Menschen können sich an ganz schön viel gewöhnen. Ihr tägliches Leben ist sogar in erster Linie von Gewohnheiten bestimmt. Wenn nur alles in etwa so bleibt, wie es immer ist, sind die täglichen Erlebnisse keinen zweiten Gedanken wert. Ob ich mit dem Auto in die Stadt fahre und im üblichen Stau stecken bleibe, die Toilettenspülung benutze oder auch mit Messer und Gabel ein gegrilltes Stück tote Kuh esse – all solche Gewohnheiten und Routinen machen die Normalität eines Menschen aus. Es ist die alltägliche Normalität und daher nichts, worüber man sich wundert oder nachdenkt.
Aber in dieser bequemen Normalität gibt es doch immer wieder Stimmen, die uns dazu auffordern, uns zu wundern und über alltägliches nachzudenken. Das alles mit dem Ziel, diese Normalität zu ändern. Dabei denke ich an TiefenökologInnen, die im Einklang mit der Natur leben wollen, an Menschen, die sich für Umwelt und soziale Gerechtigkeit interessieren, und an VertreterInnen des Postwachstums. Sie alle vertreten die Meinung, dass ein echter Wandel in Richtung sozialer und ökologischer Gerechtigkeit, hin zu einer geringeren Produktion von Konsumgütern und die Überwindung des Wachstumsglaubens nur durch Veränderung von mentalen und anderen Infrastrukturen möglich ist. Das ist eine klare Ansage.
Mit dieser großen Frage im Kopf zog ich los, um ein Praktikum in „Can Decreix“, einem Degrowth-Zentrum in Südfrankreich, zu machen. Degrowth oder Postwachstum wird dort als soziale Bewegung für ökologische Nachhaltigkeit, soziale Gerechtigkeit und ein gutes Leben für alle verstanden. Eine Bewegung, die von der Übermacht des Wachstumsdenkens wegführt. In Can Decreix werden Ideen diskutiert, entwickelt und erprobt. Es ist ein Ort an dem mit sparsamen technischen und agrarökologischen Techniken experimentiert wird. Außerdem treffen sich dort AktivistInnen und WissenschaftlerInnen, die sich mit Postwachstum beschäftigen und darüber austauschen. Der Ort befindet sich in einem ständigem Transformationsprozess und ist offen für Freiwillige, die daran teilhaben und mit gestalten wollen.
Wenn Gewöhnliches ungewöhnlich wird
In den sechs Monaten, die ich in Can Decreix verbracht habe, konnte ich diese Transformation miterleben. Teil davon zu sein hat mir gezeigt, was für ein Potenzial im Erleben von Veränderung liegen kann. Ich beschloss also, herauszufinden, wie diese Veränderungs-Erfahrungen auf Einzelne wirken und welche Rolle dementsprechend ein Ort wie Can Decreix in einem gesellschaftlichen Wandel einnehmen kann. Um meine Erfahrungen besser deuten zu können und für eine Masterarbeit aufzubereiten, wurde meine Zeit in Can Decreix zu einer ethographischen Feldstudie. Ich konzentrierte mich dabei auf meine eigenen Erfahrungen sowie die anderer Freiwilliger in Can Decreix. Mein Focus lag dabei besonders auf der Erfahrung, den Ort wieder zu verlassen und in die sogenannte Normalität zurückzukehren. Es war die Erfahrung dieses Kontrastes und ihre Wirkung auf das Individuum, die mich beschäftigte. Dazu muss man sich nur den Moment verdeutlichen, wenn jemand in einer großen Stadt eintrifft, nachdem er_sie wochenlang keinerlei Autos, Einkaufszentren oder Werbebotschaften gesehen hat. Was mir dabei begegnete, war das Gefühl, dass vorher bekanntes und gewohntes unbekannt und komisch wurde.
Ich hatte mich von der mir bekannten Welt entfremdet. Die übliche rush hour wird zum Wahnsinn: ein Raum, der genutzt werden könnte, um sich zu begegnen, für städtische Gärten, zum Spielen, doch der stattdessen mit motorisierten Fahrzeugen vollständig zugepackt ist. Eine Person wird befördert, obwohl fünf ins Auto passen würden, wobei begrenzte Ressourcen verbraucht werden und so fort. Ich will damit nicht sagen, dass nicht auch andere diese Wahrnehmung verstörend finden könnten, sondern dass wir so sehr an sie gewöhnt sind und dass Veränderung dadurch fast unvorstellbar wird.
Um das Erfahre theoretisch einordnen zu können, konzentrierte ich mich in der Masterarbeit auf die Frage, wie Normen, Gesellschaft und Individuen zusammenhängen. Gesellschaft kann als ein Prozess verstanden werden, in dem Konventionen und soziale Strukturen durch das Leben ebendieser aufrechterhalten werden. Diese Konventionen und Strukturen lassen dann manches als machbar und möglich erscheinen und anderes nicht. Wichtig für meine Arbeit ist hierbei, dass jede_r einzelne, der_die im Rahmen dieser Konventionen lebt, diese damit verwirklicht und weiterführt. In Can Decreix werden hingegen andere Normen gelebt als jene, die eine Wachstumsgesellschaft bestimmen. In diesem Sinn ist Can Decreix ein Ort mit einer anderen Normalität, in der dann auch andere Erfahrungen möglich werden.
Unsere Persönlichkeit, was für Entscheidungen wir treffen und wie wir unseren Alltag gestalten, wird beeinflusst von den Erfahrungen, die wir im Laufe unseres Lebens machen. Erfahrungen, die anders sind als jene, die wir im Wachstumsgesellschafts-Alltag machen, können uns helfen, neue Wege zu wählen und so einer Postwachstumsgesellschaft näher zu kommen. Solche Erfahrungen nenne ich in meiner Masterarbeit Internormale-Erfahrungen.
Die Macht der Normen
Um meine Beobachtungen aus Can Decreix auf eine allgemeinere Ebene zu bringen, beschäftige ich mich mit der Frage, wie Orte wie Can Decreix und Internormale-Erfahrungen an solchen Orten konkret zu einem Wandel hin zu einer Wirtschaft jenseits des Wachstums beitragen können. Normalität erscheint wie eine Konstante des Universums. Nach David Graeber (2005, 2013) ist es genau dieser Glaube an unveränderbare Normen, der bestehende Machtstrukturen erhält. Graeber argumentiert, neben anderen, dass eine Entwöhnung von den Normen, ein Bewusstwerden ihrer Konstruiertheit nötig ist, um sie ändern zu können.
Auf der Basis meiner Studie argumentiere ich daher, dass die Erfahrung einer anderen Normalität offen macht für Alternativen. Die eigene Wahrnehmung verschiebt sich. Normen werden nicht mehr als Naturgesetze wahrgenommen und als veränderbar erfahren. Internormale-Erfahrungen können dazu dienen, Normen überhaupt erst sichtbar zu machen und zu zeigen, dass die Menschen selbst es sind, die ihnen ihre Macht verleihen.
Solche Orte liefern natürlich kein Patentrezept für den Wandel und sollen es auch nicht. Es geht eher darum, sichtbar zu machen, dass es tatsächlich Alternativen gibt, die funktionieren. Auch Menschen, die sich bereits von Wachstumsglauben entfremdet haben, bieten Orte wie Can Decreix Bestärkung der Entfremdung, Sicherheit, Motivation und neue Ideen. Da sich Wandel im Kleinen tatsächlich umsetzen lässt, hilft dabei das Vertrauen in einen möglichen Wandel im Großen nicht.
Zum Weiterlesen
Agrawal, Arun. 2005. Environmentality. Durham and London: Duke University Press.
Bhaskar, Roy. (1979) 2005. The Possibility of Naturalism. London and New York: Routledge.
Graeber, David. 2005. Fetishism as social creativity: or, Fetishes are gods in the process of construction. Anthropological Theory 5(4): 407-438.
Graeber, David. 2013. “A Practical Utopian’s Guide to the coming Collapse”. The Baffler, no. 22.
Hornborg, Alf. 2001. The power of the Machine. Walnut Creek: Altamira Press.
Marcus, Goerge E. and Michael M.J. Fischer. 1986. Anthropology as Cultural Critique. Chicago and London: The University of Chicago Press.
Text: Corinna Burkhart, zuerst erschienen auf degrowth.de
Ihre komplette Masterarbeit zum Thema gibt es in englischer Sprache online und als Buch, herausgegeben von der Vereinigung für ökologische Ökonomie.
Übersetzung: Viola Nordsieck
Illustration: Lennart Kühl