Die Illustration zeigt eine Frau mit einer hellblauen Haube auf dem Kopf. Im Hintergrund sind Felder, darüber ein Nachthimmel mit Sternen.

Zeuginnen der Zukunft

Schon immer grübeln Schriftsteller:innen über die Gesell­schaft der Zukunft. Margaret Atwood hat mit Der Report der Magd ­eine düstere Dystopie mit Bezügen zur Realität gezeichnet. ­Gibt es dennoch Hoffnung?

Ein Stuhl, ein Tisch, eine Lampe. Aus diesen drei Dingen besteht ­das Mobiliar des Zimmers von Offred, der Magd, die im Hause ­des Kommandanten Fred Waterford leben muss. In der nahen Zu­kunft haben Umweltverschmutzung und radioaktive Strahlung viele Men­­schen unfruchtbar gemacht. Diese Krisenstimmung nutzt eine politische ­Gruppe, um gegen die US-amerikanische Regierung zu putschen und den christlich-fundamentalistischen Gottesstaat Gilead zu errichten. Nun leben die Menschen dort in einem strengen Kastensystem. Jede Form von Queerness wird bestraft, jeder Widerstand niedergeschlagen. Die sogenannten Mägde – ehemals Frauen, die ein normales Leben mit Freunden und Familie geführt hatten und Berufen nachgingen – werden in Umerziehungscamps auf ihre einzige Aufgabe vorbereitet: Den Fami­lien der Kommandanten Kinder zu gebären. Wer sich weigert oder gegen die neue Ordnung verstößt, wird in die verseuchten Kolonien ­geschickt oder hingerichtet.

Die Magd I

Mit ihrem 1985 erschienenen Roman Der Report der Magd erlangte die kanadische Schriftstellerin Margaret Atwood internationalen Ruhm. Offensichtlich hat ihre Erzählung um das Leben der Protagonistin Offred im dystopischen Staat Gilead viele Menschen berührt. Ihre Schilderung der Gewalt eines Systems gegen Frauen kam vielen Menschen vertraut vor und ist heute so aktuell wie damals. In einem Interview sagte Atwood: »Nichts, was ich beschrieben habe, ist nicht schon bereits passiert und nichts, was wir aufbauen, hat es nicht bereits gegeben.«

Atwood schrieb die Erzählung in den siebziger Jahren. Ihre düstere Inspiration fand sie in der Erstarkung der christlichen Rechten in den USA und der Einschränkung der Rechte von Frauen im Zuge der Islamische Revolution im Iran 1979. Atwood bezieht sich aber auch auf historische Ereignisse wie die Hexenprozesse von Salem, das Alte Testament, die Scharia, die Polygamie im Mormonentum und im Islam sowie die Praktiken der christlichen Charismatiker-Sekte People of Hope. Ihr Roman ist eine klassische Dystopie. Ein düsteres Bild der Zukunft, die uns erwartet, wenn wir die Vorwarnungen in der Gegenwart ignorieren.

Die Mägde werden in Gi­lead als Besitztum nach ihrem Kommandanten be­nannt (Offred = of Fred). ­In der deutschen Übersetzung heißt sie deswegen
auch Desfred. Ihr echter Name aus Vor-Putsch-Zei­ten wird im Roman nur angedeutet.

Literarische Utopien von Frauen in der Geschichte

Schon immer haben einschneidende Umwälzungen in Technologie und Gesellschaft Autorinnen in ihrer Beschreibung wünschenswerter oder zu vermeidender Zukunftsräume geprägt. Gerade im 17. Jahrhundert war die neue Welt, das verheißungsvolle Amerika, die Projektionsfläche utopischer Vorstellungen. Viele der utopischen Texte aus dieser Zeit eint die Vorstellung, dass die neu entstehenden Gesellschaften in den Kolonien gerechter und menschlicher werden würden als die der alten Welt, als die in Europa. Natürlich nur aus der Perspektive weißer europäischer Autorinnen, deren Vorstellungen von rassistischen Stereotypen geprägt waren.

Während der Industrialisierung spiegelten Utopien die Begeisterung über den technologischen Fortschritts dieser Zeit wider. Und sie hatten bereits eine feministische Perspektive. Die bengalische Schriftstellerin Rokeya Sakhawat Hossain beschreibt 1905 in Sultana’s Dream eine von Frauen regierte Welt, in der die hochgebildeten Frauen alle Arbeit innerhalb von zwei Arbeitsstunden pro Tag verrichten – ihre Männer müssen zu Hause bleiben. Eine perfekte Utopie: Durch das Studium der Natur­wissenschaften haben diese Frauen technische Neuerungen wie Flug­taxis oder eine sonnenbetriebene Waffe entwickelt, die den Weltfrieden garantiert.

Einer der ersten von einer
Frau beschriebenen Uto­pien
stammt aus dem Mittelalter.
Christine de Pizane schrieb in
1405 Die Stadt der Frauen ein
Lesebuch der vergessenen
Frauen aus der Ge­­schichte,
mit deren Hilfe sie in ihrer
Erzählung als Prota­gonistin
eine neue Stadt aufbaut.

Nichts, was ich beschrieben habe, ist nicht ­schon bereits passiert und nichts, was wir auf­bauen, hat es nicht bereits gegeben.

Margaret Atwood

Mit Beginn des 20. Jahrhunderts kamen in der Literatur mehr Dystopien auf. Die Weltkriege hatten deutliche Spuren im kollektiven Gedächtnis der Autorinnen hinterlassen. Katharine Burdekin beschreibt in Nacht der braunen Schatten (1937) eine düstere Zukunft, in der Nazi­deutschland ­den Krieg gewinnt und Frauen zu Gebärmaschinen degradiert werden. Karin Boye skizziert in Kallocain (1940) einen totalitaristischen Über­wachungsstaat – acht Jahre vor George Orwell mit seinem Roman 1984.

Die Magd II

Das Leben der Menschen in Gilead wird streng überwacht. Wer revolutionäre Gedanken hegt, weiß nicht, wem man trauen kann. Überall lauern Spitzel. Frauen dürfen weder lesen noch schreiben und müssen sich stets den Männern unterordnen. Die Farbe ihrer Kleidung zeigt ihren Status innerhalb der Gesellschaft auf. Die Ehefrauen der Kommandanten tragen blau, die Kleidung der Bediensteten ist unauffällig grau, die Mägde müssen ­rot tragen.

Nacht der braunen Schatten
Mit ihrer Erzählung sagte Katharine Burde­kin zwei Jahre vor Ausbruch des zweiten Weltkrieges den Holocaust, den Angriff Nazi-Deutschlands gegen die Sowjetunion und den Angriff Japans auf die ­USA voraus.

Die Mägde auf den Straßen New Yorks

Im Jahr 2017 erschien Der Report der Magd als Serie. Zum ihrem Start ­ahnte wohl niemand, dass es das Jahr werden würde, in dem Hollywood und die Welt von #MeToo erschüttert würde. Tausende demonstrierten auf den Straßen New Yorks gegen die Kultur, die den systematischen sexuellen Missbrauch an Frauen ermöglichte, und an deren Spitze der damalige US-Präsident selbst frauenfeindlich sprach. Aus der Masse stachen Gestalten in roten Gewändern mit weißen ­Papierhauben heraus: Sie trugen Kleidung ähnlich derer aus der Serie. Die Bilder von den Mahnwachen der Mägde gingen um die Welt. Die rote Robe wurde zum Symbol der #MeToo-Proteste.

Alles, was es schon einmal gab, kann es wieder geben

Das zeigt, dass Dystopien nicht erst in der Zukunft real werden. Das frauen­verachtende System aus Atwoods Erzählung hat es bereits ge­geben – und es existiert teilweise auch heute. Das zeigen Beispiele aus so unterschiedlichen Staaten wie dem Iran und den USA.

Im Juni 2022 wurde die Grundsatzentscheidung Roe vs. Wade, die in den USA das Recht auf Abtreibung geschützt hatte, vom Supreme Court außer Kraft gesetzt. Sechs Monate später haben 24 von 49 US-Bundesstaaten Schwangerschaftsabbrüche unter Strafe gestellt. Das gilt auch für Frauen, die nach einer Vergewaltigung schwanger geworden sind. Im theokratischen Iran hat die Ermordung Mahsa Aminis durch die Sittenpolizei Massenproteste ausgelöst. Sie wurden brutal niedergeschlagen, viele Hundert Menschen erschossen.

Die Magd III

In Atwoods Roman versucht die Magd Offred vergeblich, die Untergrundorganisation Mayday zu kontaktieren. Und sie weiß, dass irgendwo in ­Gilead ihre Tochter aufwächst, die sie wahrscheinlich nie mehr sehen wird. Zwischen dem Intrigenspiel des Kommandanten und seiner Ehefrau psychisch aufgerieben, liegt sie eines Tages auf dem Boden ihrer Kammer. Sie kennt das Zimmer gut. Ein Stuhl, ein Tisch, eine Lampe. Auf der Wand ihres Kleiderschranks findet sie einen Satz eingeritzt, den wohl
ihre Vorgängerin hinterlassen haben muss: »Nolite te bastardes carborun­dorum«. Später erfährt sie, dass der Satz auf lateinisch ungefähr besagt: »Lass dich von den Dreckskerlen nicht unterkriegen.«

Die Serie spinnt die Geschichte von Offred über die Handlung des Romans hinaus. Sie erzählt vom Widerstand einer Frau, deren Willen nicht gebrochen werden kann. Und die Verbündete findet. Hoffnung gibt auch die Rahmenhandlung, die sowohl im Roman Der Report der Magd wie auch in dessen Nachfolgeroman Die Zeuginnen die Erzählung einbettet. Die Romane beginnen und enden mit einem ­Geschichts‐Symposium. Das Tagebuch Offreds dient hier als historische Quelle. Es wird deutlich, dass Gilead untergegangen ist.

Wenn in diesem Text von ­der Diskriminierung von Frauen in totalitären Staa­ten ge­sprochen wird, be­trifft diese oft ebenfalls queere, trans- oder non-bi­näre Menschen.

Warum die Dystopie die bessere Utopie ist

Warum so viel Dystopie hier? – Weil eine positive Utopie selten als Bau­anleitung für eine bessere Welt taugt. Sie bleibt als Vision unerreichbar. Daher spielt die Utopie oft in einer abgekapselten, kaum erreichbaren Zwischenwelt: Ob im Traum (Sultana’s Dream), als verborgene Kultur im Amazonas (wie in Charlotte Perkins Gilmans Herland) oder auf einem fremden Planeten (Ursula K. Le Guins The Dispossesed).

Abgesehen davon, dass eine Welt, in der alles perfekt läuft, selten eine spannende Geschichte hergibt, greift die Dystopie das auf, was in der Gegenwart bereits schief läuft und legt sie unter ein Brennglas. Sie zeigt auf, was passiert, wenn wir die uns gegebenen Rechte als selbstverständlich ansehen, wenn wir vergessen, für mehr Gerechtigkeit zu kämpfen.

Die Dystopie ist die Anleitung dafür, wie die Zukunft nicht werden darf. Der Wandel in der echten Welt ist zäh: #MeToo, Frauen in Führungspositionen, die Abschaffung des Paragrafen 219a StGB. Aber er ist notwendig. Auf dass einen die Dreckskerle niemals unterkriegen mögen.

Text: Dora Midré

Illustration: Noemi Fabra Pallàs

Weiterlesen

“Der Report der Magd”: Originaltitel: “The Handmaids Tale”. Margaret Atwood. Piper Taschenbuch, 1985. (Zum Buch)

“Die Zeuginnen”: Daisy wächst behütet in Kanada auf, als sie erfährt, dass ihre Familie ihr die Wahrheit über ihre Vergangenheit in Gilead verschwiegen hat. Die Handlung spielt etwa 15 Jahre nach den Ereignissen aus Der Report der Magd. Originaltitel: “The Testaments”. Margaret Atwood. Piper Taschenbuch, 2019. (Zum Buch)

“Literarische Utopien von Frauen vom 15. bis 20. Jahrhundert”: Ein Lesebuch über die Utopien der Geschichte, die von Frauen verfasst wurden. Das Buch enthält auch die vollständige Erzählung “Sultana’s Dream” von Rokeya Sakhawat Hossain. Christiane Wyrwa. Scaneg Verlag, 2021. (Zum Buch)

“Y – The Last Man”: Die prämierte Graphic Novel beschreibt eine postapokalyptische Welt, in der innerhalb kürzester Zeit alle Lebewesen mit einem Y-Chromosom sterben. Es überleben nur ein junger Mann und sein männliches Kapuzineräffchen. Die Serie zum Comic läuft bei Disney+. “Y: The Last Man” von Brian K. Vaughn, gezeichnet von Pia Guerra. Panini Dino Verlag, 2007. (Zum Buch)

Streamen

“Der Report der Magd”: Die preisgekrönte Serie zum Buch mit Elizabeth Moss in der Hauptrolle. Bei fast allen größeren Streaming-Anbietern verfügbar.

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