Mein Körper, keine Wahl

Seit über hundert Jahren kämpfen Menschen mit Gebärmutter für ihr Recht auf körperliche Selbstbestimmung. Manche Länder machen Schritte vorwärts, andere zurück. Warum auch Deutschland sich dringend nach vorne bewegen muss.

Am 30. Dezember 2020 um 4:12 Uhr Ortszeit, noch vor Sonnenaufgang, erhebt sich ein kollektiver Schrei des Jubels in den Straßen von Buenos Aires. Menschen in grünen Fahnen springen, tanzen, liegen sich lachend und weinend in den Armen. Jahrzehnte der Unterdrückung bahnen sich einen Weg aus tausenden von Herzen. Herzen, aufgewachsen in einem Land, das Schwangere zwang, Kinder in sich zu tragen, die sie nicht haben wollten, oder den Abbruch illegal unter Gefahr für das eigene Leben durchführen zu lassen. In Argentinien dürfen ungewollte Schwangerschaften jetzt bis zur 14. Schwangerschaftswoche beendet werden, ohne Zwang zur Beratung, ohne Kosten, als staatliche Gesundheitsleistung. Welche Rechte haben Menschen, die schwanger werden können, in Deutschland – und welche nicht?

Woher unsere Rechtslage kommt

Zurückverfolgen lassen sich Schwangerschaftsabbrüche derzeit bis in das Jahr 2700 vor Christus. Über die Jahrhunderte hinweg zeigt sich der Schwangerschaftsabbruch – anders als andere medizinische Eingriffe – als Schauplatz einer Kontroverse. Eine Kontroverse, die umso heftiger geführt wurde, je schlechter Frauen gesellschaftlich gestellt waren und je ambitionierter das Bevölkerungswachstum eines Landes vorangetrieben wurde. Galten in der römischen Spätantike noch Geldstrafen für Abtreibungen, so wurden diese nach den Bevölkerungsrückgängen infolge der Pestepidemien des 14. Jahrhunderts in weiten Teilen Europas mit dem Tod bestraft.

In der deutschen Moderne steht der Schwangerschaftsabbruch seit der Einführung von § 218 StGB im Jahr 1871 unter Freiheitsstrafe. Die erste Frauenbewegung zu Zeiten der Weimarer Republik versuchte ihn zu legalisieren, die Nationalsozialisten ahndeten ihn wieder mit Zuchthaus oder Todesstrafe. Der Tabubruch kam mit der zweiten Frauenbewegung: Unter dem Titel »Wir haben abgetrieben!« gaben im Juni 1971 im Magazin ›Stern‹ 374 prominente, westdeutsche Frauen an, abgetrieben zu haben. Europaweit gelang es den Frauen der 1970er-Jahre zum ersten Mal, deutlich zu machen, dass die Kriminalisierung von Abtreibung ihr Menschenrecht auf körperliche Selbstbestimmung verletzt. Aus jener Zeit stammt der Satz: »Frauenrechte sind Menschenrechte«.

Die Frauenbewegung forderte die Entkriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs, die freie Entscheidung über den Abbruch in den ersten Monaten und eine bessere medizinische Versorgung. Sowohl in den 1970er- als auch in den 1990er-Jahren wurden verschiedene Gesetzentwürfe, vorangetrieben von Grünen, FDP und SPD, erst verabschiedet und dann vom Bundesverfassungsgericht gekippt. Das Ergebnis: Schwangerschaftsabbrüche sind in Deutschland noch heute Straftaten. Sie werden jedoch nicht strafrechtlich belangt, solange sie in den ersten zwölf Wochen der Schwangerschaft geschehen und die schwangere Person sich zuvor beraten lassen hat.

Warum hielt das Bundesverfassungsgericht Gesetze mit Fristenlösung für verfassungswid-rig? Das Urteil vom 25. Februar 1975 besagt: »Die Schutzpflicht des Staates verbietet nicht nur unmittelbare staatliche Eingriffe in das sich entwickelnde Leben, sondern gebietet dem Staat auch, sich schützend und fördernd vor dieses Leben zu stellen.« Am 28. Mai 1993 wurde man hier noch deutlicher: »Der Schwangerschaftsabbruch muß für die ganze Dauer der Schwangerschaft grundsätzlich als Unrecht angesehen und demgemäß rechtlich verboten sein.« Das Urteil von 1975 war nicht nur für die Frauenbewegung in Deutschland ein einschneidendes Erlebnis, sondern auch von weitreichender juristischer Bedeutung. Im Zuge dieses Urteils wurde die Figur der staatlichen Schutzpflicht entwickelt. Der Grundgedanke: Grundrechte sollen Bürger:innen vor Freiheitsbeschränkungen durch den Staat schützen. Die staatliche Schutzpflicht besagt nun, dass der Staat auch Bürger:innen vor Rechtsverletzungen anderer Privater schützen muss. So wird aus dem Zweierverhältnis von Staat und Bürger:in ein Dreieck.

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Dieser Text ist Teil unserer siebten Ausgabe. In der geht es um Körper in all ihren Formen und Farben, das Recht auf Selbstbestimmung, den Körper als Waffe und warum spritzende Vulven eine politische Dimension haben.

Bei einer schwangeren Person und ihrem Fötus ist die Durchsetzung dieses staatlichen Schutzes allerdings kompliziert: Der Embryo ist ohne Mutter ja nicht lebensfähig. Eine Inobhutnahme, etwa durch eine Pflegefamilie, ist nicht möglich. So argumentieren auch die zwei Bundesverfassungsrichter, die dies 1975 in ihr Sondervotum schrieben. Wie wird trotzdem der Schutz des ungeborenen Lebens gewährleistet? Durch eine Austragungspflicht. Schwangere Menschen haben verfassungsrechtlich die Pflicht, einen Fötus auszutragen.

Haben Embryonen somit ein Leistungsrecht am Körper ihrer Mutter? Darf der Staat also die Organe und Körperflüssigkeiten seiner Bürger:innen verwalten, um seiner Schutzpflicht nachzukommen? Ist es mit der Menschenwürde vereinbar, Menschen mit Gebärmutter durch eine Austragungspflicht zu lebenden Brutkästen zu machen?

Strafbare Abtreibungen — Nicht alle Schwangerschaftsabbrüche in Deutschland sind rechtswidrig. Sie gelten – teils bis zur 22. Woche – als gerechtfertigt, wenn die Schwangerschaft Resultat einer Vergewaltigung ist oder das Leben der schwangeren Person durch die Schwangerschaft gefärdet ist.

Welches Unrecht?

Kritiker:innen des Rechts auf Abtreibung argumentieren häufig mit den Rechten und Freiheiten des Embryos, sprechen von einer »Pattsituation«, in der man Embryo und schwangere Person »aussöhnen« müsse. Verteidiger:innen einer freien Abtreibungsentscheidung entgegnen, dass Embryonen vor dem dritten Monat in ihrer Entwicklung noch weit weg von einer Person seien, der wir Rechte zuschreiben würden. Manche stellen heraus, dass Kinder frühestens ab dem fünften Monat Schmerz wahrnehmen können. Andere weisen auf die Widersprüchlichkeit hin, mit der die Rechte nicht leidensfähiger Embryonen über die Rechte erwachsener Menschen mit Bewusstsein, Leidensfähigkeit, Beziehungen und Pflichten gestellt werden, während die gleichen Personen die Lebensrechte von Kühen dem menschlichen Recht aufs Grillen unterordnen. Die Frage, ob Abtreibung ›Unrecht‹ sei, lässt sich aber auch beantworten, ohne zu entscheiden, ob ein Embryo bereits ganz Person ist oder nicht. Selbst wenn wir anerkennen würden, dass Embryonen Personen mit Lebensrecht seien: Müsste man schwangere Person und Embryo dann aussöhnen?

» Die weite Verbreitung der Idee, dass das Gebären eine Pflicht sei, überrascht nicht, wenn man sich überlegt, dass unsere Gesellschaft sich gerade erst abgewöhnt, Frauen als Besitz von Männern zu denken.

Die Philosophin Judith Jarvis Thompson argumentiert 1971 in ihrem Essay ›In Defense of Abortion‹: Nein, das müsste man nicht. Die Schwangere und der Embryo sind nicht ebenbürtige Mieter:innen desselben Hauses. Das Haus gehört der Schwangeren. Das folgende Gedankenexperiment ist an Thompsons Arbeit angelehnt: Nehmen wir an, ich erwachte eines Morgens in einem Krankenbett, im Bett neben mir ein Herr, der meine Blutspende bräuchte, um zu überleben. Müsste man uns beide ›aussöhnen‹? Würde die Schutzpflicht des Staates gebieten, dass man mich zur Spende zwingt? Unsere Blutkreisläufe verbindet, für einen Tag, einen Monat, neun Monate? Nein. Nein, weil ich das Recht habe, über meinen Körper zu entscheiden. Nein, weil wir das Recht auf körperliche Unversehrtheit in dieser Gesellschaft so hoch halten. So hoch, dass in Deutschland alle acht Stunden ein Mensch stirbt, weil kein Spenderorgan gefunden wird. Und das heißt nicht, dass es nicht netter, vielleicht auch moralisch besser wäre, zu spenden. Aber es heißt, dass man niemanden dazu zwingen kann. Auch mich nicht, in meinem Krankenbett.

Kritiker:innen entgegnen, dass Schwangere selbst die Verantwortung für ihre Schwangerschaft trügen, schließlich gäbe es Alternativen wie Verhütung oder sexuelle Abstinenz. Doch für die Art, wie unsere Gesellschaft über staatlichen Zwang denkt, macht das keinen Unterschied: Selbst wenn ich den Herrn im Krankenbett neben mir selbst angefahren hätte, könnte mich der Staat nicht zwingen, ihm mein Blut zu spenden. Wer kein Blut oder keine Organe spendet, wird nicht mit einer Spendenpflicht, nicht mit Beratungszwang, nicht mit einem sogenannten ›Unrechtbewusstsein‹ konfrontiert.

Es gibt nur einen Fall, in dem das möglich ist: Wenn der Mensch, der auf deinen Körper angewiesen ist, nicht im Krankenbett nebenan, sondern in deiner Gebärmutter liegt. Dann gilt das ehemals so hoch gehaltene Recht auf körperliche Selbstbestimmung nur mehr wenig. Das Recht auf körperliche Selbstbestimmung bedeutet nicht, gut zu finden, was andere mit ihrem Körper tun. Es bedeutet bloß, anzuerkennen, dass es deren Entscheidung ist. Wenn dieses Recht mit Blick auf die Schwangerschaft ausgesetzt wird, haben Menschen mit Gebärmutter nicht mehr die gleichen Rechte und Freiheiten wie Menschen ohne Gebärmutter.

Welche Pflicht?

Die weite Verbreitung der Idee, dass das Gebären eine Pflicht sei, überrascht nicht, wenn man sich überlegt, dass unsere Gesellschaft sich gerade erst abgewöhnt, Frauen als Besitz von Männern zu denken. Dieses Erbe sitzt tief und reicht vom 10. Gebot im Alten Testament, welches die Frau als Besitz des Mannes einschließt, über Martin Luther, der in ›Von der Ehe‹ feststellt: »Die größte Ehre, die das Weib hat, ist allemal, dass die Männer durch sie geboren werden«. Bis zu den Stimmen deutscher Politiker:innen gegen die Strafbarkeit von Vergewaltigung in der Ehe im Jahr 1997, frei nach dem Motto »You cannot steal what you already own«. Solange es unsere Gesellschaft gewöhnt ist, die Körper von Frauen zur Reproduktion, zur einseitigen Befriedigung sexueller Triebe und zur Entladung physischer Aggression zu benutzen, wird es ihr leichter fallen, diesen Körpern Pflichten aufzuerlegen, als Körpern ohne Gebärmutter.

An dem Wort ›Austragungspflicht‹ ist nicht nur die Idee der Pflicht, sondern auch die des Austragens herabwürdigend. Kinder werden nicht bloß ausgetragen: Kinder werden Zelle für Zelle aufgebaut, von Körpern mit Gebärmutter und von niemandem sonst. In einem Anflug frauenfeindlicher Erleuchtung stellte Aristoteles vor Jahrtausenden fest: »Der Vater als alleiniger Erzeuger braucht die Frau, wenn überhaupt noch als Schoß, als Behälter, als Gefäß, als Brutkasten, um den Samen als eigentlichen Gestalter des Lebens aufzunehmen.« Seither bedienen wir uns einer Rhetorik, die die körperliche Arbeit von Frauen negiert. Einer Rhetorik, die uns das neunmonatige Aufbauen eines neuen Organismus als Akt des Tragens, als bloßes »Halt mal kurz« verkauft.

Ähnliches gilt für die Pflicht, sich vor dem Schwangerschaftsabbruch beraten lassen zu müssen. Gemeint ist nicht das bloße Angebot einer Beratung, sondern der gesetzliche Zwang dazu, diese Entscheidung mit einer fremden Person besprechen zu müssen. Wieso sollen Menschen, die heute eigenständig folgenschwere Entscheidungen treffen dürfen – über eine Sterilisation, das Leiten eines Konzerns oder das Regieren einer Nation – nicht frei und allein entscheiden können, ob sie über Monate hinweg ein Kind aufbauen und Eltern sein wollen oder nicht?

» Es braucht einen sachlichen Diskurs, der nicht allein von den ›Lebensschützer:innen‹ dominiert wird.

Warum diese Rechtsprechung Menschen im Stich lässt

Die aktuelle Rechtsprechung ist nicht bloß in der Theorie verhöhnend, sie schadet Menschen auch in der Praxis. Wenige Monate nachdem das Bundesverfassungsgericht eine deutsche Fristenregelung kippte, beschlossen die Vereinten Nationen auf der Weltbevölkerungskonferenz von 1994 nicht nur, dass jedes Individuum das Recht habe, »frei und eigenverantwortlich – ohne Diskriminierung, Zwang oder Gewalt – über den Ort und den Zeitpunkt um eigene Kinder zu bekommen und die Anzahl derselben zu entscheiden«. Sondern auch, dass jeder Mensch das Recht habe, die Informationen und Mittel hierfür sowie den höchstmöglichen Standard sexueller und reproduktiver Gesundheit zu erhalten. Reproduktive Selbstbestimmung erfordert somit nicht bloß Straffreiheit von, sondern auch den reellen Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen.

Die Verankerung von Schwangerschaftsabbrüchen im Strafgesetzbuch hat für Menschen mit Gebärmutter ernsthafte Konsequenzen auf finanzieller, psychosozialer und gesundheitlicher Ebene. Denn durch die Verankerung im Strafgesetzbuch wird der Schwangerschaftsabbruch von der Gesundheitsleistung zur Straftat. Diese Behandlung als Straftat macht Abtreibungen zunehmend unzugänglich. Warum? Straftaten werden nicht von der Krankenkasse übernommen. Die Kosten von 360 bis 460 Euro pro Abbruch sind privat von der Person mit Gebärmutter zu zahlen. Bei zu niedrigem Einkommen ist die Kostenerstattung vor dem Abbruch bei der örtlichen gesetzlichen Krankenkasse zu beantragen. Straftaten lassen sich schwer mit anderen besprechen. Die Kriminalisierung des Abbruchs und die unter der schwarz-gelben Regierung Helmut Kohls intensivierte Strafverfolgung von Ärzt:innen hat gezielt zu einem ›Unrechtbewusstsein‹, in anderen Worten, zu einer Stigmatisierung dieses Schrittes beigetragen. Wie finde ich Hilfe, Unterstützung und Rat in einer Angelegenheit, über die ich nicht oder kaum sprechen kann?

Straftaten werden nicht an der Universität unterrichtet. Obwohl sie einer der häufigsten gynäkologischen Eingriffe sind, gehören Schwangerschaftsabbrüche nicht zum Pflichtbestandteil der gynäkologischen Weiterbildung, und es fehlt eine Leitlinie, die Patient:innen bundesweit den gleichen, modernen Standard garantiert. So werden heute 14 Prozent der Abtreibungen in Deutschland per Ausschabung vorgenommen, einer veralteten, risikoreichen und schmerzhaften Methode.

Sondervotum — Ist die abweichende Mei- nung von den Richter:innen, die die mehrheitliche Entscheidung nicht mittragen, da sie die Rechtslage anders bewerten. Das Sondervotum wird an das Urteil angehängt. Bei beiden Urteilen des Bundesverfassungsgerichts zum Schwangerschaftsabbruch gab es ein Sondervotum.

Straftaten können für Ärzt:innen das Berufsverbot bedeuten. Die deutsche Rechtslage vermeidet das Bild der mitleiderregenden, ungewollt schwangeren Angeklagten und macht diese stattdessen zum ›Opfer‹ eine:r Ärzt:in. Das schafft starke Anreize, diesen Eingriff gar nicht erst anzubieten. Wer es tut, riskiert – anders als bei üblichen Gesundheitsleistungen – bei kleinen Fehlern bereits eine Strafverfolgung. Denn Regelungen für Kunstfehler gibt es nur bei medizinischen Behandlungen – als solche gilt eine Abtreibung allerdings nicht. Strafverfolgung droht gemäß § 219a Strafgesetzbuch auch jenen, die auf ihren Websites darüber informieren, mit welcher Methode sie abtreiben. Oder jenen, die einer Patientin sagen, wo in den Niederlanden man
nach der zwölften Schwangerschaftswoche noch abtreiben kann. Wer heute noch
in Deutschland Abtreibungen vornimmt, tut dies aus einer Überzeugung, die oft in
der Studentenbewegung der 68er-Jahre begründet liegt. Aber diese Generation von
›Überzeugungstäter:innen‹ steht an der Schwelle zur Pensionierung. Boten im Jahr 2003 noch rund 2000 Stellen in Deutschland Schwangerschaftsabbrüche an, so waren es 2018 nur noch 1200 – minus 40 Prozentpunkte in 15 Jahren, während die Zahl der praktizierenden Ärzt:innen zunahm. Die Liste der Praxen, die Abbrüche vornehmen – von der Bundesärztekammer veröffentlicht und für Praxen nicht verpflichtend – zählt heute 376 Adressen. Das ist eine öffentlich zugängliche Adresse für je 100.000 Menschen mit Gebärmutter.

Die Alternative

Seit den 1970ern prägt der Slogan »Weg mit § 218 und § 219a!« die Frauenbewegung. Natürlich bedeutet die Forderung nicht den Wunsch nach einer Abtreibungsanarchie bis kurz vor der Geburt oder dass Abbrüche gegen den Willen der Schwangeren gar straffrei werden sollten. Im Gegenteil, dahinter steht der Wunsch nach Autonomie und einer Neuregelung, die Frauen nicht medizinisch unterversorgt und die Desinformation keinen Raum gibt.

Wie kann so eine Regelung aussehen? Fraglich ist hier, woran sich diese Alternative orientieren sollte. Die Rechtsordnung kann auch anders ausgelegt werden, wie die zwei Sondervoten 1975 und 1993 zeigen. Schlussendlich weiß niemand vorab, wie das Bundesverfassungsgericht entscheiden würde, aber eine 180-Grad-Wende wäre ungewöhnlich. Daher erscheint das ›Sicherste‹, sich im Rahmen des Urteils von 1993 zu bewegen. Betrachten wir es also noch einmal: Knapp formuliert sagt es aus, dass der Staat nicht einfach so auf das Strafrecht verzichten kann. Gleichzeitig räumt es dem Gesetzgeber die Freiheit ein, ein ›anderes‹ Konzept zu entwickeln, welches den Fötus gleichermaßen schützen muss. Wie also geht man die Problematik an? Am Anfang steht immer der freie Diskurs. So sehen das auch die ›Doctors for Choice‹. Das internationale Netzwerk von Reproduktionsmediziner:innen fordert mehr Aufmerksamkeit für die Problematik und flächendeckende Aufklärung in Form eines frei zugänglichen, mehrsprachigen Informationsangebots. Auch im medizinischen Studium und Ausbildungen sollte das Thema nicht ausgespart werden, um Mythen, die sich weiterhin hartnäckig unter Fachkräften halten, den Garaus zu machen. Fachlich hängen aber auch die Jurist:innen hinterher. Die Jura-Professorin und Berliner Verfassungsrichterin Ulrike Lembke sieht den Bedarf für mehr Publikationen zur Frage des Schwangerschaftsabbruchs. Schließlich seien die Normen zum Schwangerschaftsabbruch menschengemacht und veränderbar. Um auch den selbstbestimmten und freien Dialog zu garantieren, insbesondere im kleinen Rahmen zwischen Betroffenen und medizinischem Personal, sollten Kliniken sowie Praxen vor aufdringlichen Lebensschützer:innen geschützt werden.

» Erst als die Aktivist:innen anderthalb Millionen Menschen auf die Straße brachten und das Unterhaus begann, ihren Gesetzesentwurf zu diskutieren, verstanden sie, dass sie wichtiger waren, als sie es sich selbst lange zugestanden hatten.

In einem sind sich jedoch alle einig: Es braucht einen sachlichen Diskurs, der nicht allein von den ›Lebenschützer:innen‹ dominiert wird. Doch das gewonnene Wissen muss flankiert werden von ökonomischen sowie infrastrukturellen Maßnahmen, sodass die Frage der Selbstbestimmung keine des sozialen Status’ oder Wohnorts mehr ist. Konkret heißt das, es braucht kostenlosen Zugang zu Verhütungsmitteln, vereinfachten Zugang zum Schwangerschaftsabbruch in Form von mehr Praxen, die diesen anbieten, sowie eine kostenfreie Behandlung.

Weiterhin ist zu bedenken, dass die Motivationen für einen Abbruch zwar vielseitig sein können und selten nur auf materiellen Sorgen beruhen. Doch jenen Schwangerschaftsabbrüchen, die von der Angst vor verpassten Karrierechancen, finanziellen Schwierigkeiten oder sozialem Stigma getrieben sind, sollte durch eine familienfreundlichere Politik entgegengewirkt werden. Auch der Richter und Journalist Ulf Burmeyer spricht sich in seinem Podcast ›Lage der Nation‹ in diesem Sinne für mehr Kindergeld, eine Neuregelung des Adoptionsrechts und ein erweitertes Angebot der Kinderbetreuung aus.

Letztlich muss es aber ein Gesetz für reproduktive Gesundheit geben, wie auch Frankreich oder die Niederlande es kennen. Ein Gesetz, das den Schwangerschaftsabbruch regelt und auch den Wandel des Familienbegriffs anerkennt. Ein Gesetz, das auch Familien, die sich Kinder wünschen, unterstützt, indem es zum Beispiel Leihmutterschaft und Eizellspende regelt. Kurz ein Gesetz, das rechtliche Grauzonen ausmerzt und so kostengünstige, zugängliche und sichere medizinische Versorgung garantiert.

›Lebenschützer:innen‹ — Eine kleine, aber laute und gut organisierte Interessengruppe, die einmal im Jahr ›für das Leben‹ durch Berlin marschiert, eigene Zeitschriften und Beratungsstellen betreibt, sowie Ärzt:innen verklagt und drangsaliert, die Abtreibungen durchführen oder darüber informieren.

Zurück nach Argentinien. Dem katholischen Land ist es gelungen, legale und sichere Schwangerschaftsabbrüche Wirklichkeit werden zu lassen. Nelly Myniersky, Aktivistin, Juristin und zentrale Figur der Proteste, sagt rückblickend: Erst als die Aktivist:innen anderthalb Millionen Menschen auf die Straße brachten und das Unterhaus begann, ihren Gesetzentwurf zu diskutieren, verstanden sie, dass sie wichtiger waren, als sie es sich selbst lange zugestanden hatten. Und obwohl der erste Entwurf 2018 abgelehnt wurde, war die Tatsache, dass es erleichterten Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen braucht, um das Recht auf Leben, Gesundheit und Selbstbestimmung von Menschen mit Gebärmutter zu wahren, in der Gesellschaft angekommen. »Wir hatten zwar die Senatoren verloren, aber das öffentliche Bewusstsein gewonnen. Seitdem sprach man hier über Schwangerschaftsabbrüche wie nie zuvor.« So änderten auch konservative Politiker wie Sergio Leavy ihre Meinung. Er stimmte 2020 für das neue Gesetz, weil ihm klar wurde, dass Frauen immer abtreiben werden und die Politik einzig darüber entscheidet, unter welchen Bedingungen sie es tun.

Text: Carmelina Götz & Chiara Marquart-Tabel
Bild: Gayatri Malhotra on Unsplash

Quellen

Abortion and Medicine: A Sociopolitical History.
Carole Joffe. In: M Paul, ES Lichtenberg, L Borgatta, DA Grimes, PG Stubblefield, MD Creinin (Hg.), Management of unintended and abnormal pregnancy: Comprehensive abortion care. Wiley-Blackwell, 2009
tfmag.de/abme | onlinelibrary.wiley.com

A Defense of Abortion
Judith Jarvis Thomson, Philosophy & Public Affairs, 1971.
tfmag.de/defab | spot.colorado.edu

Lage der Nation, Folge 207
Einmal in der Woche besprechen Philip Banse und Ulf Buermeyer in ihrem Podcast das politische Geschehen in Deutschland und der Welt.
tfmag.de/ldnab | lagedernation.org

Gespräch mit Prof. Dr. Ulrike Lembke
Berliner Verfassungsrichterin und Professorin für Öffentliches Recht und Geschlechterstudien an der Humboldt Universität zu Berlin

BVerfGE 39, 1
Erstes Urteil zum Schwangerschaftsabbruch von 1975.

BVerfGE 88, 203
Zweites Urteil zum Schwangerschaftsabbruch von 1993.

Weiterlesen

Choice words: Writers on abortion
Nach einer Abtreibung beginnt Annie Finch, Gedichte, Geschichten und Essays, die den verschiedenen Erfahrungen mit Abtreibung Ausdruck verleihen, zu sammeln.
Haymarket Books, Chicago 2020.
tfmag.de/chowo | anniefinch.com

Mediziner:innen zum Schwangerschaftsabbruch
Wie denken Mediziner:innen über den Schwangerschaftsabbruch? Diese Studie zeigt Menschen zwischen Tabu, Passivität und Pragmatismus.
Baier et al., Hans-Böckler-Stiftung 2018.
tfmag.de/abprag | gwi-boell.de

Das Politische ist persönlich
›Tagebuch einer ›Abtreibungsärztin‹: Kristina Hänel über die Kämpfe, die sie während und nach ihrem Prozess wegen ›Werbens für den Abbruch einer Schwangerschaft‹ begleiteten.
Argument Verlag, Hamburg 2019.
tfmag.de/haenel | argument.de

Kinder wollen. Über Autonomie und Verantwortung
Barbara Bleisch und Andrea Büchler verorten Themen wie den Schwangerschaftsabbruch im grundsätzlichen Diskurs über reproduktive Selbstbestimmung und zeigen, wie persönlich Gesetzgebung werden kann.
Carl Hanser Verlag, München 2020.
tfmag.de/kiwo | hanser-literaturverlage.de

Caliban und die Hexe
Silvia Federici zeichnet die Veränderung der Stellung der Frau und ihres Körpers am Übergang zu Neuzeit und Kapitalismus nach. Die Jahrhundertelange Ausbeutung des weiblichen Körpers, die sie aufzeigt, ist so schmerzhaft wie aufrüttelnd.
Mandelbaum Verlag, Wien 2012.
tfmag.de/cahe | mandelbaum.at

Handeln

Pro Choice e.V.
In diesem spendenfinanzierten Verein, der sich unter anderem für die Abschaffung von § 219a einsetzt, kooperieren die wichtigsten Aktivist:innen der deutschen Pro-Choice-Bewegung. Ihm nahestehend sind die studentische Arbeitsgruppe ›Medical Students for Choice‹ und das deutschlandweite Netzwerk von Ärzt:innen, Medizinstudierenden und Jurist:innen ›Doctors for Choice‹. Zusammen wollen sie Schwangerschaftsabbrüche als Gesundheitsleistung im deutschen Rechtssystem etablieren. Mitarbeit ist möglich und verschiedene Formen von Expertise willkommen.
pro-choice.de

Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung
Die Vereinigung von über 30 Verbänden, Institutionen und Netzwerken mobilisiert alljährlich gegen den Aufmarsch jener, die ein Recht auf Abtreibung abschaffen wollen, organisiert Aktionen, Petitionen und Kundgebungen. Offene, digitale Treffen finden monatlich statt, einfach anschreiben.
sexuelle-selbstbestimmung.de

Politisch aktiv werden
Politik macht Gesetze. Die Jugendorganisationen verschiedener Parteien fordern eine Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs und informieren, wo Ärzt:innen nicht informieren dürfen. Wie man mitmischt? Johanna Fehrle und Anna Westner machen es vor.
@wennahighfive_ | instagram.com
@westneranna | instagram.com

Media

Es gibt das Recht auf Fortpflanzungsfreiheit
Interview über die Rechtslage der Leihmutterschaft in Deutschland und der Welt sowie ihre gesellschaftlichen Folgen. Guido Mewis im Gespräch mit Ute Welty, Deutschlandfunk Kultur, 29.01.2021.
tfmag.de/dfleih | deutschlandfunkkultur.de

Raus aus der Grauzone
Podcast über das veraltete Embryonenschutzgesetz und wie es dem Kinderwunsch gefährlich im Weg stehen kann.
Birgit Augustin, Deutschlandfunk, 2.11.2020.
tfmag.de/dfembg | deutschlandfunk.de

Mehr als du denkst
Eine Initiative der ›Doctors for Choice‹ mit Website und Instagram-Account, die verständliche und wichtige Statistiken über Schwangerschaftsabbrüche in Deutschland teilen.
tfmag.de/madd | mehralsdudenkst.org

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