"Marche republicaine", 11.01.2015, Paris

Es bleiben nichts als Fragen

CC BY petit_louis/flickr
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Darf ich bedingungslose Solidarität mit Charlie Hebdo zeigen? Weil es eine Attacke auf ein Symbol der Pressefreiheit war? Muss ich bedingungslose Solidarität zeigen, obwohl Charlie Hebdos Karikaturen die schwarze Justizministerin als Affe portraitierten, obwohl die Karikaturen  zwar alles durften, aber wenig respektierten? Kann das Maß irgendwann voll sein? Sollte ich für diese Menschen, für manche skrupellose Hetzer, für andere furchtlose Aufklärer, Flagge zeigen? Was sagt es, wenn ich #JeSuisCharlie sage? Muss ich, wenn ich um Charlie trauere, auch um Ahmed trauern? Sollte ich um Ahmed trauern? Darf ich trotzdem trauern, weil die Ereignisse in Frankreich tatsächlich nur als unmenschlicher Akt der Barbarei zu bezeichnen sind? Was hat das alles mit mir zu tun?

Wann sollte ich meinen Mitmenschen, den Medien, der Politik anfangen zu misstrauen? Wann dürfen wir nach dem Schock, nach der Trauer debattieren, wie derartige Taten in Zukunft zu verhindern sind? Sollten wir das überhaupt? Können himmelschreiende Ungerechtigkeiten und Ungleichheiten in der bundesdeutschen Bildungspolitik, brutales Vorgehen der israelischen Politik in Gaza und rechtspopulistischer Hass nach dem Vorbilde Sarrazins wirklich erahnen lassen, gar erklären, warum ein Mensch zum Unmensch wird?

Wird ein Schweigemarsch verunmöglicht, wenn solche mitschweigen, die die Freiheit, die sie vorgeben zu betrauern, mit Füßen treten? Die Journalistinnen und Aktivisten einsperren, verfolgen, misshandeln? Oder wenn solche mitschweigen, die politisches Kapital daraus ziehen wollen? Heiligt der Zweck das Marschieren neben Menschen, die ich eigentlich verabscheue? Ist Solidarität in Einheit tatsächlich ein Wert an sich?

Darf ich trauern, und öffentlich bekunden, dass Terror durch nichts zu rechtfertigen ist, ohne dabei den Falschen in die Hände zu spielen, die wie einst 2001 „nationale Einheit“ beschworen, um reibungsloser in den Krieg ziehen zu können?

Sollte ich in Debatten beteuern, dass der Islam eine friedliche und liebevolle Religion ist, und damit vielen archaischen Auslegungen, die wenig mit ijtihad, einer kritischen Schriftauslegung des Koran zu tun haben, die Absolution erteilen? Oder sollte ich lieber anmerken, dass viele muslimische Jugendliche mit einer Angstpädagogik aufwachsen, wie Ahmad Mansour sagt, dass Kinder mit einem Gott aufwachsen, der mit Himmel, Hölle und Strafe droht und keine Zweifel an seinem Wort im Koran zulässt? Würde ich damit nicht aber denjenigen Futter geben, die nur Hass säen, Angst und Paranoia verbreiten und vor der Islamisierung des Abendlandes warnen?

Sollte ich die Ereignisse in Paris als islamistischen Terror bezeichnen? Ist es relevant, dass es einen „islamistischen“ Hintergrund gab, mit Verbindung zur Al-Qaida-Filiale auf der Arabischen Halbinsel und dem Islamischen Staat in Syrien? Oder ist es einfach nur Terrorismus, bei dem Motive und Überzeugungen Nebensache sind? Ist die „Islamisierung des Anderen“ nicht viel mehr das Problem? Erliege ich nicht damit der Versuchung, Gegensätze zu konstruieren, wo eigentlich keine sind? Ist die Idee, den Generalverdacht gegen Muslime entkräften zu wollen nicht an sich schon problematisch, weil sie sagt: Muslime müssten sich jetzt erklären? Müssen sich “Christen” denn für alle Übel dieser Welt – von IRA über Pegida bis Guantanamo und Abu Ghraib – etwa auch erklären? Und muss ich jetzt allen gegenüber solidarisch sein? Den bedrohten Muslimen, der absteigenden Mittelschicht (weil sie gegen das neoliberale „Kapital“ verliert), den Zeitungsverlegern, den Juden, den Franzosen, den Humanisten, den Familien?

 

Und: Ist der einzige Ausweg die Liebe? Liebe für Charlie Hebdo und Frankreichs Muslime, weil sie jetzt Opfer von immer mehr Hass werden? Aber auch für die, die sich abschotten wollen und im Gestern verharren? Auch für die, die Israel von der Landkarte tilgen wollen, Homosexuelle heilen und Humanismus für einen Verfall der guten Sitten halten?

Wir bei transform haben eigentlich den Anspruch formuliert, für den Wandel zu inspirieren. Aufzuzeigen, wo viele nur analysieren. Auszuprobieren, wo andere nur abstrakt bleiben. Doch heute, heute bleiben mir nichts als Fragen.

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