Paulina war noch nie bei einer Demonstration, auch ihre Freunde nicht. Aber dann hat sie bei Facebook einen Kommentar von Abtreibungsgegnern gelesen, die die Demonstrantinnen der Czarny-Protest für Frauenrechte mit SS-Offizieren verglich. Dies war genug – sie ging zu den Protesten. Alleine. Ohne vorbereitete Protestschilder. Ohne Teil des einen oder anderen Aktionsbündnisses. Nur sie und ihre Wut gegen ein Land, dass mit dem neuen Abtreibungsgesetz die Rechte der Frauen noch mehr einzuschränken versucht.
tf: Wie kam es, dass du plötzlich doch auf die Straße gingst?
Paulina: Ich habe die Situation schon länger online verfolgt. Mein Newsfeed bei Facebook ist fast geplatzt von den ganzen Diskussionen um Abtreibung. Am Sonntag vor dem großen Demonstrationstag macht es für mich “Klick”. Es machte mich extrem wütend, dass ein katholischer Journalist auf Facebook sagte, die Frauen sollten SS-Uniformen tragen. Das würde besser zu ihnen passen als die schwarze Kleidung. Ein anderer verglich Abtreibung mit dem Holocaust. Die Situation war unerträglich und der fehlende “Woman-to-Woman”-Support eigentlich auch. Irgendwann merkte ich, dass auf solche Facebook-Posts zu antworten und etliche Diskussionen anzufangen, sinnlos ist. Solche NS-Vergleiche waren für mich der Tropfen, der das Fass zum überlaufen brachte. Ich wusste nicht mehr, was ich sagen sollte. Es gab nichts mehr zu sagen. Also ging ich auf die Straße um zu demonstrieren.
tf: Erzähle uns mehr über den Übergang vom Sehen, dass etwas in eine falsche Richtung läuft zu der Entscheidung auf die Straße zu gehen und etwas dagegen zu machen. Wie lief das ab?
Paulina: Ich bin keine Person die direkt Haltung bezieht. Ich habe mich immer erst eingelesen und versucht die Argumente beider Seiten zu verstehen. Dann brauchte ich auch eine Plattform und ein gewisses Niveau der Kommunikation, um daran teilzunehmen. Was in Polen aber gerade passiert ist, dass der öffentliche Diskurs viel zu eingeschränkt ist. Wir können zwar über alles reden aber es finden keine konstruktive Debatten statt, alles ist aufgehetzt und hysterisch. Die Politiker benutzen eine Sprache des Hasses statt einer der Fakten. Mensche ohne passenden Hintergrund treten in den Medien als “Experten” für Frauenrechte auf und reden einfach drauf los. Nein, wir mussten die Diskussion auf die Straße, zu den Menschen bringen. Es gibt keinen anderen Weg uns auszudrücken und gehört zu werden. Und wenn Worte inhaltsleer werden, dann ist es vielleicht die Zahl der Teilnehmer, die eine klare Sprache spricht. Die Zahl der Teilnehmer, die zeigen, dass sie mit den gegenwärtigen Entwicklungen nicht einverstanden sind. Polen hat eine große Tradition von Straßenprotesten und den Kampf für sozialen Wandel. Zentral ist hier die Solidarnosc-Bewegung, die zum Ende der Sowiet-Union führte. Es ist schon etwas besonderes, dass unsere Demo am gleichen Platz (am Hafen von Gdansk) stattfand wie die großen Solidarnosc-Events in den 80er Jahren.
tf: Gegen was genau hast du demonstriert?
Paulina: Natürlich bin ich gegen eine Verschärfung des Abtreibungsgesetzes. Um ehrlich zu sein bin ich auch gegen das bestehende Abtreibungsgesetz. Aber das stand für mich gar nicht so sehr im Mittelpunkt. Was ich erlebt habe, ist wie Menschen religiöse Argumente über medizinische Fakten und grundsätzliche Menschenrechte gestellt haben. Polen ist ein demokratisches Land und von der Verfassung her kein religiöses. Ich bin stark gegen eine Radikalisierung und den Zwang religiöser Glaubenssätze im öffentlichen Leben. Dies passiert besonders zur Zeit, wenn es um Frauenrechte und den Zugang medizinischer Hilfe geht.
Wir leben doch im 20. Jahrhundert, die Gesellschaft hat sich gewandelt und Polen sollte ein Zuhause für alle bieten. Wir können uns nicht von einer religiös-konservativen Partei erzählen lassen, was richtig und falsch ist, wer ein Sünder ist, wer wie leben darf (Mutter oder Kind) oder das die Gegner des Gesetzes “Mörder” sind. Während der Demonstration kam über die Bilder von den Protestierenden ein sehr abschätziger Live-Kommentar eines Geistlichen. Religiöse Gefühle werden hier gegen Politik ausgespielt.
Abtreibung ist eine persönliche Angelegenheit. Ein Drama ohne Happy End. Ich möchte das nicht verharmlosen. Ich möchte vielmehr das Recht auf Selbstbestimmung stärken. Die eigene Moral, der eigene Glauben oder das Gewissen sollten hier der Kompass sein. Jede schwangere Frau, Mutter, ihr Partner, Ehemann oder Familie haben das Recht alles Möglichkeiten abzuwägen und eine reflektierte eigene Entscheidung zu treffen. Es ist wichtig nicht in eine illegale Hinterhof-Abtreibungsklinik gezwungen zu werden. Es muss eine Infrastruktur geboten werden, mit Diagnosen und Pränatalen Tests, um eine wirkliche Entscheidung zu treffen. Stattdessen gibt es hier ein Strafverfahren, Gefängnisse und eben ein Schwarzmarkt für solche Services.
tf: Was ist das gesellschaftliche Spannungsfeld dahinter?
Paulina: Wir als polnische Gesellschaft sind sehr gespalten, was die aktuelle Regierung und deren neue Gesetze, die “Guter Wandel” genannt werden, angeht. Die Spannung liegt zwischen einem aufkommenden Nationalismus und Pro-europäischen, demokratischen Ideen. Dieser “Czarny-Protest” und der Versuch das Abtreibungsgesetz zu verschärfen sind nur ein Aspekt von vielen. Aber davor hat der “Gute Wandel” nur kleine Gruppen betroffen, wie z.B. Verfassungsrichter. Die gesamte Gesellschaft war also nur indirekt im Fokus. Aber nun sind die Hälfte der Bevölkerung betroffen. Weitere Proteste sind schon abzusehen. Die der Lehrer gegen Einmischung in den Lehrplan und viele weitere, deren Rechte eingeschränkt werden. Wir haben es also mit einer Regierung von radikalisierten rechten Politikern zu tun, die enge Verbindungen zur katholischen Kirchen nutzt, um ihre Perspektive der Bevölkerung aufzuzwingen.
tf: Die Aktivistin Joanna Piotrowska des Aktionsbündnisses Feminoteka sagt, dass durch die Proteste eine neue Rolle der Frauen als einflussreiches Gegengewicht entstehen kann. Wie siehst du das?
Paulina: Ich denke schon, dass das möglich ist. Wir müssen uns an die sozialistische Vision erinnern: Die Idee von “Polnischen Frauen auf Traktoren” spielte eine große Rolle in der Emanzipation nach dem Krieg. Frauen haben vielerorts Einflussmöglichkeiten, die ihnen aber nicht mehr klar sind. Die “Czarny-Proteste” zeigten wieder auf, wie essentiell die Zustimmung der Frauen ist in der Wirtschaft und Zuhause. Die Proteste ließen uns unsere Einflussmöglichkeiten wieder spüren, ließ uns sehen, dass wir nicht alleine sind und auch, dass uns viele Männer unterstützen. Auf den Demos waren ja nicht nur Frauen. Auf dieser Basis können wir noch viel erreichen, wenn wir sie richtig nutzen. Wir dürfen diese Bewegung nicht verschwenden. Heute sind Frauenrechte durch die Regierung stark unter Beschuss, nicht nur wenn es um Abtreibung aber auch z.B. wenn es um Führungspositionen geht. In der Abtreibungsdebatte haben wir gemerkt wie viele negative Stereotypen gegen Frauen benutzt werden. Vielleicht ist es Zeit das Bild von “Frauen auf Traktoren” aus der Schublade zu holen und neu zu definieren!
Während der Proteste hat Paulina ihrer Mutter gewhatsappt. Davon beeindruckt hat sich die Mutter in ihrer Stadt den Protesten angeschlossen. Als Ergebnis kamen insgesamt über eine Million Frauen auf die Straße, statt zur Arbeit zu gehen oder den Haushalt zu führen. Viele Geschäfte mussten schließen oder sich allein auf ihre männliche Belegschaft verlassen. Am Ende wurde der Gesetzesentwurf von der Regierung erstmal geparkt. Ein Erfolg? Paulina erzählte mir, dass sie weiterhin ein Auge auf die Entwicklungen haben wird und wenn sie das nächste Mal etwas erschüttert: “Werde ich nicht so lange warten bis ich aufstehe”.
Paulina Miecznikowska ist 26 und hat soeben ihre Promotion in Psychologie in Gdansk begonnen. Die Bilder hat sie auch gemacht.