Die Europäische Union steht unter gewaltigem Druck. Doch ist sie weit mehr als Bürokratiemonster, Währungsraum oder Stabilitätsanker. Wenn wir die Idee weiterentwickeln, könnten wir ein Alternativmodell zum Nationalstaat entwickeln. Ein Schritt zu einer global kooperierenden Welt.
Der Staatenbund Europas entstand aus einem Wirtschaftsbündnis, der sogenannten Montanunion. Sie hat sich allerdings schnell weiterentwickelt zu einer Friedensgemeinschaft, die den europäischen Kontinent bis heute vor Kriegen bewahrt. Um der Europaskepsis und Ausländerfeindlichkeit der rechtspopulistischen Strömungen zu begegnen, sollten wir uns darauf besinnen, woher und zu welchem Zweck der europäische Staatendbund existiert.
Europa ist nach Australien der zweitkleinste Kontinent. Europa beherbergt viele Städte mit ganz eigener Geschichte wie Dublin oder Helsinki im Norden und Thessaloniki oder Lissabon im Süden.
In der Mitte liegen Paris, Stuttgart oder Budapest. In Europa leben 500 Millionen Menschen, die unterschiedliche Sprachen sprechen und aus unterschiedlichen Kulturen stammen: Die einen essen lieber Pizza, die anderen lieber Hering, es gibt unterschiedliche Trachten und Bräuche, sehr viele verschiedene Käsesorten und ganz unterschiedliche Häuser. Im Norden bestehen diese oft aus Backstein und im Süden eher aus Sandstein. Es gibt verschiedene europäische Regionen, die ihre eigene Identität haben: zum Beispiel die Bretonen, die Böhmer, die Tiroler, die Bayern, die Katalanen, die Schotten und viele, viele mehr.
Trotz dieser kulturellen Unterschiede verfolgen die Europäer die gleichen Ziele und vertreten die gleichen Werte. Diese Werte sind Freiheit, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte und eine soziale Marktwirtschaft. Man nennt sie die Werte der europäischen Aufklärung.
Um diese Werte verwirklichen zu können, haben die Europäer eine Europäische Republik gegründet. Träger dieser Republik sind die Regionen. Es gibt einen Senat, ein Repräsentantenhaus und einen Präsidenten. Die Regionen entsenden jeweils zwei Senatoren in den europäischen Senat, welche über die politischen Ziele Europas diskutieren. Außerdem gibt es ein Repräsentantenhaus, in dem die Sitze gemäß der Einwohnerzahl der Regionen vergeben werden.
Das nennt man ein Zweikammersystem und man findet dieses in fast allen Ländern der Welt. Gleichzeitig wählen alle Europäer einen Präsidenten, der an der Spitze der Europäischen Republik steht und diese nach außen vertritt. Dieser Präsident trifft sich dann beispielsweise mit den anderen Präsidenten der Welt.
Die Europäer sind stolz darauf, als erste in der Welt eine „postnationale“ Demokratie entwickelt zu haben. Eine „postnationale Demokratie“ ist eine Demokratie, in der nationale Grenzen überwunden worden sind und jeder europäische Bürger, egal, wo er hingeht, die gleichen politischen Rechte und Pflichten hat.
Entstehungsgeschichte
Früher war es nicht so einfach. Früher hatte es Nationalstaaten gegeben. Manche Staaten waren größer und wichtiger als die anderen und immer ging es um die Frage, wie man am meisten für die eigene Nation herausholen kann. Es gab viel Konkurrenz und Gerangel. Weil es neben der europäischen Ebene und der regionalen Ebene noch die nationalstaatliche Ebene gab, wusste man nie genau, wen man bei einem bestimmten Problem kontaktieren soll. Dennoch hat man sich lange Jahre an den Nationalstaat geklammert.
In der ganzen Welt wurde darüber gespottet, dass sich die Europäer immer über Kleinigkeiten gestritten haben. Viel schlimmer aber war, dass man die Europäer deswegen immer in die Enge treiben und austricksen konnte, weil sie ständig mit ihren nationalen Streitigkeiten beschäftigt waren und nicht zusammenarbeiten wollten. Das hat den Europäern enorm geschadet und sie letztlich auch viel Geld gekostet, weil sie viele Dinge doppelt und dreifach gemacht haben.
Heute ist in Europa die Nationalität nicht mehr wichtig. So haben die Gründungväter Europas das auch gewollt. Jean Monnet hat einmal gesagt: „Europa, das heißt nicht, Staaten zu integrieren, sondern Menschen einen.“ Viele haben gesagt: „Aber das geht doch nicht.“
“Cancel the but”
Alle wollten Europa, aber immer gab es ein Aber: Aber die Völker sind noch nicht reif dafür. Aber die Völker sind zu unterschiedlich. Aber, aber … Doch dann kam eine junge Generation, die gesehen hat, dass die Unterschiede in Europa gar nicht so groß sind. Und so trat sie entschlossen für ein Europa jenseits von Nationen ein, ein Europa, in der das Politische wichtiger ist als das Nationale. „Cancel the but“, haben diese jungen Leute gesagt. Sie wollten einfach Europa machen; und Europa einfach machen.
Sie haben auf ein Blatt Papier geschrieben, wie sie sich das vorstellen: 2025 Wahlrechtsgleichheit, 2035 steuerliche Gleichheit und 2045 gleicher Zugang zu sozialen Rechten. Millionen junger Menschen in hunderten europäischen Städten haben für diese Forderungen demonstriert und aus diesen Demonstrationen erwuchs eine wichtige politische Bewegung. Diese setzte dann schließlich die europäische Verfassung durch – eine Verfassung, an die sich Europa seitdem hält.
Europa, einfach gemacht
Kurz: Die europäische Demokratie wurde einfach so gemacht, wie zuvor die nationalen Demokratien gemacht worden waren. Dabei befolgte man den Grundsatz der allgemeinen politischen Gleichheit für alle Bürger und das Prinzip der Gewaltenteilung – eigentlich sind das Binsenweisheiten für alle Demokratien. Das war der Augenblick, den der deutsche Historiker Theodor Schieder schon 1963 vorhergesehen hat: „Aber in dem Augenblick, in dem für uns der Nationalstaat ein historisches Phänomen geworden ist, sind wir für die Gegenwart und für die Zukunft im Grunde schon über ihn hinausgewachsen.“
Heute haben die Europäer es ganz einfach. Sie haben eine einheitliche Wirtschaftsordnung mit einer einheitlichen Währung, einheitlichen Steuersätzen und einheitlichen Sozialleistungen; sie haben eine gemeinsame Armee, eine einheitliche Umwelt- und Energiepolitik und auch eine einheitliche Strategie im Umgang mit digitalen Daten. Streitbar sind die Europäer noch immer, gerade wenn es um die Gestaltung der Regionen geht, in denen sie leben. Also um ihre nähere Umgebung und all das, was sie unmittelbar betrifft.
Sobald es aber um die Wurst geht – und nicht etwa um Leberwürste, Gurken oder Glühbirnen – spricht Europa mit einer Stimme. Dann verteidigen die Europäer ihre Werte mit ganzer Kraft. Sie sind gleich, sie sind solidarisch, sie sind stark. Sie sind einfach Europa.
Dieser Artikel von Ulrike Guérot ist erstmals in der agora42 3/2017 EINFACH LEBEN erschienen. agora42 ist das philosophische Wirtschaftsmagazin und folgt dem Motto: Das Ganze denken, um das Eine zu verstehen.
Ulrike Guérot ist Gründerin und Direktorin des European Democracy Labs an der European School of Governance in Berlin und seit 2016 Professorin und Leiterin des Departments für Europapolitik und Demokratieforschung an der Donau-Universität Krems/Österreich. Zuletzt von ihr erschien Der neue Bürgerkrieg. Das offene Europa und seine Feinde (Ullstein Verlag, 2017).
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