Warum Blutzucker an (fast) allem schuld ist

Freitagabend, im Büro brennt noch Licht. Ein Angestellter geht nochmal den Quartalsbericht durch. Sein Gegenüber am Schreibtisch bringt, ohne es bewusst wahrzunehmen, mit dem Bleistift den Rhythmus von Rebecca Blacks Partykracher „Friday“ auf den Tisch. Die Schallwellen breiten sich genüsslich im Raum aus und erreichen so auch das Ohr unseres netten Herren. Das nervt natürlich. Doch er weiß, dass der andere empfindlich ist und keine bösen Absichten hat. So beschließt er, die Sache gütlich zu ignorieren.

An der Bushaltestelle vor dem Bürogebäude steht eine junge Dame und wartet auf den Bus nach Hause. Zehn Minuten Verspätung hat der bereits, ein Blick die lange Straße hinunter verspricht keine zeitnahe Besserung der Lage. Sie könnte Taxi fahren, aber gerade gestern hat sie beschlossen, ein bisschen mehr auf das liebe Geld zu achten. Eine Gruppe Jugendlicher zieht vorbei. Drei von ihnen wollen in die Kneipe, die Vierte muss morgen um sieben Uhr arbeiten, aber Lust hätte sie ja eigentlich schon. Bereits in der Kneipe befindet sich ein Mann auf Diät beim Feierabendbier. Am Tisch neben ihm wird gerade das Essen gereicht. Es gibt natürlich etwas unglaublich Leckeres.

Gleichzeitig sitze ich am Computer und schreibe. Zumindest in der Zeit, in der ich nicht wahllos auf YouTube, Facebook, Wikipedia oder Musikdiensten rumklicke, zum gefühlt zwanzigsten Mal zum Kühlschrank gehe, abwechselnd Tee und Kaffee koche, Käse esse, Mandarine esse, auf mein Handy schaue oder mich sonst irgendwie ablenken lasse.

Der Versuchung nachgeben oder den Vorsätzen treu bleiben?

Was bestimmt, wie die nächsten Minuten der Zauderer im Büro, auf der Straße, in der Kneipe ablaufen? Es ist Traubenzucker. Ein Allerweltsstoff, den wir alle tagein, tagaus in unserem Blut herumtragen: Glukose. Blutzucker. C6H12O6.

Blutzucker ist im Grunde genommen Benzin für unser Gehirn. Geschätzte 100 Milliarden Nervenzellen, eingebettet in etwa zehnmal so viele Gliazellen, verbunden über 100 Billionen Synapsen. Und jede einzelne Zelle benötigt Nahrung, um ihre Arbeit zu verrichten. Während sich viele Körperzellen auch mit Fettstoffwechsel zufriedengeben, hat das feine Gehirn sich die Blut-Hirn-Schranke vor sein Domizil gebaut: „Freie Fettsäuren müssen leider draußen bleiben.“ Hinter dieser Schranke offenbart sich ein regelrechter Exzess: 2 % der Körpermasse verballern hier 20 % der Kalorien. Doch auch innerhalb des Gehirns herrscht keinesfalls Gleichberechtigung, was die Energieverteilung angeht. Einige sehr wichtige Prozesse verbrauchen eher wenig Energie, andere relativ viel. Man geht davon aus, dass Gehirnfunktionen, die evolutionstechnisch später ihren Weg ins Gehirn gefunden haben, normalerweise komplexer sind und auch mehr Energie verbrauchen. Gemäß der „last in, first out“-Regel sind diese Prozesse allerdings auch die ersten, die bei Energiemangel nicht mehr richtig funktionieren.

Selbstkontrolle ist ein Energiefresser

Eine dieser Funktionen, die schnell über Bord gehen, ist die gute alte Selbstkontrolle. Angesiedelt im präfrontalen Cortex, quasi hinter der Stirn, ist sie evolutionär noch relativ jung und ein regelrechter Energiefresser. Experimentell lässt sich zeigen, dass Aufgaben, die höhere Konzentration verlangen, zu einer Senkung des Blutzuckerspiegels führen. Etwa dem stummgeschalteten Video einer sprechenden Frau zu folgen, nicht aber die Wörter zu lesen, die am Bildschirmrand eingeblendet werden: Das verlangt hohe Disziplin und kostet Energie, also Blutzucker. Umgekehrt geben Testpersonen mit niedrigem Blutzuckerwert schneller auf, haben ihre Emotionen schlechter unter Kontrolle, und fühlen sich generell schlechter. Mit einem einfachen Glukosedrink konnten Forscher aus Florida den Effekt hingegen wieder weitestgehend umdrehen.

Daraus folgt: Ein niedriger Blutzuckerwert verhindert eine effektive Selbstkontrolle. Oder stört sie zumindest. Dass Selbstkontrolle verhältnismäßig wichtig für das menschliche Zusammenleben und auch sonst ganz praktisch ist, weiß wohl jeder. Spannender ist die Erkenntnis, dass Gedanken – und Gedankenkontrolle – Ressourcen verbrauchen. Das erklärt so einiges: Zum Beispiel, dass die meisten Rückfälle bei Diäten, zurück zu Zigaretten oder Alkohol am Abend passieren. Abends wird Blutzucker vom Körper schlechter verarbeitet als morgens. Alkohol senkt den Blutzuckerspiegel ebenfalls, weshalb „Einer geht noch, aber dann ist Schluss“ so herrlich schlecht funktioniert und die Zigarette nach ein paar Bier doch wieder eine gute Idee zu sein scheint. Selbst der netteste Mensch wird mit genügend Hunger und damit niedrigem Blutzuckerspiegel reizbar. Und wer seine Mitmenschen so lange nervt, bis sie endlich nachgeben, hat im Grunde nichts anderes gemacht, als nach und nach ihren Blutzucker zu verbrauchen. Nerven ist also ab jetzt doppelt unhöflich.

Esst lieber mal ‘nen Apfel

Und nun? Ich könnte mich hinstellen und regelmäßige, gesunde Mahlzeiten sowie genügend Schlaf predigen. Das wäre tatsächlich hilfreich. In Anbetracht der Tatsache, dass es gerade 14 Uhr ist, und ich noch nichts außer Kaffee gefrühstückt habe, um heute noch diesen Artikel fertig zu schreiben, wäre das aber wohl ein bisschen heuchlerisch.

Mitnehmen kann man aber eine wichtige Erkenntnis: Das Gehirn operiert nicht abseits vom Rest des Körpers auf einer abstrakten Ebene. Auch wenn wir auf gewisse unterbewusste Prozesse wenig Einfluss haben, verbrauchen hier doch ganz reale Zellen ganz reale Energie. Es ist keine Entschuldigung dafür, nach einem langen stressigen Tag doch wieder zur Zigarette zu greifen – aber eine gute Erklärung. Und es kann entlastend sein, nicht allein schuld an etwaigen Rückfällen zu sein. Bleibt ein Auto mit leerem Tank liegen, dann ist das kein Fehler des Autos. Denn um seine Aufgaben vernünftig zu erledigen, braucht auch der Frontallappen seinen Treibstoff. Wir können uns bloß bemühen, dafür zu sorgen, dass davon immer ausreichend zur Verfügung steht. Wer sich in der Entwöhnungsphase befindet, braucht vielleicht gar kein Nikotinpflaster. Sondern kann es mal mit Obst versuchen.

Und wenn du doch mal schwach wirst – auch der Blutzucker hat Schuld!

 

Der Artikel erschien in unserer neuesten, gedruckten Ausgabe zum Thema Widersprüche. Diese kannst du direkt in digitaler oder Papierform bestellen.

 

Der Autor Lukas Diestel studiert Englisch und Kognitionswissenschaften in Freiburg, podcastet, schreibt für doktorpeng.de und schafft auch ansonsten allerlei Kreatives. @eckdoktor

Beitragsbild: Illustration von Ed J Brown 

Autorenbild: Marius Green

Wenn Du dich weiter mit dem Thema befassen willst:

Studien zur Wirkung von Glukose auf Selbstkontrolle:

Gailliot MT, Baumeister RF, DeWall CN, Maner JK, Plant A, Tice DM, Brewer LW, Schmeichel BJ (2007) Self-control relies on glucose as a limited energy source: Willpower is more than a metaphor. Journal of Personality and Social Psychology, 92(2), 325-336.

Gailliot MT, Baumeister RF (2007) The physiology of willpower: Linking blood glucose to self-control. Personality and Social Psychology Review, 11(4), 303-327.

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