Was der Nationalsozialismus mit Sauberkeit zu tun hat

Dieser Text handelt von der Ideologie der sauberen und reinen Gesellschaft, wie sie im nationalsozialistischen Deutschland propagiert und gelebt wurde. Und davon, was die aufgeklärte Gesellschaft gegen ihre Einflüsse in der Gegenwart tun kann.

Jedes Jahr am 27. Januar jährt sich die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz – ein Tag, an dem die Bundesrepublik Deutschland innehält, um sich ihrer Geschichte bewusst zu werden. Ein Tag, an dem die Opfer des Nationalsozialismus im Zentrum des politischen Geschehens stehen, um dem Vergessen eine Grenze zu setzen. Opfer, die vom nationalsozialistischen Deutschland der 1930er- und 1940er-Jahre gefoltert und getötet wurden, weil sie in der nationalsozialistischen Ideologie als » lebensunwert « und » unrein « bezeichnet wurden. Im Fokus dieser Vernichtungsideologie standen die etwa 11 Millionen Jüd:innen Europas, für die im nationalsozialistischen Deutschland die » Endlösung « gefunden werden sollte.

Das Ziel der menschenverachtenden Ideologie der » Rassenhygiene « war und ist der » gesunde Volkskörper «. Die Nazis propagierten ein Menschenbild, das vom Gegensatz zwischen dem vermeintlich schönen, gesunden und sauberen » Volkskörper « und » rassisch minderwertigen « oder » erbkranken « Einflüssen gekennzeichnet war. Der nationalsozialistischen Bewegung reichte es aber nicht, die deutsche Bevölkerung bloß theoretisch in gut und schlecht einzuteilen. Ihr Ziel war die Umsetzung dieses Ideals für die ganze Welt.

Blickt die gegenwärtige Gesellschaft auf diese Zeit, so grenzen sie sich häufig reflexartig davon ab. So als wäre die Gegenwart gegen Antisemitismus und Rassismus immun, weil Gegenwartsmenschen auf eine schlimme Zeit in der Vergangenheit zurückblicken können. Doch sind wir als Gesellschaft gegen Antisemitismus und Vernichtungsgedanken immunisiert, nur weil auf dem europäischen Kontinent eines der größten Verbrechen der Menschheit stattgefunden hat?

Entnazifizierung, wo bist du?
Zahlreiche Nazis blieben bis zu ihrem Tod in Amt und » Würden «, in Parteien, Universitäten oder dem Verfassungsschutz. Der Rektor der Uni München und SS-Oberführer Walther Wüst etwa, der 1943 Sophie und Hans Scholl verhörte und sie der Gestapo ausgehändigte, bekam 1951 seine Professorentitel zurück. Er lehrte noch bis 1983 an der Uni Erlangen-
Nürnberg. Seine Überzeugungen blieben. Die Student:innen nannten ihn » Rassen-Wüst «

Wie sieht es aus, wenn Ideale der Gegenwart – Gesundheit, Schönheit und Sauberkeit – als Ideale der vergangenen, finsteren Zeiten beleuchtet werden? Welche Lehren können wir aus der Vergangenheit ziehen, wenn wir heute über Gesundheit, Schönheit und Sauberkeit sprechen?

Die saubere Gesellschaft?! – Irrweg » Rassenhygiene «

Auf den ersten Blick haben die oben genannten Begriffe wenig mit dem Thema der » Rassenhygiene « der Nationalsozialist:innen zu tun. Jedoch zeigt sich bei näherer Betrachtung, dass das heutige Ideal der Sauberkeit nicht weit entfernt ist von der nationalsozialistischen Vorstellung einer » sauberen « und » reinen « Gesellschaft.

Das Konzept des » gesunden Volkskörpers « war die Grundlage für einen Großteil der Taten der Nationalsozialist:innen. Vordergründig ging es um die Vertreibung und Vernichtung größerer Bevölkerungsgruppen, die als geistige oder genetische » Verunreinigung « des » Volkskörpers « angesehen wurden. Aus der Gesellschaft ausgestoßen, verfolgt und ermordet wurden Jüd:innen ebenso wie Kommunist:innen oder Menschen mit Behinderung.

In einem weiteren Schritt nach und während der Vertreibung und Vernichtung ging es um die Verteilung des Raums für die Nationalsozialist:innen. Damals wie heute propagier(t)en völkische Siedler:innen das » Volk ohne Raum «. Dieser Ausdruck stammt aus der Kolonialpolitik Deutschlands des späten 19. Jahrhunderts und implizierte, dass Deutschland als eines der größeren Industrieländer der Welt einen Anspruch auf mehr Land habe. Die Nationalsozialist:innen übernahmen den Begriff früh in ihr politisches Programm. So hieß es bereits 1920 unter Punkt 3 des Parteiprogramms der NSDAP: » Wir fordern Land und Boden (Kolonien) zur Ernährung unseres Volkes und Ansiedlung unseres Bevölkerungsüberschusses. « Dieses Land sahen die Nationalsozialist:innen nicht mehr auf dem asiatischen und afrikanischen Kontinent, wie es Kolonialisten vor ihnen taten, sondern auf dem europäischen. Die Eroberung von Land und Boden wurde zu einem zentralen Motiv der Nationalsozialist:innen und hat den zweiten Weltkrieg fundamental angetrieben, der mehr als 60 Millionen Menschen das Leben kostete.

Im Anschluss an die Eroberungen während des Krieges folgte die Herrschaft der Nationalsozialist:innen über die von ihnen als » minderwertig « deklarierten Bevölkerungsgruppen (Slaw:innen, Jüd:innen, People of Color), welche im Rechtsverständnis der Nationalsozialist:innen keinen Anspruch auf Eigentum hatten. Die » Nationalsozialistische Volkswohlfahrt «, eine Art nationalsozialistische » Soziale Arbeit «, sorgte beispielsweise dafür, dass deutsche Familien im besetzten Polen ansässig werden konnten. Dafür machten die sogenannten » braunen Schwestern « in den Häusern und Wohnungen der Vertriebenen, Deportierten oder Getöteten sauber, um die Wohnungen vom Dreck der polnischen und jüdischen » Auswanderer « zu reinigen. Erst dann war das eroberte Land inklusive Eigentum für » Volksdeutsche « bezugswürdig.

Dieser Text ist Teil unserer achten Ausgabe. In der geht es um Schmutz und Sauberkeit in allen gedanklichen Dimensionen, Phantasien, Putzkollektive und Lösungen für einem saubere Umwelt. Abgerundet wird das Ganze mit Tips für das Gute Leben, garniert mit einem Spritzer Rebellion.

» Gesellschaft für Rassenhygiene «

Die Nationalsozialist:innen waren nicht die ersten, die über den » gesunden, sauberen, höherwertigen und reinen Volkskörper « schwadronierten. Bereits 1905 gründete Alfred Ploetz die » Gesellschaft für Rassenhygiene « in Berlin. Ploetz war in jüngeren Jahren Sozialist in Zürich, distanzierte sich später davon und wurde Anhänger des Sozialdarwinismus und Nationalsozialismus. Er begrüßte die Machtübergabe an die Nationalsozialist:innen und arbeitete intensiv am » Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses « mit.

Braune Schwestern
Sollten das nationalsozialistische Gedankengut in der Bevölkerung verbreiten und die » Gesundheitsführung « übernehmen.

Das Ziel der » Gesellschaft für Rassenhygiene « und ihrer Gründer wie Alfred Ploetz war » die Erhaltung der wertvollen Erbstämme in allen Volksschichten“ und » die Fortpflanzung von Menschen, von denen minderwertiger Nachwuchs zu erwarten ist, möglichst zu verhüten «. Das führende Personal und ein Großteil der Mitglieder der Gesellschaft setzten ihre Hoffnungen für die Umsetzung dieser Leitsätze in die Nationalsozialist:innen.

Ab 1933 zählten Alfred Ploetz und einige weitere Mitgründer der » Gesellschaft für Rassenhygiene « schließlich zum » Sachverständigenbeirat für Bevölkerungs- und Rassenpolitik « der ersten Regierung Hitler, was nicht nur mit ihrer ideologischen Nähe zusammenhing, sondern auch damit, dass Ploetz und Gleichgesinnte zu den ersten Gratulant:innen Hitlers gehörten. Als dieser die Macht erhielt, ging es schnell: Das eben erwähnte » Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses « wurde bereits am 14. Juli 1933, kein halbes Jahr nach der Machtübergabe an die Nationalsozialist:innen, verabschiedet und führte zur Ermordung von 300.000 Menschen mit Behinderung und chronisch Kranken. Die Konsequenzen der » Rassenhygiene « waren also Mord, Vertreibung, Deportation und Vernichtung.

Hygiene, Sauberkeit und Reinheit waren zentrale Begriffe im nationalsozialistischen Deutschland und der Propaganda, wodurch die damalige Bevölkerung der großen Lüge von einer » reinen und starken Rasse « verfallen war. Wichtig ist, anzuerkennen, dass sich diese Gedanken viel früher in der damaligen Wissenschaft und Zeitungslandschaft geäußert hatten und sich die Lehre der » Rassenhygiene « als Konsens im politischen und wissenschaftlichen Milieu durchgesetzt hatte. Matthias Kessler bringt es in seinem Buch » Eine Abrechnung « von 2015 auf den Punkt: » Dass diese Auswürfe einmal tatsächlich als populäre sozialwissenschaftliche Theorie galten, ist schwer erträglich. « Was folgt aus alledem?

Wieso ist das Thema so relevant?

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier sprach 2022 am Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus im Konzentrationslager Sachsenhausen. Er begab sich im Rahmen seiner Rede auf die Suche nach den Ursachen für die systematische und massenhafte Tötung der Menschen, die in Sachsenhausen ums Leben gebracht wurden. Seine Antwort auf all die Fragen, die sich aus dem Schrecken der Jahre 1933 bis 1945 ergaben, fällt ernüchternd aus: » Sie wurden hier in Haft genommen, weil sie politische Gegner des Regimes waren, weil sie jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger waren, weil sie den Sinti und Roma zugerechnet wurden, weil sie Homosexuelle waren oder weil sie Kriegsgefangene waren. «

Steinmeier hätte ergänzen können, warum sie aus Sicht des NS-Regimes getötet werden mussten: weil sie als etwas Dreckiges, Unreines und Krankes galten. Ja, die Opfer des Nationalsozialismus waren Mitbürger:innen der Deutschen, aber ihre Staatsbürger:innenschaft war nicht der Grund für ihre Ermordung, sondern dass ihnen ihre Würde aufgrund biologischer Merkmale abgesprochen wurde, obwohl sie die deutsche Staatsbürger:innenschaft besaßen. Ihnen wurde ihr Menschsein abgesprochen.

Die Gesellschaft, in der wir alle gemeinsam leben, kennt eine bestimmte Form des » Perfekten «, die in der Werbung als haarloses, weißes schlankes oder muskulöses Wesen ihren Ausdruck findet. Dieses » perfekte « Wesen ist sauber, rein und gesund. Oder anders ausgedrückt: nicht-dreckig, nicht-divers und nicht-krank. Diese Ideologie des Perfekten hat keinen Mord zur Folge. Jedoch werden dadurch Menschen, die diesem Ideal nicht entsprechen, benachteiligt oder diskriminiert. In der Gesellschaft gibt es eine Kontinuität der defizitären Auslegung der Begriffe Sauberkeit und Hygiene, die gegen einzelne Bevölkerungsgruppen gerichtet sind. Gesund und sauber ist gut, krank und dreckig ist schlecht. Diese Auslegung trifft bestimmte Gruppen besonders hart: So gelten Menschen mit Behinderungen häufig als » krank «, obdachlose Menschen als » dreckig « oder nicht-hetero Menschen als anfälliger für sexuell übertragbare Krankheiten. Jede:r von uns hat solche Formulierungen bereits im eigenen Umfeld gehört. Es ist ein Irrtum zu denken, dass die Benachteiligung und Diskriminierung von nicht-perfekten Menschen mit dem Ende des Nationalsozialismus sein Ende fand.

Geschichte und Gegenwart

Zusätzlich gibt es in der heutigen Zeit faschistische Parteien, genannt sei hier nur die AfD, die Bürger:innen aufgrund ihres Aussehens und ihrer biologischen Abstammung ihr Sein als vollwertige Bürger:innen absprechen und diesem Denken Vorschub leistet. So stellte sie 2018 eine kleine Anfrage im Deutschen Bundestag, die Behinderungen in eine Verbindung mit Migrationshintergrund und Inzucht setzte. Gleichzeitig wird eine Behinderung damit als » krank « und » unnatürlich « bezeichnet, die sich über Gene überträgt und mit Inzucht zunimmt. Was ebenfalls unlogisch ist, denn Inzucht ist zum einen illegal und zum anderen wird » Behinderung « sozial gemacht oder kann im Laufe eines Lebens jedem Menschen widerfahren. Außerdem leben in Deutschland über 13 Millionen Menschen mit Behinderungen, von denen 94 Prozent die deutsche Staatsbürger:innenschaft besitzen, was dem Denken der AfD einen Strich durch die Rechnung macht.

Leider steht die AfD gesellschaftlich nicht allein mit ihrem unsozialen Blick, denn auch in größeren Teilen der Bevölkerung ist das Bild der » ungesunden Menschen mit Behinderungen « weit verbreitet wie oben beschrieben.

Diesen Parteien und Bevölkerungsteilen gilt es, auch im Spiegel des vorliegenden Themas, vehement zu widersprechen. Alle Menschen sind gleichwertig und haben ein Recht auf Leben. Nicht ohne Grund lautet Artikel 1 des Grundgesetz: » Die Würde des Menschen ist unantastbar. « Nicht die Würde des sauberen, gesunden und perfekten Menschen, sondern des Menschen.

Und genau dafür sollten wir als aufgeschlossene und progressive Bevölkerung kämpfen.

Text: Derviş Dündar

Bild: Karsten Winegeart on Unsplash

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Helfen und Vernichten: » Volkspflege « im Dritten Reich. Anschaulich dargestellt, auch wenn schon etwas gealtert: Diese 1988 erschienenen Dokumentation des Hessischen Rundfunks von Norbert Westenrieder
transform-magazin.de/yt3

Quellen

Die Belasteten – Eine Gesellschaftsgeschichte
Götz Aly, S.Fischer Verlag, 2014

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