden wird, wenn der Gewaltaufruf sich nur ein wenig, ein ganz klein wenig verschleiert. Und darin liegt wirklich die Hauptaufgabe. Hass und Hetze müssen überhaupt erst einmal klar gesehen werden.

Tatsächlich, so absurd das klingt: Vielen Menschen ist nicht bewusst, dass sie hetzen. Sie sind der festen Überzeugung, nur eine freie Meinung zu haben, anderen Meinungen prinzipiell gleichwertig und losgelöst von jedem negativen Effekt auf andere Menschen. Eine Meinung, deren Äußerung nichts mit Handeln zu tun hat. Eine Meinungsäußerung ist doch nur ein Abbild meiner Meinung! Und die darf ich doch haben! Wie könnt ihr mir da widersprechen? Dass Sich-Äußern eine Handlung ist, die reale Folgen und Wirkungen hat, ist vielen Personen schlicht nicht bewusst. Und so kann ihnen auch nicht bewusst sein, wer diese Handlungen sieht. Wenn wir ihnen nicht zeigen, dass wir sie sehen und dass es Handlungen sind, brauchen wir uns auch nicht zu wundern, wenn sie sich unter Gleichgesinnten wähnen.

Ethiklehrerinnen und Sozialarbeiter

Klar, dabei immer nur nett und freundlich zu sein, das ist schwer und das gelingt uns nicht immer. Innerhalb der Gruppe heißt es dann: „Ruht euch aus! Wir alle müssen auf uns achten“. Selfcare wird hochgehalten, der gegenseitige Umgang ist bestärkend und liebevoll. Obwohl die Gruppe in sich wirklich sehr vielfältig ist und Menschen aller politischen Richtungen enthält – ja, es sind wohl auch Personen schon gegangen, weil es auch AfD-nahe Gruppenmitglieder gibt –, gebrauchen viele von uns einen Ton, mehr oder weniger bewusst, der irgendwo zwischen einem Seminar zur gewaltfreien Kommunikation und einer Weiterbildung für Soziale Arbeit liegt. Ernsthaft, aber auch mit viel Selbstironie.

Und manchmal, ganz ehrlich, manchmal gönne ich es den Kommentarspalten so richtig. Wie sich da auf einmal ein riesiger Schwarm von wohlmeinenden Ethiklehrerinnen auf ihnen niederlässt, an denen der Zynismus nur so abgleitet wie Wassertropfen an einer freundlichen Ente. Einige von uns sind tatsächlich Ethiklehrerinnen, andere hören sich nur so an, und ich sage das mit allem Respekt und im besten Sinn des Wortes. Ich musste in dieser Gruppe schon öfters daran denken, dass der raubauzige Ton des Wirdmandochnochsagendürfens (auch da, wo er von Frauen gebraucht wird) stilistisch immer viel von Männerbund und Machismo an sich hat. Für den Umgangston und die Manieren, das gegenseitige Verständnis und die Einfühlung, das Sich-Nicht-die-Köpfe-Einschlagen waren jahrzehntelang die Mütter zuständig, die Erzieherinnen, die Lehrerinnen. Vielleicht kommt daher der trotzige Ton, mit dem uns (Männern wie Frauen) gern begegnet wird. Aber wir lassen euch im Sandkasten nicht allein. Ist ja schließlich auch unser Sandkasten. Also passt auf euch auf da draußen – gegenseitig.

Gerade wird übrigens der Plan diskutiert, einen französischen Ableger anzuregen. Kennt nicht jemand jemanden, der Lust hätte, den bisher vielleicht hilfreichsten JeSuis…-Hashtag einzurichten: #jesuisici? Denn irgendwo sind wir ja schließlich alle.

 

Mehr zum Thema:

Wir selber müssen widersprechen

Wider dem Hass im Netz

 

 

Beitragsbild: Nicolas Alejandro, CC

  1. #ichbinhier und möchte mich sehr herzlich für Ihre wunderbaren Worte bedanken. Diese zeigen nicht nur, wie wir uns selbst definieren, sondern auch, wie wichtig diese Arbeit ist. Ja, manchmal ist es Arbeit. Auch wenn man sich der Unterstützung gewiss sein kann: Der alltägliche Hass geht einem zuweilen doch sehr an die Nieren. Schwächt einen. Belastet und macht wütend. Gestern habe ich dazu in unserer Gruppe geschrieben, dass ich meine Mitgliedschaft mittlerweile als Narrativ für mein eigenes, gewachsenes Diskussionsverhalten sehe. Ich wurde sensibilisiert und betrachte meine Außenwirkung differenzierter. Trenne viel mehr Inhalt und Form und kann so selbst viel glaubhafter auftreten. Und, ja, ein wenig bin ich stolz. Nicht auf mich. Ich bin stolz darauf, was unsere Admins leisten und wie sie die Netzwelt ein klein wenig in eine empathische Mitte zu rücken verstehen. Herzliche Grüße – Kai Mitschke

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