Der verletzliche Killer

Die Beziehung zu meinem Körper hat sich während der Corona-Pandemie geändert. Er musste geschützt werden und andere vor ihm. Das ging nur mit viel Vernunft. Doch mein Körper sehnt sich nach mehr und schreibt mir diese Zeilen. Finden wir wieder zur alten Leidenschaft zurück?

Es ist Zeit, miteinander zu reden. Wir müssen wieder neu zueinander finden, jetzt, wo das Schlimmste vorbei ist. Der Ausnahmezustand, in dem wir miteinander anders umgingen als sonst. Nicht nur mit den Menschen um uns herum, auch wir beide. Du und ich, dein Körper.

Es war eine extreme Situation, in die uns der neue Virus hineinschleuderte. Mit ihm kam die Angst, um mich und um dich. Denn du bist zwar mehr als dein Körper, das ist klar. Aber ohne mich, bist du nicht(s). Und so wurdest du dir meiner Verletzlichkeit neu bewusst. Natürlich war es auch vor der Pandemie schon so, dass die vermeintliche Selbstverständlichkeit, mit der ich dich durch dein Leben trug, eben nur eine vermeintliche war. Eine Unachtsamkeit beim Überqueren der Straße, Krebszellen, die zu lange unbemerkt wachsen, ein Gerinnsel in den Adern – so etwas konnte schon vor der Pandemie zum ganz privaten Lockdown führen. Das wusstest du auch. Aber solche Gedanken lassen sich verdrängen, können immer wieder neu in die Abstellkammern des Gehirns geräumt werden, damit das Leben normal bleibt und du funktionierst. Wer auf dem Hochseil geht, blickt nicht in die Tiefe, sondern auf das Ziel, sonst kommt er nicht an.

Aber das klappt nicht mehr, wenn der Morgenkaffee begleitet wird vom täglichen Bodycount der Covd-19-Toten in den Radionachrichten. Wenn man in jedem Tischgespräch auf die Frage kommt, ob jemand jemanden kennt, den es erwischt hat. Wenn uns ständig Bilder gezeigt werden von Menschen an Beatmungsgeräten, von durch Überlastung gemarterten Ärztinnen und Pflegern, vollen Kühlhäusern, Krematorien und LKW mit aufeinander gestapelten Särgen. Das Memento Mori in den Abstellkammern wurde zum ständigen Hintergrund-Sound, wie der Bohrer des Nachbarn, der in diesen Monaten so oft an deinen Zimmerwänden genagt hat. Daran änderten auch noch so viele positive Affirmationen beim Yoga mit YouTube nichts.

Du bliebst tapfer, hast versucht, weiterzumachen wie vorher, so weit es eben ging, und dich dabei mehr als sonst um mich gekümmert. Du hast Husten, Schnupfen und Halsweh ernster genommen als früher. Du warst öfter joggen, um meine Abwehrkräfte zu stärken, bist möglichst wenig Bahn und Bus gefahren, hast weniger Menschen getroffen als vorher, hast dir ein buntes Set an Masken zugelegt. Nicht nur, um mich zu schützen, sondern auch, um andere vor mir zu schützen. Denn ich war ja nicht nur potenzielles Opfer, dein Baby, das du beschützt hast. Ich war immer auch ein potenzieller Täter. Ein Krankmacher wider willen, eine biologische Waffe, vielleicht sogar ein Killer, der mit einer Umarmung lächelnd tötet.

Wobei es natürlich genau die Umarmungen und andere innige Berührungen sind, die dich und mich in Krisen stark machen und die in der Pandemie fehlten. Ich besitze schließlich nicht umsonst knapp 900 Millionen Rezeptoren, mit denen ich dir signalisiere, dass du berührt wirst. Wenn dir das gefällt, schenke ich dir eine Ladung Oxytocin, das sogenannte Kuschelhormon, das Stress abbaut und dein Immunsystem stärkt. Glücklich konnte sich schätzen, wer einen Menschen bei sich hatte, der dafür sorgte, ganz ohne virensichere Kuschelfolie zwischen den Körpern. Für viele, die niemanden hatten, war das wohl das Schlimmste am Physical Distancing. Nicht umsonst warnte der Haptik-Forscher Martin Grunwald vor depressiven Symptomen und Angststörungen, die sich einstellen können, wenn Menschen über Wochen oder Monate unter einem eklatanten Körperberührungsmangel leiden.

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Dieser Text ist Teil unserer siebten Ausgabe. In der geht es um Körper in all ihren Formen und Farben, das Recht auf Selbstbestimmung, den Körper als Waffe und warum spritzende Vulven eine politische Dimension haben.

Man konnte zwar etwas dagegen tun, Tinder und Co. gab es ja weiterhin. Allerdings hat die Wiener Soziologin Barbara Rothmüller, die die Auswirkungen der Pandemie auf das Sex-Leben untersucht hat, eine Veränderung im Nutzungsverhalten festgestellt. Etwa ein Drittel der Nutzer:innen haben ganz pausiert, die anderen zwei Drittel haben die Zahl der Kontakte reduziert und langfristige Partnerschaften gesucht. Es habe einen Trend zur Monogamisierung von Sex und Partnerschaft gegeben. Viele von denen, die ohne feste:n Partner:in leben, haben sich also einen gesucht – auch aus Angst davor, dass das Ansteckungsrisiko mit der Zahl der Kontakte steigt.

Alles ganz vernünftig, sicher. Ich kann mich auch gar nicht beschweren. Du hast mich geschützt, mich stark gemacht und mein Gefahrenpotenzial eingehegt. Die beiden Soziologinnen Gabriele Klein und Katharina Liebsch würden sagen, dass deine körperlichen Aktivitäten im öffentlichen Raum und die der anderen »allein zweckrational ausgerichtet und hochgradig individualisiert« waren. Spazierengehen und Joggen dienten vor allem dazu, meine Verletzbarkeit zu minimieren. Meine anderen Seiten, der unbekümmerte Spaß, die Sinnlichkeit, das Verschmelzen mit anderen Körpern in der Masse, meine Inszenierung als genießender Körper in der Öffentlichkeit waren für uns tabu.

Das alles war wohl notwendig, in diesen pandemischen Zeiten. Unsere Vernunftehe auf Zeit hat uns bislang vor der Intensivstation bewahrt und möglicherweise auch den einen oder die andere, die wir infiziert hätten. Doch irgendwann werden wir das alles überstanden haben. Ob wir beide dann wieder zurückfinden? Wann werden wir aufhören, immer auf den Abstand zu Anderen zu achten? Werden wir uns wieder freuen über lachende Münder und schöne Nasen in der Straßenbahn, oder sie weiter vor allem als Virenschleudern betrachten? Wirst du wieder auch die Körper berühren, die nicht in deinem Haushalt leben? Lässt du dich berühren? Packst du wieder mit an? Oder wird die Angst bleiben, vor meiner Verletzlichkeit? Vor deiner Verletzlichkeit? Vor der Nähe?

Versuch sie zu überwinden. Denn irgendwann ist es Zeit für einen Neuanfang! Ich will zurück in das unbeschwerte Miteinander vor Corona. Ich will mit dir fühlen und genießen, keine Maske mehr tragen und auch mal die Kontrolle verlieren. Wir haben das beide doch früher miteinander erlebt. Lass es uns bald wieder tun. Und dann lass uns gemeinsam alt werden…

Text: Stephan Kosch
Bild: Helena Lopes on Unsplash

Quellen

Berührungsforschung
Die Seite des Haptiklabors von Martin Grunwald.
http://haptiklabor.medizin.uni-leipzig.de

Sex und Corona
Studien und Vorträge von Barbara Rothmüller.
http://barbararothmueller.net

Soziologie und Corona
Ein digitales Kolloquium des Wissenschaftszentrums
Berlin u.a. mit einem Vortrag von Gabriele Klein und
Katharina Liebsch.
http://coronasoziologie.blog.wzb.eu

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