Menschen wanderten aus unterschiedlichsten Ländern nach Israel ein – viele aus Autokratien. Dennoch wurde eine Demokratie aufgebaut und bis heute verteidigt. Wie hat das funktioniert?
Geht es um Israel, geht es um Geopolitik und eine emotionale, oftmals einseitigen Debatte – so auch bei der Betrachtung der Staatsgründung. Verständlich: Israel wurde am Tag nach der Staatsgründung von allen Nachbarn angegriffen. Aus dem Blick gerät dabei die historische und demokratietheoretische Frage: Warum wurde Israel als Demokratie gegründet und wie konnte diese über all die Jahrzehnte und Kriege verteidigt werden?
Schließlich trafen und treffen dort unterschiedlichste Menschen mit unterschiedlichen Gesellschaftsutopien aufeinander. Mit der Staatsgründung befand sich Israel im Kriegszustand. In den meisten Ländern werden bereits aus weniger schweren Gründen Stimmen nach einem starken, nach einem autoritären Staat laut.
Sozialistischer Idealismus im frühen Israel
Jüd:innen leben seit etwa 3.300 Jahren im heutigen Israel. Eigenständig oder fremdverwaltet. 636 nach der Zeitenwende wurde die Region durch Araber kolonisiert. Kreuzfahrer herrschten von 1099 bis 1291 im Lateinischen Königreich Jerusalems. Mamluken folgten bis 1517 und wurden durch das Osmanische Reich bis 1918 abgelöst. Keine der Obrigkeiten sah für die dünn besiedelte Region eine eigene Verwaltung vor.
Mit der Staatsgründung 1948 wurde Israel als parlamentarische Demokratie geboren. Gleichzeitig gab es insbesondere russisch-jüdische Sozialist:innen, die eine egalitäre Gesellschaft anstrebten und diese mit der Kibbuzim-Bewegung umsetzten.
Ein Kibbuz ist eine Kollektivsiedlung, in denen es kein Privateigentum, dafür basisdemokratische Strukturen gibt. Viele der Siedlungen fokussierten sich auf Landwirtschaft. Mit den Kolchosen des Realsozialismus lassen sie sich jedoch nicht vergleichen, denn Kibbuzim begründeten sich nicht auf staatlichen Zwang, sondern auf Freiwilligkeit. Und es funktionierte: Bis zu 2.000 Menschen lebten in einem Kibbuz. Das erste von ihnen, Degania A, wurde bereits 1910 am Südende des Sees Genezareth gegründet. Es gab Hunderte von ihnen.
Verschiedene Quellen wie die Thora, aber auch nicht-israelische Quellen weisen ab 1500 vor der Zeitenwende auf die Entstehung des israelischen Volkes hin. Die Nennung Israels auf einer ägyptischen Siegesstele von 1208 vor der Zeitenwende gilt als erste in der Geschichte.
Vor der Zeitenwende ist eine alternative Formulierung, vor / nach Geburt Jesu Christi. Sie war und ist in atheistisch oder nicht-christlichen Regionen gebräuchlich und wird zunehmend von Historiker:innen verwendet.
Schtetl oder Stetl ist Jiddisch für Städtlein; Siedlungen mit vielen Jüd:innen.
Politisch wollten die Kibbuzmitglieder:innen, die Chawerim, auch dem Schtetl, dem traditionellen jüdisch geprägten Dorf, etwas entgegensetzen. Ziel war es, etwa die patriarchalische Kleinfamilie aufzulösen. Erziehung oder Haushaltstätigkeiten wie Kochen oder Wäsche waschen wurden als Dienstleistungen zentralisiert. Wichtige Ämter rotierten. Standen sozialistische Chawerim einem liberalen oder gar konservativen Staat entgegen?
Professor Dr. Michael Brenner widerspricht: »Ich sehe keinen Gegensatz von Demokratie und Kibbuzim. Schließlich gab es in den Kollektivsiedlungen ebenfalls Wahlen. Manche sagen, dass nur dort im Kleinen der Sozialismus funktionierte. Doch auch in der Blütezeit richteten sich die Kibbuzim nie gegen den Staat.«
Brenner ist Lehrstuhlinhaber für Jüdische Geschichte und Kultur an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Dort ist er derzeit beurlaubt und forscht und lehrt an der American University in Washington, D. C.
»Zwar war die radikale Form des Zusammenlebens der Kibbuzim nicht mehrheitsfähig, doch Israel war bis in die 1970er Jahre insgesamt sozialdemokratisch bis links geprägt: Große Betriebe wurden verstaatlicht und der Dachverband der Gewerkschaften Histadrut war stark«. Dieser Dachverband wurde bereits 30 Jahre vor der israelischen Staatsgründung in Haifa gegründet. Während ihres Höhepunktes in den 70ern waren 80 Prozent der Arbeiter:innen in der Histadrut organisiert.
»Auch sollte ein großer Gegensatz zwischen Arm und Reich vermieden werden«, ergänzt Brenner. »Das geschah natürlich auch aus der Not heraus. Israel war arm. Doch es ging auch um Idealismus: Auch die politische Elite lebte äußerst bescheiden. Prunk wurde abgelehnt.« Besonders die von Pogromen betroffenen und bedrohten osteuropäischen Jüd:innen waren sozialistisch geprägt und prägten diese gesellschaftspolitischen Ideale.
Ich sehe keinen Gegensatz von Demokratie
und Kibbuzim. Schließlich gab es in den
Kollektivsiedlungen ebenfalls Wahlen.
Manche sagen, dass nur dort im Kleinen
der Sozialismus funktionierte.
Zionismus: durchschnittliche Nationalbewegung und dennoch besonders
Beeinflusst wurde die progressive Strömung im Geiste sozialistischer Ideale des 20. Jahrhunderts auch in Israel durch die klassische Idee des Nationalstaats. Die europäischen Nationalbewegungen erstarkten bereits im 19. Jahrhundert, unter anderem durch die Politisierung der deutschen Romantik.
Dabei wurden Sprache und Kultur, wie Sagen oder Dichtungen betont, wiederentdeckt, ideologisiert oder schlicht erfunden. Es kam in verschiedenen europäischen Ländern zu nationalen Freiheitsbewegungen bis hin zu Staatsgründungen. Die Bewegungen wurden je nach Perspektive als National-, Unabhängigkeits- oder Freiheitsbewegung bezeichnet.
»Das jüdische Bestreben, einen eigenen Nationalstaat zu bilden, der Zionismus, kam erst spät auf die politische Bühne. Zwar veröffentlichte Moses Hess, ein Weggefährte von Karl Marx, bereits 1862 Rom und Jerusalem, doch eine Dynamik kam erst 1896 durch Theodor Herzls Publikation Der Judenstaat auf, sowie den Basler Zionistenkongress im Jahr darauf«, so Professor Brenner.
Zion, der Südwesthügel Jerusalems, ist Sinnbild und Sehnsuchtsort der jüdischen Diaspora – und Teil der über viele Jahrhunderte gesprochenen Gebete. Der Österreicher Herzl arbeitete als Journalist und Schriftsteller, doch seine Identität wurde in Wien auf das Judentum beschränkt.
Dabei war ihm die Religion keinesfalls besonders wichtig. Der Rückschluss von ihm und anderen in seiner Situation: Wenn Europäer:innen die Jüd:innen trotz einer jahrtausendealten gemeinsamen Geschichte nicht als gleichwertige Mitglieder ihrer mitunter neuen Nationen anerkennen, dann braucht die jüdische Community einen eigenen Staat.
Unterstrichen wurde diese Einschätzung durch den zu Unrecht verurteilten französisch-jüdischen Offizier Alfred Dreyfus in Paris 1894 und die Wahl des Antisemiten Karl Lueger zum Wiener Bürgermeister 1897.
»Die Zionisten reagierten damals auf eine Rückweisung bis hin zu handfesten Gefahren und Verfolgungen. Romantisierte Einstellungen der Nation spielte im Vergleich zu den anderen europäischen Nationalbewegungen eine kleine Rolle«, so der Historiker Brenner. »Der Zionismus war gleichzeitig recht säkular. In der Überzeugung, dass nur der Messias die Juden in das gelobte Land zurückführen darf, verweigerten Ultraorthodoxe die Unterstützung.«
Herzl starb jedoch bereits 1904 im Alter von nur 44 Jahren. Die politischen Strömungen innerhalb des Zionismus florierten derweil. Es gab sozialistische Ideen, aber auch eine kleine Strömung um Vladimir (Ze’ev) Jabotinsky, die bürgerliche und nationalistische Ziele verfolgte.
Schließlich bildete sich ein am ehesten als liberal charakterisierende politische Strömung: Die Allgemeinen Zionisten hatten zum Ziel, über diesen Parteikämpfen zu stehen. Der Chemiker Chaim Weizmann stieg im Laufe des Ersten Weltkriegs zur entscheidenden Figur dieser gemäßigten Richtung auf und vermittelte diplomatische Erfolge mit Großbritannien.
In der, nach dem damaligen britischen Außenminister, benannten Balfour-Deklaration wurde der jüdischen Community »eine nationale Heimstätte in Palästina« versprochen. Die 1917 verabschiedete Balfour-Deklaration fand 1920 Aufnahme im Friedensvertrag der Alliierten mit der Türkei und wurde 1922 in das Völkerbundsmandat für Palästina aufgenommen.
Somit wurde der Grundstein Israels vor der Shoa und der offiziellen Staatsgründung 1948 gelegt. Jedoch ließen die Formulierungen der Deklaration viele Interpretationen zu. Ob Unabhängigkeit oder Teilsouveränität, die geographische Definition von Palästina und erst Recht die Governance-Form der jüdischen Community blieb undefiniert.
Europäische Nationalbewegungen und entsprechende kulturelle Entwicklungen umfassen etwa die Bulgarische Nationale Wiedergeburt innerhalb des Osmanischen Reiches, die Irische Renaissance oder Nationalromantik in Norwegen.
Karl Lueger war Gründer der Christsozialen Partei und von 1897 bis 1910 Wiener Bürgermeister. Bereits 1887 bekannte er sich öffentlich zum Antiesmitismus. Er gilt als eine »Inspiration« Hitlers. Seine Büsten und Denkmäler waren in Wien allgegenwärtig. Erst 2012 wurde der nach ihm benannte Teil der Ringstraße umbenannt.
Alfred Dreyfus war französischer Artillerist und elsässischer Jude, der zu Unrecht des Verrats bezichtigt und verurteilt wurde. Es gab antijüdische Ausschreitungen. Er wurde auf die Teufelsinsel verfrachtet, kam später in Festungshaft, wurde aber nach einigen Jahren rehabilitiert.
Theodor Herzl sah in Frankreich ein Zentrum der Kultur und Zivilisation, heute würde man vielleicht sagen: Toleranz. Die Dreyfus-Affäre zerstörte dieses Bild und verdeutlichte für ihn die Notwendigkeit eines jüdischen Staates – nicht primär aus religiösen, sondern politischen Gründen.
Balfour-Deklaration und britische Abwägungen Großbritannien machte auch den Arabern Versprechungen: Der High Commissioner in Ägypten, Henry MacMahon stellte etwa dem Scherif von Mekka Hussein ein großarabisches Reich in Aussicht, auch um sich die Unterstützung arabischer Kräfte im Zweiten Weltkrieg zu sichern (Jüd:innen hatten eh keine andere Wahl). Die Balfour-Zusagen wurden abgeschwächt oder zurückgenommen. Gleichwohl empfahl der frühere britische Innenminister William Peel eine Zweistaatenlösung. Die arabische Seite lehnte diese bereits damals ab.
Vorstaatliche Institutionen aus der Not heraus erbaut
Die Zionistische Bewegung arbeitete daraufhin selbst an Institutionen ihres zu gründenden Staates, zusammen mit den seit Jahrtausenden in Palästina lebenden Jüd:innen. 1929 wurde die Jewish Agency als eine Art »vorstaatlicher Staat« gegründet. Die Organisation kümmerte sich um den Austausch der verschiedenen Communities, Landkauf oder die Einwanderung. Notwendig war deren Arbeit in den folgenden Jahren aus drei Gründen:
- Mit der Machtübernahme der Nazis nahm die Verfolgung der Jüd:innen neue Ausmaße an.
- Der Mufti Jerusalems Amin al-Husseini beförderte die Gewalt gegen die jüdische Gemeinschaft vor Ort und auch die britische Mandatsmacht griff nicht ein. Allein am 23. August 1929 wurden 133 Jüd:innen ermordet – mit Waffen aus Deutschland. Der Mufti arbeitete mit dem NS-Regime zusammen und lebte 1941-1945 in Deutschland. Dort plante er die Ermordung der im arabischen Raum lebenden Jüd:innen und organisierte die Verbreitung von NS-Propaganda im arabischen Raum. Heute wird darin eine Wurzel des arabischen Antisemitsmus gesehen.
- Die Selbstorganisation sollte kontrolliert und zuverlässig stattfinden, inklusive dem Aufbau staatlicher Institutionen.
Ihre Arbeit wurde von allen Seiten torpediert. Was heute viele vergessen haben: Auch nach dem Zweiten Weltkrieg und der Shoa wurden die jüdischen Flüchtenden von Großbritannien gehindert. Ihr Schicksal wurde der Weltöffentlichkeit durch die Fahrt der Exodus bekannt: Der amerikanische Ausflugsdampfer wurde 1929 für ein paar Hundert Menschen in den Dienst gestellt. 1947 gingen jedoch 4.515 Menschen an Bord. Das Ziel: Eretz Israel.
Der volle Schiffsname Exodus from Europe 1947 wird ein paar Tage nach dem Auslaufen auf Bretter gepinselt und über die Reling gehängt. Es war das größte von etwa 60 Schiffen, mit denen Holocoust-Überlebende versuchten, nach Israel zu gelangen. Geführt wurde das Schiff von der Haganah, der jüdischen Selbstverteidigung in Palästina, aus der später die israelische Armee entstehen sollte.
Dies war notwendig, da Großbritannien kurz vor Ausbruch des Weltkriegs die Einwanderung von Jüd:innen auf 1.500 Menschen beschränkte. An dieser Obergrenze hielten sie fest – auch nachdem die Weltöffentlichkeit vom millionenfachen Mord jüdischen Lebens in deutschen Vernichtungslagern erfuhr.
Viele andere Länder wiesen Jüd:innen generell ab. Wurde ein Schiff wie die Exodus gesichtet, enterte das britische Militär dieses und sperrte die Flüchtenden in Lager auf Zypern. Die Exodus wurde schließlich auf beiden Seiten durch britische Kriegsschiffe gerammt. Mit Gasmasken ausgestattete Soldaten sprangen an Bord und schossen Tränengas-Granaten.
Die Passagiere auf dem überfüllten Schiff wehrten sich verzweifelt mit Kartoffeln, Flaschen und Konservendosen. Nach vier Todesopfern und 100 bis 200 Verletzten ordnete der Exodus-Kommandant Jossi Harel an, den Widerstand einzustellen.
Das Schiff wurde nach Haifa geführt. Da die Lager auf Zypern bereits überfüllt waren, wurden die Passagiere in Kohledampfern zurück nach Frankreich und schließlich nach Deutschland gebracht. Viele weigerten sich zunächst, von Bord zu gehen. Niemand wollte bleiben. Es gab für sie keinen Grund dazu: Die europäische jüdische Kultur, mit ihren selbst verwalteten Schtetl oder kulturellen Zentren in den Hauptstädten, war in den deutschen KZs ausgelöscht worden.
Mitglieder der UNSCOP-Kommission waren Zeugen der Exodus-Ankunft in Haifa. Sie empfahlen den Vereinten Nationen, damals 57 Länder, einen Teilungsplan, der von der Mehrheit angenommen wurde. Am 14. Mai 1948 rief David Ben-Gurion die Unabhängigkeit aus – mit Verweis auf den UN-Beschluss.
Noch in der Gründungsnacht erklärten Saudi-Arabien, Ägypten, Transjordanien, der Libanon, Irak und Syrien dem neuen Staat den Krieg, den sie allerdings 1949 verloren. Israel eroberte im Vergleich zum Teilungsplan Gelände hinzu.
Arabische Palästinenser:innen wurden in der Nakba zu Zehntausenden vertrieben. Mit Kriegsende konnte die Knesset, das israelische Parlament, 1949 erstmals gewählt werden – auch von Frauen, deren Wahlrecht bereits 1946 eingeführt worden war.
Frauenwahlrecht in Israel: Der Jischuw, das jüdische Gemeinwesen vor Gründung Israels, verfügte gegenüber
der britischen Mandatsmacht keine
juristische Legitimation, jedoch eine große Bedeutung innerhalb der jüdischen Community. Ultraorthodoxe Männer blockierten das Frauenwahlrecht zunächst, wurden aber schrittweise zu Kompromissen gedrängt und schließlich überstimmt.
Die Verfassung als »Living-Document«
Die Knesset beschloss im Juli 1950 ein Gesetz, dessen erster Artikel allen Jüd:innen das Recht gibt, nach Israel einzuwandern. Das hebräische Original spricht von Alija: Aufstieg, womit der Aufstieg oder die Rückkehr nach Jerusalem gemeint ist. Es migrierten nicht nur jüdische Einwanderer:innen aus Europa, sondern insbesondere aus arabischen Ländern, wo sie indirekt oder direkt vertrieben wurden, sowie Äthiopien.
»Vielleicht ist es ein kleines Wunder, dass die Demokratie all die Umwälzungen und den Kriegszustand ab Tag Eins aushielt«, so Professor Brenner. »Gleichzeitig war den Holocaust-Überlebenden nach der Ermordung von sechs Millionen Juden durch die Deutschen und die Flüchtenden aus arabischen Staaten sicher die eigene staatliche Souveränität wichtiger als politische Grabenkämpfe.
Und nur wenige haben wohl das autokratische System ihres ehemaligen arabischen Heimatlandes vermisst. Vom NS-Regime ganz zu schweigen.« Das Einkammerparlament, bestehend aus 120 Abgeordneten, wählte damals und heute dann in einer geheimen Abstimmung die oder den Staatspräsidenten mit einer Amtszeit von einmalig sieben Jahren.
Dessen Aufgaben sind repräsentative oder formeller Art, jedoch nicht unwichtig: Der Präsident fordert die oder den Parteiführer:in auf, eine Regierung zu bilden, die oder der am ehesten dazu in der Lage ist. Die oder der ernannte Ministerpräsident:in hat dann 45 Tage Zeit eine Regierung zu bilden, welche von der Knesset nach der Vorstellung der Grundlinien der Regierungspolitik gebilligt werden muss.
Die Regierung hat wie die Knesset eine Mandatszeit von vier Jahren. Im Vergleich zu anderen Demokratien hat die oder der Ministerpräsident:in viel Macht. Er kann in allen Bereichen Maßnahmen ergreifen, solange keine gesetzliche Beschränkung vorliegt. Auch darf der Ministerpräsident nicht die Knesset auflösen. Weiterhin fungiert der Oberste Gerichtshof im Sinne der Gewaltenteilung regulierend auf Ministerpräsident:in und Regierung ein.
Als die Ende 2022 angetretene Regierung Netanjahus versuchte, durch eine Justizreform die Macht dieses höchsten Gerichts zu schwächen, erntete sie scharfe Proteste und scheiterte schließlich 2024 vor dem Obersten Gericht. Manche schlussfolgerten, dass diese Justizreform auch durch das Fehlen einer kodifizierten Verfassung in Israel erst denkbar wurde. Israel ist damit jedoch nicht allein. Auch Großbritannien und Neuseeland haben keine Verfassung im Sinne eines einzelnen Dokuments.
Das israelische Rechtssystem ist durch Großbritannien als ehemalige Mandatsmacht Palästinas, aber auch Deutschland und dem Osmanischen Reich beeinflusst. Doch das Fehlen einer Verfassung war keinesfalls geplant. In Israels Unabhängigkeitserklärung wurde die Entwicklung einer Verfassung festgehalten – sogar mit einer Frist, dem 1. Oktober 1948. Dem kam jedoch der Krieg dazwischen.
Später galt das Thema Verfassungsentwicklung als schwierig und umstritten – auch für den ersten Regierungschef David Ben-Gurion. »Eine gemeinsame Verfassung scheiterte an der Dynamik der säkularen Mehrheit und religiösen Minderheit in Israels damaliger Gesellschaft. Ben-Gurion sah auch die Vorteile des Status Quo, bereute aber später, die Entwicklung der Verfassung nicht vorangetrieben zu haben.«
Am 13. Juni 1950 beschloss die Knesset die Hariri-Resolution, nach der die Verfassung in Form einzelner Grundgesetze (basic laws) aufgebaut wird. Doch das macht das Parlament nicht zu einer allmächtigen verfassunggebenden Versammlung. Für eine Verabschiedung als Grundgesetz müssen diese durch den Obersten Gerichtshof einen verfassungsrechtlichen Status zuerkannt bekommen.
»Jedoch kann das Parlament mit einfacher Mehrheit Grundgesetze abändern oder ablehnen. Eine Zweidrittelmehrheit oder andere Kontrollstufen wie in vielen anderen Demokratien ist nicht notwendig«, so Michael Brenner.
Zwischen 1958 und 1984 verabschiedete die Knesset acht Grundgesetze, welche sich mit den Institutionen Israels befassen. 1992 wurden von einer progressiven Regierung Grundgesetze mit Bezug auf Freiheit, Menschenwürde und Grundrechte ergänzt. Am 19. Juli 2018 verabschiedete das israelische Parlament das Nationalstaatsgesetz, welches Nationalsymbole wie Feiertage und die Flagge und Hebräisch als Amtssprache festschreibt. Arabisch wird gleichzeitig ein Sonderstatus gegeben.
Brenner ergänzt: »Deutlich ist, dass der Charakter und Zeitpunkt der Verabschiedung von Grundgesetzen von der politischen Konjunktur abhängig sind.« Inzwischen formieren elf solcher Grundgesetze neben der Unabhängigkeitserklärung vom 14. Mai 1948 die Verfassung Israels.
Mit dem Nationalstaatsgesetz wurde der Anspruch Israels verankert, »die nationale Heimstätte des jüdischen Volkes zu sein«. »Damit wird das Judentum in seiner staatsdefinierenden Rolle verstärkt, was auch eine ausschließende Wirkung entfachen kann. Es gibt keine Apartheid wie im damaligen Südafrika, eine kodifizierte Benachteiligung. Die 20 Prozent arabischen Israelis sind reguläre Staatsbürger:innen, haben eigene Parteien, stellen Minister:innen, Spitzenämter in Wissenschaft und Wirtschaft«, beschreibt Brenner.
»Gleichwohl gibt es Rassismus auf dem Wohnungsmarkt oder bei Polizeikontrollen. Beides lässt sich allerdings auch in Deutschland beobachten«, so der Professor, der sich in der Vergangenheit auch kritisch zur AfD positionierte.
Grundgesetze als Spielball politischer Mehrheiten
Neben dem konservativen Grundgesetz, rechtsradikaler Kabinettsmitglieder und Korruptionsvorwürfen, sorgte der aktuelle Ministerpräsident Benjamin Netanjahu mit dem Plan, die Judikative zu beschneiden, für die größten Proteste der israelischen Zivilgesellschaft. Mit dem Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober 2023, dem anschließenden Gaza-Krieg, geduldeter Gewalt durch Siedler:innen und Angriffen unterschiedlicher Proxies des Irans, wie der Hisbollah und der Huthi geriet jedoch die Innenpolitik zunächst in den Hintergrund.
Netanjahu bildete ein Kriegskabinett mit dem Oppositionsführer Benny Gantz, der jedoch später austrat. Bei der Betrachtung von gesellschaftspolitischen Entwicklungen in Israel ist die Zusammensetzung der Bevölkerung, genauer die Demographie, der Elefant im Raum.
Verschiedene Gruppen wähnen sich im Geburtenwettstreit um eine dominierende Position innerhalb des Landes. Dabei geht es heute weniger um arabische Israelis, als vielmehr um orthodoxe Jüd:innen, die überdurchschnittlich viele Kinder bekommen. Vor allem die nationalreligiösen und weit rechts eingestellten Jüd:innen sind zunehmend gut vernetzt.
Gleichwohl sind politische Einstellungen durch die soziale Herkunft vielleicht beeinflusst, aber nicht alleine bestimmt. Kinder nicht-liberaler Eltern sind überall auf der Welt manchmal später progressiv und säkular eingestellt. Der umgekehrte Weg ist seltener. Jedoch ist auch in Israel, wie in vielen Ländern, die Linke zersplittert und die extreme Rechte trotz unterschiedlicher Strömungen geeint.
Es läuft eine erbitterte Debatte, wie es um Israels Demokratie bestellt ist, je nachdem, ob ein weit gefasster oder minimalistischer Demokratiebegriff angewendet wird. Zwar schneidet Israel bei den geläufigen Demokratie-Rankings wie dem Demokratieindex der Economist Intelligence Unit oder dem Freedom-House-Index gut ab, doch auch hier sorgt die versuchte Einflussnahme der Politik auf die Gerichte für Abstufungen.
Trotz rechtsradikaler Minister oder der Justizreform steht jedoch fest: Israels Gesellschaft ist liberaler und demokratischer als die der direkten und indirekten Nachbarn. »Wir müssen uns bewusst machen, dass Israel nicht in Europa liegt. Die Nachbarn sind nicht Luxemburg oder die Schweiz. Klar, dort gibt es auch unschöne Entwicklungen, aber keine existenzielle Gefahr. Doch das darf gleichzeitig kein Grund für die Erosion der israelischen Demokratie sein. Jedoch entspricht Israel damit leider auch einem globalen Trend«, so Professor Brenner, der derzeit in den USA lebt.
»Immerhin zeigten die Israelis, von denen wöchentlich Hunderttausende für die Gewaltenteilung demonstrieren, dass sie für ihre Demokratie einstehen.«
Text: Marius Hasenheit
Illustration: Katharina Bolz
Quellen
Israel: Traum und Wirklichkeit des jüdischen Staates. Michael Brenner. CH Beck, 2016 (Link)
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