Die unerträgliche Schwere des Neins

Wie lässt sich über sexualisierte Gewalt sprechen, wenn diese ununterbrochen geleugnet wird? Unser Gastautor skizziert eine Welt, in der wir ohne Zwang und Grenzüberschreitungen auskommen.

Der Diskurs über sexualisierte Gewalt erscheint mir widersprüchlich. In meinen Augen gibt es eine Übereinstimmung, wenn es darum geht, Übergriffe und Belästigungen zu verurteilen. Wo diese jedoch beginnen und was von wem gemacht werden könnte, um Übergriffigkeiten zu minimieren, ist höchst umstritten. Auch, wer potentiell betroffen und wer tatsächlich betroffen ist, bleibt nicht der Selbstdefinition überlassen.

Menschen glauben Betroffenen nicht.

Durch Menschen und Instanzen wird fremdbestimmt, wer sexualisierte Gewalt erlebt (hat), und dies geschieht zu einem großen Teil aus der Perspektive Nicht-Betroffener.

Hier beginnen perfide Mechanismen zu wirken: Menschen glauben Betroffenen nicht, hinterfragen ihre Erzählungen, lenken die Debatte ab oder verdrehen Aussagen. Beweise werde gefordert, wohlwissend, dass es oftmals keine Beweise gibt, abgesehen von den Aussagen der Betroffenen. Und diese gelten als unzureichend, oftmals sowohl auf juristischer als auch auf gesellschaftspolitischer Ebene.

Was es bedeutet, sich zu sexualisierter Gewalt zu äußern, wird häufig von denjenigen bestimmt, die dem Thema in ihrem Alltag keinen Platz einräumen. Wenn auf meine Erzählung von sexualisierter Gewalt solche Reaktionen warten, überlege ich lange, ob ich meine Erfahrung überhaupt in eine Sprachlichkeit bringe, und entscheide mich eventuell für das Schweigen. Das ist Teil des Mechanismus, durch den sich sexualisierte Gewalt hält, stabilisiert und wiederholt.

Um dies zu unterbrechen und grenzüberschreitendes Verhalten als Handlungsoption auszuschließen, brauchen wir ein Klima von Respekt und Empathie. Und um dieses Klima zu schaffen, muss das Akzeptieren, Herunterspielen oder Leugnen, wie es zur Zeit vielfach passiert, einer anderen Haltung weichen.

Von denen sprechen, die sexualisierte Gewalt ausüben

Ein gewaltvolles, einschränkendes, ätzendes Verhalten von einigen Menschen beeinflusst die Realität von anderen Menschen. Die potentiell oder tatsächlich Betroffenen müssen nicht nur mit der erfahrenen Gewalt umgehen, sondern sich auch noch damit beschäftigen, grenzüberschreitendem Verhalten aus dem Weg zu gehen, so gut es geht.

Obwohl die Entscheidung, sexualisierte Gewalt auszuüben, bei den Tätern liegt – eben jenen, die sie ausüben – erlaubt das herrschende Sprechen nicht, diesen einfachen Umstand zu benennen. Wenn wir von Gewalt gegen Frauen und Mädchen sprechen, von belästigten oder verletzten Personen- dann radieren wir in der Sprache die Personen aus, die diese Gewalt vornehmen- vorsätzlich oder nicht.

Im Passiv zu sprechen, hindert mich daran, sexualisierte Gewalt klar zu empfinden, zu denken und zu benennen. Das „ich wurde vergewaltigt“ klingt zu sperrig, „es ist passiert“ klingt zu harmlos, zu nebensächlich, und „ich habe einen Übergriff erlebt“ lässt mich alleine stehen mit dem Versuch, das Erlebte zu begreifen.

Zu hören, ich glaube dir, kann Grübeln und Zweifeln unterbrechen. Ja, es ist wirklich passiert. Nein, du bist nicht mitverantwortlich. Nein, du reagierst nicht über. Ja, du kannst dir Unterstützung suchen.

Versuche ich es mit „eine Person hat meine Grenzen überschritten“ oder „eine Person hat mir Gewalt angetan“, verschiebe ich den Fokus auf die ausübende Person und deren Handlung. Sexuelle Übergriffe zur Sprache zu bringen ist ein radikaler Schritt. Dieser Schritt ist nicht für alle, die von dieser Art von Gewalt betroffen sind, möglich, oder sinnvoll, oder nötig.

Für mich ist das Sprechen mit anderen über meine Erfahrungen und eine respektvolle Reaktion darauf wichtig, um diese Erfahrungen überhaupt greifen zu können. Zu hören, ich glaube dir, kann Grübeln und Zweifeln unterbrechen. Ja, es ist wirklich passiert. Nein, du bist nicht mitverantwortlich. Nein, du reagierst nicht über. Ja, du kannst dir Unterstützung suchen.

Grenzüberschreitendes Verhalten nicht als Normalität anerkennen

Eine weitere Besonderheit des herrschenden Sprechens über sexualisierte Gewalt, neben dem Scheinwerfer auf die vermeintliche Verantwortung der Betroffenen, ist das Herunterspielen der Tatsache, dass sexualisierte Gewalt eine Normalität ist.

Und um das zu belegen, ziehe ich hier keine Zahlen heran, denn die Fälle von Nötigung oder Vergewaltigung, die zur Anzeige gebracht werden, spiegelt nicht das Ausmaß wieder, in dem diese passieren. Ich lade dich stattdessen dazu ein, zuzuhören, wenn im Bekanntenkreis zu dem Thema gesprochen wird. Ich lade dich dazu ein, Kampagnen wie #aufschrei oder den gerade laufenden Hashtag #metoo zu verfolgen. Diese zeigen: Der Alltag von sehr vielen Menschen ist sehr geprägt von ungebetenen Berührungen, Flirtversuchen in Arbeitskontexten, Nötigungen, oder Bedrohungen. Und den Versuchen, all dem zu entgehen.

Um sexualisierte Gewalt ernst nehmen zu können, ist es nötig, ein breites Verständnis von grenzüberschreitendem Verhalten zu bekommen. Dazu versuche ich mir auch bewusst zu machen, was ich über die Verhältnisse zwischen den Geschlechtern, über romantische Liebe und Beziehungen gelernt habe.

Bedrängen, Überreden, und das Überschreiten von Grenzen ist eine akzeptierte Form des Umgangs – nicht nur in Liebesbeziehungen. Ich denke beispielsweise an die vielen Filme, in denen männliche Charaktere ihr „love interest“ so lange verfolgen, bis der weibliche Charakter sich ihnen zuwendet. Dieses Verhalten erlernen wir, die Zusehenden, als romantisch.

Solange eine (patriarchale) Kultur Bilder von „hysterischen“, böswilligen, oder naiven Frauen produziert, fällt es schwer, diese als Autorinnen ihrer eigenen Realität ernst zu nehmen. Wachse ich auf mit dem Glauben, Sex sei ein Druckmittel für Frauen, um Männer kleinzuhalten, dann wird meine Empathie mit einer vergewaltigten Person vermutlich sinken und meine Bereitschaft, eine Erklärung für die vergewaltigende Person zu suchen, steigen.

Gehe ich von einer grundsätzlich feindseligen oder zumindest vertrauensunwürdigen Beziehung zwischen Männern und Frauen aus, wird es mir schwerer fallen, Grenzüberschreitungen als solche zu erkennen und mich gegen sie auszusprechen.

Eine Vision von Wünschen, die gehört werden

Kann ich wissen, was ich will?

Ich denke, unter den Zweifeln an der Normalität von grenzüberschreitendem Verhalten liegt die Frage, ob Menschen und insbesondere Frauen in der Lage sind, gewollte und ungewollte Handlungen zu unterscheiden. Kann ich wissen, was ich will? Muss ich überredet, ausgetrickst oder gezwungen werden? Kann mein Nein stehen bleiben, auch wenn dir das gerade nicht in den Kram passt?

Und wenn ich selbst überrede, austrickse oder zwinge – muss ich dafür Verantwortung übernehmen, meine Haltung ändern? Nehme ich die Chance, zu lernen und mich zu verändern, oder lasse ich die anderen für mich arbeiten?

Ich bin überzeugt davon, dass wir uns einen Raum wünschen dürfen, in dem Kommunikation von Wünschen und Grenzen die Normalität ist. Wir sollten uns Umgangsweisen vorstellen können, in denen Zwang oder Gewalt abwesend sind.

Das bedeutet für mich, mir selbst die Frage zu stellen, warum ich in Beziehung bin und wie ein Beziehungsalltag beschaffen sein kann, in dem wir einander ernst nehmen, beflügeln, fordern, akzeptieren, und wertschätzen.

Solange sexualisierte Gewalt privat gehandelt wird, erscheint die Forderung nach einem anderen Umgang als unnötig.

Was ich als Liebe gelernt habe, entfernt mich manchmal von diesen Wünschen. Beziehung –  wie ich aus Filmen, Musik, Magazinen oder Gesprächen mit anderen gelernt habe – kann auch bedeuten, einander festzuhalten, einander zu kontrollieren oder verändern zu wollen, Erwartungen zu haben und die Erfüllung dieser Erwartungen zu erzwingen. Gekoppelt mit Macht (zum Beispiel Arbeitgeber zu sein oder hohes soziales Ansehen zu genießen), entstehen daraus die Mechanismen, die zu grenzüberschreitendem Verhalten und sexualisierter Gewalt führen.

Solange sexualisierte Gewalt als etwas Privates gehandelt wird, das selten vorkommt und allein bei den Betroffenen liegt, wird die Forderung nach einem anderen Umgang damit lästig und unnötig erscheinen. Erst durch Kritik an der jetzigen Art und Weise, Beziehungen zu leben, Bedürfnisse zu spüren und Grenzen zu setzen, können alltägliche verletzende Verhaltensweisen begreifbar werden. Und damit kann Raum entstehen für Visionen eines Zusammenlebens ohne sexualisierte Gewalt.


Autor*inneninfo:

Nello Fragner lebt in Berlin. Er beschäftigt sich mit Formen des kollektiven Kunstmachens und Möglichkeiten, sich wissenschaftlich und poetisch schreibend zu positionieren. Nello gibt Workshops für kreatives Schreiben und (queere) Fotografie, vor allem in feministischen und selbstorganisierten Umfeldern.  Er veröffentlichte einen Beitrag zum Sprechen über sexualisierte Gewalt im Sammelband Wege zum Nein, erschienen 2017 bei edition assemblage

Beitragsbild: Henri Pham bei Unsplash

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