Alte Schönhauser Straße autofrei Berlin by Tom Meiser & Timo Schmid, CC BY-NC-SA 4.0
Alte Schönhauser Straße autofrei Berlin by Tom Meiser & Timo Schmid, CC BY-NC-SA 4.0

Komm, lass uns die Straßen befreien!

Wie sähe das Leben in einer (fast) autofreien Stadt aus? Das Manifest der freien Straße zeigt, dass Straßen viel mehr als nur Verkehrsflächen sind – wenn wir sie uns zurückholen.

Ich trete aus der Haustür auf den Gehweg der Bremer Friedrich‐Ebert‐Straße. Rechts von mir stehen E‐Gitarren und ein Schlagzeug. Eine Band, deren Mitglieder alle im selben Haus wohnen, spielt gleich ein Indie‐Rock Konzert. Auf den Parkplätzen am Straßenrand steht ein Sofa, daneben spielen einige Anwohner:innen Rundlauf um eine Tischtennisplatte. Auf der Straße hinter ihnen fahren Menschen auf Fahrrädern vorbei, die sich an anderen Tagen den Gehweg mit den Fußgänger:innen teilen müssen. Es ist viel ruhiger als sonst, ohne den üblichen Lärm­pegel der Motorengeräusche. Die Stimmung ist ausgelassen. Ich verbringe den ganzen Nachmittag mit meinen Freund:innen auf der Straße. Sie sind aus der ganzen Stadt gekommen. So habe ich vor einigen Jahren meinen ersten PARK(ing) Day erlebt. Einen Tag, an dem der Raum in der Friedrich‐Ebert‐Straße neu aufgeteilt wurde, an dem sie für einen Tag von Autos befreit wurde.

Überall Stehzeug

An allen anderen Tagen ist das Gegenteil der Fall. Seit 70 Jahren sind Verkehrsflächen maßgeblich auf PKW ausgerichtet. Auf Millionen privater Fahrzeuge, die eigentlich Steh­zeuge sind, weil sie mehr als 23 Stunden am Tag nicht von der Stelle bewegt werden. Das hat die Studie Mobilität in Deutschland 2017 festgestellt. Und vor allem stehen die meis­ten privaten Stehzeuge auf öffentlichem Grund – fast immer kostenlos. Wir haben uns so sehr an diese Ordnung gewöhnt, dass es schwer fällt, sich eine Alternative vorzustellen.

Aber was wäre, wenn wir die Funktion von Straßen ändern und den Platz neu aufteilen, so wie damals beim PARK(ing) Day in Bremen Welche Vorteile hätte das für die Gesellschaft und das Leben in Städten? Das habe ich für den Podcast Kieltopia Simon Wöhr gefragt. Er ist Mitglied der Allianz der freien Straße, welche das Manifest der freien Straße herausgegeben hat. Darin wird in sieben Thesen beschrieben, warum und wie wir unsere Stra­ßen von Autos befreien müssen.

Die Allianz der freien Straße ist ein Zusammenschluss bestehend aus der Denk­fabrik paper planes e. V., den Mobilitätsforschenden
am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung und Beteiligungsexpert:innen der Tech­nischen Uni­versität Berlin.

Die Gesundheitsthese

Weniger Autoverkehr macht die Menschen in Städten gesünder. Ist ja klar: Zu Fuß und mit dem Fahrrad unterwegs zu sein ist sicherer, wenn weniger Autos auf den Straßen fahren. Außerdem gibt es weniger Schadstoffe in der Luft und weniger Lärm. Davon profi­tieren insbesondere Menschen, die von Armut be­troffen sind und häufiger an viel befahre­nen Straßen leben. Die gerne in Wahlkampf­reden hervorgezauberte Krankenschwester mit wenig Ein­kommen braucht für den Weg zum Krankenhaus also gerade kein Auto und billigen Sprit, sondern Alter­nativen dazu.

Die Mobilitätsthese

Der Raum in Städten wird in viel zu hohem Maße als kostenloser Parkplatz verwendet. ­Für Wöhr und seine Mitstreiter:innen ist das ein fundamentales Missverständnis. »Echte Frei­heit beginnt jenseits unserer privaten Autos. Befreien wir uns von ihnen!«, schreiben sie i­m Manifest. Dafür brauche es die Mobi­litäts­wende mit Fuß- und Radverkehr sowie ÖPNV statt individuellen PKW. Und ohne ­die hätten wir viel mehr Platz auf Straßen und (ehemaligen) Parkplätzen.

Die Nachbarschaftsthese

Und wofür könnten wir all die freien Flächen nutzen? Zum Treffen und Diskutieren, Gärt­nern und Weinchen trinken, Spielen und Her­umspinnen. Das Auto, sagt Wöhr hin­gegen, isoliere uns von der Gemeinschaft und ver­hindere zufäl­lige Interaktionen auf der Straße. Dieser spontane Austausch gibt uns jedoch die Möglichkeit, Unterschiede in unserer Gesellschaft zu erfahren und respektieren zu lernen.

Die Mobilitätswende ist also nicht nur ein tech­nischer Prozess, sondern insbesondere ein gesellschaftlicher. Straßen können Orte sein, an denen Begegnung im Vordergrund steht und nicht der anonyme, motorisierte Individual­verkehr; Orte, in denen sich Nachbarschaf­ten treffen, kennenlernen und unterstützen. Die Allianz der freien Straße schreibt: »Die Straße ist unser Treffpunkt mit dem Fremden. Verändern wir Straße – verändern wir Gesellschaft.«

In den Superblocks von Barcelona zeichnet sich bereits solch ein Bild. Eine Studie ­der Agentur für Gesundheit in Barcelona hat ge­zeigt, dass seit der Einführung der Super­blocks die Lärm- und Schadstoffemissionen zurückgegangen sind, während sich die mentale Gesundheit und der soziale Zusammen­halt der Nachbarschaften verbessert haben.

Superblocks fassen neun Wohnblöcke zusammen und teilen ­den Verkehr darin neu auf. Kein Durchgangsverkehr mehr, maximal 10 km/h für Autos, Fußgänger:innen ­und Radfahrer:innen haben Priorität.

Die Wirtschaftsthese

Die Rückeroberung der Straße kann jedoch auch mehr bedeuten als eine belebte ­Nachbarschaft. Wöhr hebt hervor, dass der freiwerdende Raum den Kommunen gehört. Diese könnten sich mit den Bewohner:innen eines Viertels überlegen, was sie brauchen. ­Ein Co‐Working‐Pavillon oder Räume für Gewerbe etwa. Da die Flächen vom profit­orientierten Grundstücksmarkt entkoppelt vergeben werden, können Kommunen Räume zu vergüns­tigten Preisen vermieten und so Gewerbe in die Stadtviertel holen, die es sich sonst nicht leisten könnten, dort zu arbeiten.

Die Klimathese

Der Verkehrssektor ist laut Umweltbundesamt der einzige Sektor in Deutschland, in dem die Emissionen seit 1990 nicht gesunken sind. Der aktuelle Bundesverkehrsminister Volker Wissing macht nicht den Eindruck, als wolle er daran etwas ändern. Dabei ist eigentlich klar: Für Klimaschutz müssen wir uns von unseren rein privaten Autos weitestgehend trennen und PKW teilen, Radfahren, ÖPNV nutzen und zu Fuß gehen.

Zu den wegfallenden Emissionen kommt, dass Städte den frei gewordenen Platz zur Anpassung an die Klimakrise nutzen können. Denn sie sind durch ihre dichte Bebauung, ihre Bau­materialien und die Versiegelung der meisten Flächen besonders stark von Hitze ­und Überflutungen durch Starkregen betroffen.

Auf befreiten Straßen ­und Parkplätzen ­können Bäume wachsen, ­kühlende Gewässer und Schneisen für Frischluft entstehen. Außerdem fordert die Allianz der freien Straße in ihrem Manifest die Entsiegelung von ­Verkehrsflächen, um die natürlichen Boden­funktionen wiederherzustellen. So kann ­Wasser besser versickern, es ist kühler und auch die städtische Biodiversität wächst. ­Klingt so­weit alles prima. Die entscheidende Frage ist: wie schaffen wir das?

Die Politikthese

Die Allianz schreibt: »Um Straßen zu befreien, braucht es politischen Willen. Konflikte müssen ausgehalten, Neues muss gewagt und manches auch wieder verworfen werden.« Viele Dinge auf dem Weg zu autofreien Straßen oder Quartieren lassen sich politisch steuern: Der Ausbau von ÖPNV und Radwegen auf der einen Seite, die Erhöhung von Parkgebühren, Abschaffung des Dienstwagenprivilegs oder Straßensperrungen auf der anderen Seite.

Ein Leuchtturm für progressive Politik ist ­dabei Paris, wo an einer Uferpromenade der Seine heute nur noch Fußgänger:innen ­und Radfahrer:innen unterwegs sein dürfen. Durch sol­che Aktionen bekommt die ­Bevölkerung einen ersten Eindruck von der Aufenthaltsqualität befreiter Straßen. Die Politik kann die Reaktionen auswerten und damit weiter planen.

Die Straße ist unser Treffpunkt mit dem Fremden. Verändern wir Straße – verändern wir Gesellschaft. – Manifest der freien Straße

In Barcelona wurde das Superblock‐Konzept nach einem erfolgreichen Pilotversuch auf große Teile der Stadt ausgeweitet. In Paris ­wird zur Zeit eine autofreie Neugestaltung des Champs‐Elysées geplant, über die nächsten Jahre werden zehntausende Parkplätze für PKW in der Stadt entfernt.

Solche Entwicklungen gehen nur mit Partizipation. Simon Wöhr schlägt vor, erst zu fragen, wofür die Menschen in einem Quartier ihr Auto verwenden. Für diejenigen, die ein privates Auto wirklich brauchen, müssen dann eigene Lösungen her. Erst dann können schrittweise Parkplätze entfernt werden.

Die Beteiligungsthese

Was bei alledem ganz wichtig ist: Warte ­nicht auf die Politik. Leg einfach los! Du findest, dass es zu wenige öffentliche Sitzmöglich­keiten in deiner Straße gibt? Bau eine Bank (siehe @benchingberlin). Du findest, in ­deiner Straße herrscht zu wenig Leben? Stell ein paar Stühle raus und trink deinen ­Kaffee drau­ßen. Du bist unzufrieden mit ­den Rad­wegen in deinen Straßen? Starte eine Initiative, in der ihr Pop‐Up Radwege nach ­dem Leitbild des tactical urbanism gestaltet. Das ist eine Strategie, bei der
mit kurzfristigen Interven­tionen Stadtraum verän­dert wird, um langfristigen Wandel zu bewirken.

Organisiere einen PARK(ing) Day, wie den in Bremen. Der Verkehrsclub Deutschland hat dafür auf seiner Website eine Anleitung parat. Du willst deine Straße für immer von Autos befreien? Dann vernetze dich in deiner Straße, kontaktiere deine Stadtverwaltung und orga­nisiere gemeinsam ein Pilotprojekt zur Befreiung deiner Straße.

8 Schritte zum PARK(ing)
Day (nach VCD-Anleitung):

1. PARK-Platz finden
2. Mitstreiter:innen finden
3. Materialien besorgen
4. Aktion anmelden
5. PARK-Platz gestalten
6. PARK-Platz beleben
7. Bilder machen
8. Anschließend aufräumen

Es gibt viele Möglichkeiten und Wege, die Straßen unserer Städte zu befreien und es gibt bereits viele Menschen, die sich dafür einsetzen. Das ist gut so, denn wenn wir uns von unseren privaten Autos befreien, haben wir unglaublich viele Möglichkeiten, ein gutes Leben in der Nachbarschaft zu gestalten.

Weiterlesen

“Manifest der freien Straße” Allianz der freien Straße. JOVIS Verlag. Berlin, 2022. (Zum Manifest)

“Autokorrektur – Mobilität für eine lebenswerte Welt” Katja Diehl. S. Fischer Verlag, 2022. (Zum Buch)

Superblock-Initiativen in Deutschland wie die Kiezblocks in Berlin oder heiner*blocks in Darmstadt (Zur Übersicht)

Aus dem Kopf, in die Stadt (zum Text bei transform)

Handeln

Aktions-Anleitungen vom VCD: Der Verkehrsclub Deutschland bietet auf der Website zur Rückeroberung der Straße viele Anleitungen für Aktionen an, auch für einen Parking Day. (Zur den Anleitungen)

Tactical Urbanist’s Guide: Diverse Anleitungen für Aktionen des tactical urbanism, die langfristig den Stadtraum lebenswerter machen sollen. Inklusive Material-Guide für Pop-Up Radwege, Parks usw. (Zu den Anleitungen)

Media

“@benchingberlin”: “Creating places, (re)claiming public space, building benches. Come sit with us!” (Zu Instagram)

Visual Utopias by Jan Kamensky: Visuelle Animationen, die zeigen, wie bekannte Straßen in einer autofreien Zukunft aussehen könnten. (Zur Website)

Quellen

“Kieltopia-Podcast”: Folge 25. Straßen befreien mit Simon Wöhr von paper planes e.V. (Zum Podcast bei Spotify)

“Autofreie Städte” (2022): Konzeptwerk neue Ökonomie. (Zum Dossier)

“Ergebnisbericht über Umwelt- und Gesundheitseffekte der Superblocks in Barcelona”: Salut Als Carrers (SAC) Project. Agència de Salut Pública de Barcelona. Barcelona, 2021.

“Klimaschutz im Verkehr”: Umweltbundesamt (20.05.2022). (Zum Text)

“Mobilität in Deutschland – MiD Ergebnisbericht”: Claudia Nobis und Tobias Kuhnimhof (2018). Studie von infas, DLR, IVT und infas 360 im Auftrag des Bundesministers für Verkehr und digitale Infrastruktur (FE-Nr. 70.904/15). Bonn, Berlin. (Zum Bericht)

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Newsletter