Was wir Arbeit nennen und was nicht

Care-Arbeit – eine weitere Ressourcenkrise.

Stell dir vor, wir hätten bei allen wirtschaftlichen Berechnungen den Bruttoinlandsprodukten, Gewinn- und Verlustrechnungen, Arbeitslosenquoten, den größten Wirtschaftszweig einfach übersehen? Und stell dir dann vor, die Gender-Pay-Gap, also die Lohnlücke zwischen Männern und Frauen läge nicht bei 18 Prozent in Deutschland, was ohnehin vorletzter Platz in der EU ist, sondern – wenn wir diesen übersehenden Zweig miteinberechnen – bei mehr als 45 Prozent?

Du sitzt den ganzen Tag vor Zoom rum und schiebst E-Mail-Berge von dir weg? Das ist Arbeit! Du pflegst deine Kinder, engagierst dich im Naturschutz oder kochst für Obdachlose? Das ist doch keine Arbeit!

Bei diesem übersehenen Teil der Arbeit handelt es sich um die CareArbeit, die alle Tätigkeiten des Sorgens und Sichkümmerns umfasst: das Pflegen von Alten, das Betreuen von Kindern, die Nachbarschaftshilfe, die emotionale Arbeit für den Freund, der seinen Job verliert, das Aufräumen, Spülen, Kindergeburtstagsgeschenke besorgen etc. Dass wir uns kümmern, macht uns vielleicht erst zum Menschen, dass wir uns Kümmern, macht auch die Ökonomie erst zu jener gut geölten Maschine. Man könnte sogar wie die postpatriachale Denkerin Dr. Ina Praetorius sagen, dass Wirtschaften im eigentlichsten Sinne »Care« ist.

In einer dreifachen Ironie wird aber diese essentielle Arbeit meist nicht bezahlt, meist nicht berechnet und meistens von Frauen geleistet. Wäre Care bezahlt, wäre es etwa in der Schweiz mit 360 Mrd Euro der größte Wirtschaftszweig, noch vor Banken und Pharmaindustrie. Die Arbeit von Frauen wird in einer gleichen Logik wie bei den Ressourcen der Umwelt nicht bemessen und nicht bepreist, von der Ausbeutung beider Systeme hängt derweil unser gegenwärtiges Wirtschaften massiv ab.

Dieser Text ist Teil unserer achten Ausgabe. In der geht es um Schmutz und Sauberkeit in allen gedanklichen Dimensionen, Phantasien, Putzkollektive und Lösungen für einem saubere Umwelt. Abgerundet wird das Ganze mit Tips für das Gute Leben, garniert mit einem Spritzer Rebellion.

Ökonomische Wirklichkeit verdrängt die gelebte Wirklichkeit

Es ist Zeit, Care-Arbeit als zentrales Fundament unserer Wirtschaft an allen Punkten unseres Lebens sichtbar zu machen.

Das fängt mit der Ausbildung an. Man kann sechs Jahre Wirtschaft studiert und dann nochmal sechs Jahre mit Konzernen gearbeitet haben, so wie ich, ohne jemals von Care-Arbeit gehört zu haben.

Es ist Zeit, Care-Arbeit als zentrales Fundament unserer Wirtschaft an allen Punkten unseres Lebens sichtbar zu machen.

Genauso wie wirtschaftliche Bildung mehr auf Umweltfragen eingehen muss, müssen auch Care-Themen berücksichtigt werden. Ansonsten ist unsere Wirtschaftswissenschaft nämlich – Achtung schwieriger aber schöner Begriff – kryptonormativ. Sie vermittelt uns bestimmte Dinge, die als natürlich gelten sollen und versteckt andere, die uns dann, wenn überhaupt, als unnatürlich erscheinen.

Wirtschaft ist nicht nur was wir einberechnen, sondern auch was wir ausberechnen

Care zu berechnen ist schwer, erklärt Gender-Forscherin Prof. Christa Binswanger: Weil sie Beziehungsarbeit ist, bilden Produkt, Produzent und Konsument eine Einheit. Zeitabläufe sind ebenfalls oft nicht planbar oder vorhersehbar. Aber muss sich hier die Wirklichkeit der Theorie anpassen? So wie die Umwelt, oder digitale Daten, müssen wir Care ökonomisch messbar machen, wie Volkswirtinnen wie Mascha Madörin erforschen. Statt Care zu ignorieren, weil es nicht zu unserem Werkzeugkasten passt.

Weil sie Beziehungsarbeit ist, bilden Produkt, Produzent und Konsument eine Einheit. Zeitabläufe sind ebenfalls oft nicht planbar oder vorhersehbar.

Laut einer Studie sagen Studenten, dass Ungleichheit das drängendste wirtschaftliche Problem unserer Zeit ist. Aber in vielen Lehrbüchern, wird das Thema lediglich an den Kernlehrplan angehängt. Stattdessen wurden in amerikanischen Lehrbüchern, die den Ton vorgeben, eine deutliche Unterrepräsentation von Frauen und geschlechtsspezifische Verzerrungen diagnostiziert. Da wird dann der Bierkonsum oder die Produktion von Sportwagen berechnet, statt Fallbeispiele zu Ungleichheit und Klimawandel anzubieten. Diese soziale Irrelevanz führt dazu, dass für viele das Fach Wirtschaft einfach sehr langweilig ist.

Dass es auch anders geht, zeigt eine Studie des Hamilton College. Hier wurden modernisierte Kurse an High Schools unterrichtet, die das breite Spektrum an sozialen Themen abdeckten, die Ökonomen untersuchen können, was dazu führte, dass Studentinnen bessere Noten bekamen.

Als die Studentin Carina Krusell den überarbeiteten Kurs belegte, freute sie sich, dass sie eine Analysetechnik lernen konnte, welche die Diskriminierung von Menschen mit Schwarz klingenden Namen untersuchte. »Der Kurs hat mir klar gemacht: Oh, das ist ja auch Wirtschaft.« Bildung wird also nicht nur besser, sondern auch interessanter!

Care in der Lohnarbeitswelt

Würde man einen Karrierepfad geschlechterdiskriminierend gestalten, könnte man es fast nicht besser hinbekommen.

Nach der Ausbildung auf den Arbeitsmarkt geworfen, muss Care besser mit klassischer Arbeit vereint werden. Die Betriebswirtin Prof. Gudrun Sander diagnostiziert dort eine undichte Leitung: Auf der Einstiegsebene sei in vielen Firmen eine gute Geschlechterverteilung erreicht, doch wer wird befördert? Wir werden erstens in der sogenannten Rushhour des Lebens befördert, die tragischerweise auch die Zeit ist, wo meist Frauen mit der Care-Arbeit von Kindern beschäftigt sind, und zweitens werden wir meistens nur befördert, wenn wir in Vollzeit arbeiten.

Würde man einen Karrierepfad geschlechterdiskriminierend gestalten, könnte man es fast nicht besser hinbekommen. Wenn wir aber in Zukunft noch viel länger in Lohnarbeit stecken, dann sollten wir uns doch überlegen, ob wir die große Beförderungsorgie nicht auch später im Leben ermöglichen. Dann sollten wir uns auch mal ernsthaft fragen. warum Teilzeitarbeit oft als so eine Art Zwischenwelt zwischen Arbeit und Kündigung wahrgenommen wird? Beruflicher Aufstieg, also Machtgewinn, ist sehr stark dadurch geprägt, was wir als Macht verstehen. Da geht es uns um Beherrschung und beherrschen tue ich, wenn ich immer alle EMails lese, immer im »CC« bin, mir keiner was anhaben kann, immer auf Sendung bin. Aber ist das Macht?

Beruflicher Aufstieg, also Machtgewinn, ist sehr stark dadurch geprägt, was wir als Macht verstehen.

Bin ich nicht viel mächtiger, wenn es von mir abhängt, ob sich andere entfalten können, wenn ich Offenheit für die Welt um mich herum habe, wenn ich die Neugierde habe, neue Erfahrungen einzubringen und die Ausdauer, Beziehungen aufrechtzuerhalten, welche die Gemeinschaft mit den Ideen, Erfahrungen und Menschen, mit denen wir in Beziehung stehen, bereichert. Wie sehr wäre das ein Machtbegriff des Kümmerns?

Beispiel: Globale Sorgeketten

Und am Ende der sogenannten Karriere sind wir alt und brauchen Pflege, und begegnen umso mehr der Care-Arbeit. Die Soziologin Dr. Sarah Schillinger erforscht globale Sorgeketten, wo Care-Arbeit ausgelagert wird: In die Schweiz kommen billigere Pflegekräfte aus Frankreich und nach Frankreich noch billigere aus Togo. Nach Deutschland kommen Kräfte aus Polen und nach Polen Kräfte aus der Ukraine. All diese Personen hinterlassen Lücken in den Herkunftsländern und verschärfen dort die Ungleichheit, fast alle dieser Personen leben unter arbeitsrechtlich fragwürdigen Bedingungen und höchst prekär. Das informelle Pflegepotential hingegen, also das dann wieder unbezahlte Einspringen der Verwandten, sinkt seit Jahrzehnten, was auch an der oben beschriebenen Arbeitswelt liegt.

Im Hintergrund steht ein verfehlter Wachstumsbegriff

Wir leben in einer Kultur in das neue ausbrechende Wachstum, über das wiederkehrende regenerierende Pflegen gestellt wird. Produktivität heißt immer etwas disruptiv neues herauszukloppen, der Erhalt vom Bestehenden wird nicht als produktiv angesehen. Ein notwendiger Wechsel von einem quantitativen Wachstum, als einem ewigen Mehr an Dingen, zu einem qualitativen Wachstum, zu einem wirklichen Besser, droht deshalb zu scheitern. Care-Arbeit ist nicht das, was wir Arbeit oder Wirtschaft nennen, es ist die Wirklichkeit und deswegen ist es Zeit unser Wirtschaftsverständnis vom ausgrenzenden Kopf auf die versorgenden Füße zu stellen.

Text: Hans Rusinek

Bild: Dominik Lange on Unsplash

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