Stufensteigende Rollstühle und GPS für Blinde: Der Markt für individualisierte Technikhilfen wächst. Aber dieser Kram ist oft sinnlos – und versperrt den Blick auf das wahre Problem der mangelnden Zugänglichkeit.
Ich gestehe, ich bin ein Technik-Freak. Mir gefallen Tüfteleien und Spielereien allgemein – und manches erleichtert Menschen mit Behinderung auch immer mehr den Alltag. Doch es gibt natürlich zwei Seiten einer Medaille, und die unschöne von beiden zeigt eine Menge Unsinn, der Menschen mit Behinderung nur Sinn vorgaukelt, in Wirklichkeit aber neue Hürden aufbaut. Oder, wie S.E. Smith in seinem Beitrag die Design-Strategin Liz Jackson zitiert: »Eine elegante Lösung aus guter Absicht heraus, aber für ein Problem, von dem wir bisher nicht wussten, dass wir es haben.«
Smith zählt eine Menge aktuellen Humbugs auf. Da ist ein stufensteigender Rollstuhl, tragbare GPS-Einheiten für Blinde oder zeichnende Handschuhe zum Verstehen von Gebärdensprache. Klingt erstmal toll. Ist es aber nicht immer. Diese Rollstühle sind teuer, also nur für eine kleine Minderheit, und unsicher. Blinde benutzen eh schon ihre Smartphones bestens zur Orientierung, und diese Handschuhe übersetzen eher aus dem Elbischen denn die Gebärdensprache – warum also nicht gleich bei Interesse sie lernen?

Eine Rampe ist immer die beste Lösung
Die stufensteigenden Rollstühle aber sind ein echtes Symbol für ungefragte Leckerlis, die ein Problem sogar verschärfen. Denn dies ist die fehlende Zugänglichkeit vieler Orte. Die Vertreter dieser Rollstühle, halt ohne Behinderung, delegieren aber dieses Problem an jene, die es auszubaden haben: Nicht der Ort soll sich ändern, sondern ich mich. Ich komm da nicht rein? Selbst schuld, hol dir doch den stufensteigenden Rollstuhl. Dabei wäre die Lösung ganz einfach: Von Zugänglichkeit profitieren alle, wie zum Beispiel Reisende mit Rollkoffer. Eine Rampe gleich mit zu planen oder anzubauen ist stets die einfachste, kostengünstigste und gerechteste Lösung. Dieser Stufensteigkram dagegen ist absurd. All diese Technikverliebtheit offenbart eine komische Sicht auf Behinderung. Warum, schreibt Smith, haben alle Angst vorm großen, bösen Rollstuhl? Behinderung ist keine persönliche Tragödie, die durch individualisierte Technik weggezaubert wird. Sie ist da. Man geht mit ihr um und schafft Lösungen, Stichwort Rampe und Smartphone. Doch wie Technik-Gadgets hereingeschneit kommen, erzählen sie einfach nur, dass der technische Fortschritt sich ganz allgemein rascher vollzieht als der menschliche. Wir hinken mental hinterher. Und verpacken Behinderung in angeblich netten Schmuckstücken. Dies entlastet die Mehrheit der Nichtbehinderten nach Lösungen für alle zu suchen und vor allem das Recht auf Zugänglichkeit für alle einzulösen.
Setzen wir uns also an die Umsetzung von Rechten und nicht ans Basteln von sinnlosen Technikgadgets.
Woran liegt diese Trägheit und diese Flucht zum Technikkram? Vielleicht hat es mit einem überkommenen Blick zu tun, den Andrew Pulrang herrlich mit einem »Warum ich heute optimistisch bei Kindern mit Behinderung bin« betitelten Beitrag beiseiteschiebt. Er bilanziert, was sich alles geändert hat: Das, was man früher mit »besonderen Bedürfnisse« verballhornte, ist heute ziemlich allgemein geworden; es gibt in Deutschland Millionen Menschen mit Behinderung, sie wegzuschließen ist nicht mehr die allerneuste Mode in der Politik. Es sei normal geworden, schreibt Pulrang, dass wir einen freien und gleichen Platz in der Gesellschaft erwarten.
Die Art einer Behinderung definiert eben nicht mehr das Potenzial eines unabhängigen und glücklichen Lebens. Pulrang zitiert eine Pionierin der Bewegung, Judy Heumann: »Unabhängig leben bedeutet nicht, die Dinge selbst zu tun, sondern zu kontrollieren, dass die Dinge getan werden.« Mit den richtigen Instrumenten und der richtigen Unterstützung gibt es ein ordentliches Maß an Unabhängigkeit – es kommt auf die einzelne Einstellung und die der Gesellschaft an. Der Drang, Menschen mit Behinderung zu »beschützen«, bildet sich zurück. Vieles wird selbstverständlicher. Setzen wir uns also an die Umsetzung von Rechten und nicht ans Basteln von sinnlosen Technik-Gadgets.
Text: Raúl Aguayo-Krauthausen
Foto: Possessed Photography on Unsplash
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Raúl Aguayo-Krauthausen
Inklusions-Aktivist und Gründer der Sozialhelden.
Der studierte Kommunikationswirt und Design Thinker arbeitet seit über 15 Jahren in der Internet- und Medienwelt.
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