Die Illustration zeigt auf Karopapier ein Bild von Max Weber und eine Kettensäge, bei der die Kette abgesprungen ist und die qualmt

Bürokratie ist gut!

Bürokratie hat einen schlechten Ruf. Nicht nur Milei oder Musk wollen ihr mit der Kettensäge an den Kragen, Politiker:innen weltweit wollen das »Bürokratiemonster« einfangen. Doch wie immer liegt das Monster, äh, der Teufel im Detail: in der Definition und den Auswirkungen.

Der moderne Bürokratiebegriff beruht auf einer Definition von Max Weber, nach dem sich die legale Herrschaft typischerweise auf eine bürokratisch geordnete Verwaltung stützt, »denn Herrschaft ist im Alltag primär: Verwaltung.« Laut dem Soziologen geht Bürokratie (die Herrschaft des Büros) mit hierarchischer Organisation, abgegrenzten Verantwortlichkeiten, Regelgebundenheit und schriftlicher Kommunikation einher. Das mag für Menschen, die in einem Rechtsstaat mit grundsätzlich ansprechbarer Verwaltung leben, erst einmal trocken bis zu kafkaesk klingen: Linoleum-Boden trifft auf Passierschein A38. Bürokratie ist für sie selbstverständlich.

Der Passierschein A38

Für Menschen in autoritären Systemen hingegen wäre eine solche Struktur ein Traum. Auch in den Verwaltungen von Diktaturen können Menschen in unterschiedlichster Funktion Papiere oder Mails austauschen, doch ihnen fehlt die Regelgebundenheit und eine übergeordnete Unabhängigkeit der Judikative. Und die eine oder andere Anweisung oder Entscheidung wird vielleicht auch nicht schriftlich festgehalten.

Der Passierschein A38 ist ein fiktives, absurdes Verwaltungsdokument aus dem Asterix-Band »Asterix erobert Rom«. Er symbolisiert übertriebene Bürokratie, da Asterix und Obelix in einem endlosen Behördendschungel von Schalter zu Schalter geschickt werden, um ihn zu erhalten. Übrigens: Im ServicePortal der Stadt Mönchengladbach kann dieser Passagierschein beantragt werden – online, kostenlos und bei Verwendung der BundID.

Grundsätzlich schützt eine funktionierende Bürokratie also die Freiheit des Einzelnen – und regelt die Abgrenzung und den Ausgleich verschiedener Interessen zwischen den Akteuren. Ganz objektiv sind Bürokratien natürlich nicht – materialistisch gesprochen: Wer über Ressourcen verfügt, kann sich auch hier besser durchsetzen als Mittellose. Aber grundsätzlich lässt sich sagen: eine funktionierende Bürokratie in Kombination mit einer Gewaltenteilung ist eine gute Sache. Die Soziologin Claudia Neu beschreibt zusammenfassend, die Bürokratie als »demokratische Infrastruktur, die unsere Gesellschaft zusammenhält.«

Es fehlen eine halbe Millionen Beamt:innen

Während für Weber die Bürokratie eine bestimmte Art der Verwaltung ist, wird heute im Sprachgebrauch beides synonym verwendet oder ein umgekehrter Zusammenhang hergestellt: Verwaltung ist vielleicht zu analog und langsam, aber grundsätzlich gut. Bürokratie ist stets schlecht. Auf diese Neu-Definitionen und Framings sollten wir nicht reinfallen. Apropos Weber: Der betonte, Bürokratie und Verwaltung seien ein Schutz vor Willkür.

Max Weber beschreibt moderne Bürokratie als die rationalste Form der Organisation von Herrschaft und Verwaltung, geprägt durch feste Regeln, Hierarchien und klare Zuständigkeiten. Entscheidungen erfolgen sachlich, nach festen Vorschriften und auf Basis fachlicher Qualifikation statt persönlicher Beziehungen. Ziel ist es, Effizienz, Berechenbarkeit und Stabilität in komplexen Gesellschaften zu gewährleisten.

Und was das Thema Verwaltung angeht: Die Europäische Union erkennt deren besondere Bedeutung an und schreibt in Artikel 41 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union das Recht auf eine gute Verwaltung fest. Dieses Recht umfasst das Recht einer jeden Person, gehört zu werden, das Recht einer jeden Person auf Zugang zu den sie betreffenden Akten und die Verpflichtung der Verwaltung, ihre Entscheidungen zu begründen.

Tatsächlich ächzt die Verwaltung in Deutschland allerdings – nicht nur unter der mangelnden Digitalisierung, sondern auch durch Kapazitätsmangel, zusätzlichen Aufgaben und Budgetkürzungen. Laut deutschem Beamtenbund fehlen dem deutschen Staat derzeit rund 570.000 Mitarbeitende.

Doch während Hunderttausende Stellen in der staatlichen Verwaltung Deutschlands fehlen, ist der Grundtenor einschlägiger Medien und Politiker:innen, dass Stellen dringend zu kürzen sind. Dabei fällt auf, dass stets dann von Bürokratie (als Vorwurf) die Rede ist, wenn es um Umweltschutz, Menschenrechte oder rechtsstaatliche Prinzipien geht.

Die unsichtbare Hand der Bürokratie

Mit der Bürokratie ist es wie mit dem Katastrophenschutz – oder auch der Kanalisation oder dem Stromnetz: Wenn alles klappt, dann denkt man nicht an sie – auch nicht bei Stürmen, Starkregen oder Netzschwankungen. Nur selten werden Held:innen der Bürokratie bekannter.

Eine von ihnen ist Frances Kelsey. Sie war 1960 gerade einmal einen Monat ihrem neuen Job bei der amerikanischen Arzneimittelbehörde FDA als sie den Zulassungsantrag für ein Schlafmittel auf den Tisch bekam: Eine Routineaufgabe, ideal für den Berufseinstieg. Doch Kelsey verweigerte die Zulassung – sechs Mal.

Ihr fehlten die notwendigen Untersuchungsergebnisse. Kelsey rettete damit vielen Kindern das Leben: Es handelte sich bei dem Mittel um Thalidomid, in Deutschland unter Contergan bekannt. Das Mittel führte zu schweren Fehlbildungen bei vielen Neugeborenen.

Kelsey ist sicher ein Extrembeispiel, aber sicher auch kein Einzelfall. Genauer, ja mitunter pedantische Verwaltungsangestellte verhindern weltweit schwere bis leichte Vergehen am Gemeinwohl. Fehlende Baugenehmigungen, welche tote Quartiere verhindern, das Verfolgen von Steuerhinterziehung, das Einsparen von Energie und Treibhausgasen öffentlicher Gebäude, die langsame aber stetige Digitalisierung von Bildung – oder der Verwaltung selbst: Es gibt viele stille und ungesehene Held:innen in der Verwaltung deren Arbeit selbstverständlich ist – bis sie es nicht mehr ist, weil sie wie in den USA oder Argentinien wegrationalisiert werden.

Bürokratie ist ein Versprechen

Natürlich ist nicht jeder Verwaltungsprozess angemessen. Oder plakativer: Es gibt auch schlechte Bürokratie. Bürgergeldbeziehende werden penibel durchleuchtet, das Beantragen von Wohngeld ist ziemlich komplex und eine aufwendige Bezahlkarte für Geflüchtete erscheint vielen eine gute Idee zu sein. Hier wird praktisch nie ein Bürokratie-Abbau gefordert. Dabei beträgt der wirtschaftliche Schaden durch Hartz-IV-Betrug 60 Millionen Euro pro Jahr. Durch Steuerhinterziehung werden hingegen jährlich etwa 100 Milliarden Euro dem Gemeinwohl gestohlen.

Die Verwaltung der Vielen ist das sichtbare Handeln unseres Staates. Abstrakte und oft postulierte Werte wie Gleichheit vor dem Gesetz, Rechtssicherheit oder Teilhabe werden dann erlebbar – oder halt nicht. In der Regel haben wir eine solche Erwartung allerdings gar nicht auf dem Weg zum Amt. Man hofft einfach, dass »es funktioniert«, reibungslos, vielleicht noch, dass man schnell dran kommt. Funktioniert ein Staat hier nicht verlässlich, schwindet das Vertrauen in das vorherrschende politische System rasant.

Der eGovernment MONITOR 2024 des Thinktanks D21 legt dar, dass 19 Prozent der Befragten glauben, dass Behörden und Ämter so effizient arbeiten wie Wirtschaftsunternehmen, während 70 Prozent erwarten, dass sie die Angebote der Verwaltung so digital, einfach und bequem online nutzen können, wie sie es aus ihrem Alltag gewohnt sind.

Initiative D21 (kurz D21) ist ein sehr gut vernetzter gemeinnütziger Think-Tank, das Politik, welcher sich der Gestaltung einer selbstbestimmten Digitalgesellschaft widmet.

Bürokratie ist keine Zumutung – sie ist ein Versprechen. Sie verspricht, dass Recht über Willkür steht, dass jede:r gleich behandelt wird, und dass Teilhabe nicht vom Nachnamen oder Kontostand abhängt. Wer »Bürokratieabbau« ruft, sollte genau sagen, was er meint – und wessen Rechte dabei gestrichen werden. Denn eine funktionierende Verwaltung ist nicht das Problem, sie ist die Lösung. Nicht weniger Bürokratie schützt die Demokratie, sondern bessere.

Text: Marius Hasenheit

Handeln

Creative Bureaucracy Festival: Jedes Jahr kommen tausende Teilnehmende aus Verwaltung, Politik und Gesellschaft bei dem Kongress zusammen, um erfolgreiche Innovationen im öffentlichen Sektor zu teilen und Verwaltungstalente aus aller Welt zu feiern. (Link)

Bürokratiemonster: Die Initiative schreibt von sich »Wir haben uns entschieden, unsere Archive, Amtsstuben und Gedankenblasen zu verlassen. Wir möchten erzählen, was Bürokratie ist und warum wir bestimmte Formen der Bürokratie unbedingt brauchen. Wir sind nicht hier, um nur zu verhindern. Wir sind hier, um das Richtige zu ermöglichen.« (Link)

Transparenzhinweis: Der Herausgeber des transform Magazins ist Vorstand des gemeinnützigen Vereins weltweiterdenken e. V., welcher die Initiative Bürokratiemonster unterstützt.

Newsletter