Martin macht Platz Darmstadt
Martin macht Platz Darmstadt

Aus dem Kopf, in die Stadt

Unsere Städte sollen klima- und menschengerecht sein. Doch dafür passiert bisher viel zu wenig. So treibt ihr die Entwicklung eurer Stadt selbst an.

Klimaschutz beginnt in Städten. Denn Städte sind mit ihrer Wirtschaftskraft, ihrem Energiehunger, Massenverkehr und Landschaften aus Beton und Asphalt für schätzungsweise 75 Prozent der globalen Treibhausgasemissionen verantwortlich. Deshalb bescheinigt ihnen unter anderem die Neue Leipzig-Charta gar „transformative Kraft“. Jegliche Politik müsse auf die grüne, aber auch gerechte und produktive Stadt hinlaufen. Was dafür notwendig ist, formuliert das europäische Leitpapier der Stadtentwicklung gleich mit. Einer der Punkte: Beteiligung und Koproduktion, also Zusammenarbeit.

Das ergibt Sinn, waren Städte in der griechischen Antike doch als Polis die Wiegen der Demokratie. „Wir hier unten gegen die da oben“ funktioniert dort nicht. „Denn eine Kommune ist ein Selbstverwaltungsinstrument der Bürger:innen“, sagt Klaus Selle, der als Forscher seit vielen Jahren die diversen städtischen Bemühungen zur Bürger:innenbeteiligung verfolgt. AACHEN*2030, Kiel 2042, Lüneburg 2030 sind einige Beispiele für Kampagnen, in denen Städte zuletzt ihre Bürger:innen an der Zukunftsplanung beteiligten.

Selle hat in solchen Kampagnen viel echte Beteiligung in offenen Prozessen beobachtet, jedoch auch viel „particitainment“, wie er die halbherzigen, höchstens dem Marketing dienenden Mitmachangebote mancher Verwaltungen bezeichnet. Neben mangelndem Willen kommt es aber auch vor, dass manche Städte schlicht nicht die Ressourcen für ausführliche Beteiligungsverfahren haben. Was dann? Nun, als Bürger:in selbst Stadtentwicklung anzustoßen ist absolut machbar – in sechs groben Schritten.

Dieser Text ist Teil unserer achten Ausgabe.

Informiert euch

Klingt banal ist aber die Grundlage für alles weitere. „Erst durch Information ist Mobilisierung möglich“, sagt der Stadtforscher und, wie er selbst sagt, „Aktivist im Stadtrat“ Anton Brokow-Loga. An welchen Vorhaben arbeitet die Stadtpolitik aktuell? Was ist langfristig in Planung? Wie ist der städtische Haushalt aufgeteilt? Verwaltungen sind durch Transparenz- und Informationsfreiheitsgesetze dazu verpflichtet, solche Fragen der Bürger:innen zu beantworten. Von alleine passiert das meistens nicht, sei es aus purer Verschwiegenheit oder aufgrund des Personalabbaus in vielen Behörden sowie Lokalmedien, die nachhaken könnten. Da bleibt nichts, als selbst nachzuforschen.

Miteinander reden

Gut informiert könnt ihr eure Forderungen und Visionen jetzt an jene richten, die in eurer Stadt Entscheidungen beeinflussen. Für diese ist Beteiligung ihrer Bürger:innen eine Art Frühwarnsystem. Unabhängig von ihren Parteifarben hätten die Regierenden einer Stadt deshalb immer ein Interesse an Beteiligung, so Klaus Selle. „Um die eigene Klientel zu bedienen und frühzeitig Frieden zu stiften“, sagt er. Egal ob es euch um bessere Radwege oder mehr Parkplätze für Autos in der Innenstadt geht; das klassische aber oft übersprungene Werkzeug ist, mit einer eurer Idee nahestehenden Partei zu reden und sie zu überzeugen, eure Sache als Beschlussvorlage einzubringen. Sucht früh den Austausch mit Entscheider:innen.

Anton Brokow-Loga warnt allerdings davor, dass Politik, Verwaltung und Zivilgesellschaft oft aus unterschiedlichen Logiken heraus argumentieren. Die gemeinsame Identität, zentrale Werte und das Gemeinwohl der Stadt in den Vordergrund zu stellen, lohne sich deshalb. „Außerdem gibt es häufig eine Verengung auf einen ganz bestimmten Aspekt verbunden mit einer Ja/Nein-Frage“, beobachtet er, „anstatt den Handlungsspielraum zu eröffnen und langfristig zu denken“. Letzteres bedeutet, anstatt „Wir wollen keine Umgehungsstraße“, besser „Wir wünschen uns eine ganz andere, gesündere Mobilität in der Stadt“ zu formulieren.

Straßenfest in Darmstadt. Foto: Andreas Figur
Bei den Straßenfesten von Martin macht Platz in Darmstadt ist das Leitmotiv das Gute Leben in der Stadt. Foto: Andreas Figur

Zusammen kämpft man weniger allein

Gerade wenn es um solche grundsätzlichen Veränderungen an öffentlichen Plätzen, Verkehrswegen oder Bauprojekten geht, könnt ihr Verbündete dringend gebrauchen – regional in der Stadt oder  Nachbarschaft, aber auch bei Organisationen, die überregional aktiv sind. Umweltschutzorganisationen wie der BUND, Verkehrsclubs wie der ADFC, Vereine wie Changing Cities oder die Aktivist:innen von Fridays For Future haben Kontakte und Ressourcen für mehr öffentliche Aufmerksamkeit und stärkere politische Kommunikation – auch und insbesondere gegenüber den Lokalmedien, deren Berichterstattung für eure Reichweite äußerst wichtig ist.

Grundsätzlich macht es Sinn, möglichst viele Interessengruppen an Bord zu holen. Je heterogener das Bündnis wird, desto wahrscheinlicher geht jedoch Energie durch interne Konflikte verloren, erklärt Klaus Selle. Laut Anton Brokow-Loga ist es deshalb umso wichtiger, möglichst früh physische Räume für Diskussionen zu organisieren. Die lassen sich zwar auch digital führen, sperren jedoch potenziell Menschen aus, die keinen Zugang zur nötigen Technik haben oder sich im Umfang damit unsicher fühlen. Außerdem haben in den letzten Jahren sicher viele Menschen die Erfahrung gemacht, dass die Gesprächskultur unter digitalen Umständen, nun ja, leidet.

Auf die Straße? Auf die Straße!

Egal worum es geht: Eure Pläne und Forderungen müssen aus den Online-Petitionen und Pressemitteilungen auf die Straße schwappen. Sie müssen im „echten Leben“ erlebbar sein. Das kann klassisch mit einer Kundgebung oder Demonstration passieren, mit Mahnwachen oder Blockaden. Weil es bei Stadtentwicklung meist auch um das gesunde, kinderfreundliche, menschliche Leben geht, nehmen Aktionen wie der Tag des Guten Lebens besonders viele Menschen mit. In einem kleinen Netzwerk aus Städten werden jährlich rotierende Stadtviertel für einen Tag zu autofreien Bühnen für selbst entwickelte Konzepte des guten Lebens. 

Dass es auch kleiner geht, zeigt der global stattfindende Parking Day, bei dem für einen Tag öffentliche Parkplätze besetzt und zu Spielplätzen, Wohnzimmer oder grünen Inseln umgebaut werden. Aus der Nische heraus mit friedlichen und niedrigschwelligen Aktionen den Horizont des Denkbaren zu erweitern, das ist laut Klaus Selle eine gute Strategie. Anton Brokow-Loga plädiert dafür, dass „solche Aktionen eingerahmt werden in eine neue Vision von Stadtleben.” Langfristige Veränderungen statt Zelebrierung der Ausnahme.

Etwas Kante muss sein: Mahnwache anlässlich eines getöteten Radfahrers in Berlin. Foto: Changing Cities/Norbert Michalke

Polarisieren und zusammenkommen

Doch manchmal hilft all die Friedlichkeit nicht weiter. Wenn ihr etwa wie die Berliner Initiative Deutsche Wohnen & Co. enteignen eine Mehrheit der Stadtbevölkerung für euer Bürger:innenbegehren gewinnen müsst, dann werdet ihr um etwas Polarisierung kaum herumkommen. Dann wird aus „Wie viele soziale Wohnungen kann man auf einem freien Areal bauen ohne die ökologische Funktion dieses Raumes zu verändern“ ein knackiges „Grün statt Beton“, erzählt Klaus Selle. „Polarisierung ist Teil des Weges, um massentauglich zu werden, aber am Ende muss als Ziel die Kooperation stehen“, sagt er.

Polarisierung ist Teil des Weges, um massentauglich zu werden, aber am Ende muss als Ziel die Kooperation stehen.

Klaus Selle

So wie bei der Bewegung der Radentscheide. Unter dem Dach von Changing Cities haben Initiativen in rund einem Dutzend deutscher Großstädte die Stadtpolitik durch Bürger:innenentscheide auf massive Investitionen in den Radverkehr verpflichten wollen. Die Kampagnen verliefen teils so vielversprechend, dass manche Stadtregierungen zu Kompromissen bereit waren und seither Millionen Euro in fahrradfreundliche Infrastrukturen fliesen.

Alle Angaben sind wie immer ohne Gewähr

Was für die Lottozahlen gilt, trifft auch auf Beteiligung zu. Einigungen im Heute und Pläne für das Morgen bedeuten noch keine Verbesserung im Übermorgen. Deshalb heißt es: dranbleiben! Die Gesprächskanäle offen lassen, spätestens jetzt eine Initiative gründen, öffentlich präsent sein, dauerhafte, physische Foren oder gar Räte etablieren. So wird das etwas.

Bild: Martin macht Platz (Darmstadt)

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