Tausche Einkommen gegen Lebensqualität

Vor zehn Jahren begann die sogenannte Finanzkrise, die sich auf den europäischen Binnenmarkt erstreckte und zur Banken- und Eurokrise führte. In ganz Europa stieg die Arbeitslosenquote. Der Süden war besonders betroffen. Spanien verzeichnete den höchsten Wert im Jahr 2013 mit knapp 26 Prozent. Aktuell liegt er mit etwa 19 Prozent deutlich niedriger, bleibt aber Anlass für viele, vor allem junge Spanier Arbeit im europäischen Ausland zu suchen. Denn Freizügigkeit, das betont auch Bundeskanzlerin Angela Merkel immer wieder, sei eine der wichtigsten Errungenschaften der Europäischen Union.

Dr. Dagmar Hackel machte es umgekehrt. Die heute 39jährige gab ihr sicheres Leben in Deutschland auf und zog ohne konkretes Jobangebot nach Südspanien. Um dort Yoga zu unterrichten. 12 Jahre hatte sie im Berliner Bezirk Friedrichshain gelebt. Nach ihrer Promotion an der Charité nahm sie eine Laborstelle an. Parallel absolvierte sie eine Ausbildung zur Yogalehrerin. 2014 hätte sie wahrscheinlich ihre Habilitation einreichen und sich auf eine Professur bewerben können. Doch Dagmar entschied, ihren Vertrag nicht zu verlängern.

„Ich habe im Prinzip die letzten sieben Jahre meiner Arbeit immer mehr Tierversuche gemacht. Das war nicht das, was ich ursprünglich machen wollte. Ich habe teilweise 24 Tiere im Versuch gehabt, das war echt hart. Zum Schluss konnte ich das nicht mehr.“

Mit ihrem Ersparten verwirklichte sie sich langgehegte Träume: Sprachkurse in Spanien und ein Praxismonat am Institut für Iyengar Yoga in Indien. Anfangs habe sie noch überlegt in Berlin Yoga zu unterrichten, aber der Markt sei dort einfach übersättigt. Ende September 2013 machte sie einen dreimonatigen Spanischkurs in Sevilla. „Und als ich da war dachte ich mir schon, eigentlich ist das eine Stadt, in der ich mir vorstellen könnte zu leben. Ich konnte mir zum ersten Mal vorstellen aus Berlin wegzugehen. Und so kam die Idee hier Yoga zu unterrichten.“

 

Gesagt getan. Im Oktober 2014 zog sie endgültig um. Sie suchte sich eine Wohnung, übte Yogalehren auf Spanisch und stellte sich bei verschiedenen Yoga-Studios vor. Die Menschen in Sevilla begegneten ihr freundlich und offen. Sie hätten Interesse am Leben in Deutschland und glaubten die Menschen seien reicher.

„Dann sage ich generell ‘ja, stimmt.’ Aber die Leute sind auch verblüfft, wenn ich erkläre, dass es auch in Deutschland Billigjobs gibt und eine Verkäuferin häufig das gleiche verdient, wie in Spanien. Es gibt natürlich Unterschiede. Das Sozialsystem in Deutschland ist wesentlich besser. Aber ich sehe auch hier in Sevilla Leute, die große Autos fahren und reich erscheinen. Diese Kluft zwischen arm und reich hat man überall in der ersten Welt.“

Dagmars Umzug ist fast drei Jahre her. Natürlich zweifle sie manchmal: „Vielleicht scheitere ich auch und muss feststellen, dass ich von dem, was ich hier verdiene, nicht leben kann. Aber ich wollte nicht jahrelang mit der Frage leben, ob es funktioniert hätte.“ Mittlerweile unterrichtet sie neun Yoga-Klassen mit bis zu neun Schülern. Es dauerte seine Zeit, aber so langsam würde sie sich etablieren. Zum Leben brauche sie monatlich etwa 800,- Euro. In den letzten drei Monaten habe sie dafür erstmals nicht mehr auf ihr Erspartes zurückgreifen müssen.

Dagmar hat sich eingelebt. Sie hat Freunde, Lieblingscafés und 2016 hat sie Straßenhündin Bella adoptiert. Sie spielt schon mit dem Gedanken sich ein eigenes Studio anzumieten – falls alles gut läuft. Es war die Suche nach einem besseren Leben, die sie nach Sevilla führte. Wobei, wenn Dagmar „besser“ sagt, sie nicht Geld meint, sondern Lebensqualität: Sonne, Entspanntheit, Entschleunigung. „Ich bin froh über den Schritt, den ich gemacht habe. Ich habe vielleicht weniger als die Hälfte zur Verfügung, aber im Moment bin ich glücklicher.“

 

 

Als freie Journalistin verknüpft Juliane Dickel ihre Leidenschaft für Sprachen, Kulturen, Gesellschaften und Politik. Sie will mehr sehen, kennenlernen, staunen, verstehen und das Erfahrene mitteilen. Zu diesem Zweck besucht sie Orte und Menschen, beschäftigt sich vor Ort mit politischen und gesellschaftlichen Themen und auch mit den scheinbar banalen Fragen, die das tägliche Leben ausmachen.

Die Fotos stammen ebenfalls von ihr.

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