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Das ist doch utopisch! – Über die Ideologie des Anti-Utopischen

„Das ist ja utopisch!“ – Mit einem Satz lässt sich der Anfangsmotivation jeder halbwegs unkonventionellen Idee ein Dämpfer verpassen. Ohne dass zusätzlich fundierte Argumente nötig wären. Aber warum wird „utopisch“ eigentlich so oft leicht abwertend synonym genutzt für „unmöglich“?

Wie wollen wir leben?

Ursprünglich ist „Utopia“ der Name einer fiktiven Insel mit idealen Verhältnissen in dem 1516 erschienen Roman des englischen Autors Thomas Morus1. In der Erzählung existiert diese Insel gegenwärtig, allerdings an einem nicht bekannten Ort. Morus wollte den Kontrast zwischen der Realität und dem Idealzustand aufzeigen. Seine Leser sollten sich fragen: Wie wollen wir leben?

Heute wird der Begriff der Utopie zukunftsbezogen verwendet. Etwas Vergangenes oder Gegenwärtiges kann nicht utopisch sein.. Außerdem sprechen wir auch nicht selten, ohne darüber nachzudenken, von ideologischen Utopien. Transform-Autor Marius Hasenheit setzt sogar Ideologie und Utopie gleich, wenn er schreibt „Ist es nicht traurig, dass wir so postideologisch eingestellt sind?“2 Und damit ist er nicht allein.

Der Designtheoretiker Gert Selle definierte Utopien als noch nicht verwirklichte Möglichkeiten.3

Utopie vs. Ideologie

Die Ideologie dagegen ist Selles Definition nach unbewusst: soziologische und psychologische Voraussetzungen, Vorstellungen, Werthaltungen und unhinterfragte Normalitäten, die unserem Handeln zu Grunde liegen. Selle definierte die Begriffe für die gestalterische Praxis. Ich würde sie ganz kühn auf menschliches Denken und Handeln im Allgemeinen übertragen:

Was wir als „normal“ akzeptieren und nicht mehr hinterfragen, also das Fehlen einer Utopie, begründet dementsprechend ein Handeln, das den Status Quo und die bestehenden Machtverhältnisse absichert. Und das ist ideologisch.

Kann ein Produkt unideologisch sein?

Ein Beispiel: Ich wohnte vor kurzem der Verleihung des ZEIT Wissen-Nachhaltigkeitspreises an den Reinigungsmittel-Hersteller Frosch bei. Die Laudatorin, eine Sustainability-Managerin von Tchibo, freute sich darüber, dass „die Produkte so völlig unideologisch daher kommen“. Kann ein Produkt unideologisch sein?

Ohne die Leistungen des Familienunternehmens schmälern zu wollen, deren Grundidee in den 80ern, eine umweltverträgliche Möglichkeit des Wäschewaschens anzubieten, durchaus utopische Elemente trägt:

Es hinterfragt bis heute (verständlicherweise) nicht, ob Menschen überhaupt in Plastik abgepacktes Waschmittel in Drogerien kaufen müssen und wie oft wir Wäsche waschen müssen. Dies wären also nach Selle Ideologien, die dem Produkt inhärent sind und damit reproduziert werden. „Unideologisch“ ist das Produkt also nicht.

Das heißt nicht, dass Ideologien immer schlecht sind. Aber wir sollten uns ihrer bewusst werden, sodass wir nicht ungewollt reproduzieren, was wir eigentlich nicht gut finden. Nur weil wir es als normal akzeptiert haben.

Der Gegenentwurf zum Faktischen

Als Grundlage des Handelns ist die Utopie eine Alternative zur Ideologie im Sinne Selles. Und sie vermag, diese aufzubrechen. Um beim Waschen zu bleiben: Wenn wir oben beschriebene, dem Produkt innewohnende Ideologien erkennen, reflektieren, und nach utopischen Gegenentwürfen suchen, ist das Resultat ein anderes:

Wie wäre es, wenn unser Waschmittel im Vorgarten wüchse, wir kein Geld dafür bezahlen müssten, kein Transport, keine Verpackung, keine Schlepperei?

Eine Utopie, die für das Unternehmen Frosch aus sehr verständlichen Gründen nicht allzu attraktiv ist. Denn es ist, auch wenn es sich innerhalb des Systems progressiv verhält, doch ein Repräsentant desselben. Ein System, in dem Unternehmen Geld verdienen und Märkte bedienen, während Individuen passiv konsumieren.

Ihr Handeln und Werben macht andere Möglichkeiten weniger sichtbar. Wir sind immer noch bei der Wäsche: Es gibt eben kein Unternehmen, das dafür wirbt, für die Reinigung der Wäsche Efeu zu nutzen.

Mehr Utopie! Mehr Glitzer und Ausflippen!

Wenn wir das Wort „utopisch“ gleichbedeutend mit „unmöglich“ verwenden, tun wir dem Wort und uns selbst keinen Gefallen. Denn Utopien sind ein hervorragendes Werkzeug: In ihnen kann das „große Ganze“ hinterfragt werden.

Doch Sprache ist mächtig. Wird „utopisch“ zum Schimpfwort, trägt es dazu bei, noch nicht verwirklichte Möglichkeiten zu unterschätzen. In der aktuellen Lage der Menschheit nicht unbedingt die beste Idee. Also: Mehr Utopie! Mehr Glitzer und Ausflippen! Mehr scheinbar Unmögliches möglich machen!

1 Thomas Morus, Vom besten Zustand des Staates oder von der neuen Insel Utopia, 1516

2 https://www.transform-magazin.de/die-utopie-die-zur-dir-passt/

3 Gert Selle, Ideologie und Utopie des Design, 1973

Bild: flickr/Jeanne Masar

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