Müssen wir Geld verdienen, um uns sicher fühlen zu können und soziales Ansehen zu geniessen? Einige Menschen beweisen, dass es andere Wege gibt.
Das Ergebnis liegt schwarz auf weiß vor mir. Mein Steuerberater hat aus meinen Unterlagen die Gewinn- und Verlustrechnung erstellt. Und wie sehr ich mir auch die Augen reibe und mit dem Kopf schüttle, die Zahlen bleiben unbeeindruckt die Gleichen. 2014 habe ich weit unter der Armutsgrenze, ein in meinen Augen gutes Leben geführt. Ich zücke den Taschenrechner und versuche herauszufinden, wie das möglich war. Aus mathematischer Sicht ist es ausgeschlossen – und dennoch wahr.
2008 war scheinbar mein beruflich erfolgreichstes Jahr. Finanzielle Sorgen gehörten der Vergangenheit an und ich war mir sicher, künftig nie wieder welche zu haben. Als freier Journalist schrieb ich für unterschiedliche Medien, aber mein Haupteinkommen bestritt ich mit der gut bezahlten Pressearbeit für einen Konzern -unzählige Arbeitsstunden und moralische Konflikte inklusive. Ursprünglich wechselte ich in die Medienbranche, weil ich mit meiner Arbeit Mitmenschen inspirieren wollte. Doch der wirtschaftliche Druck hatte mich zum Konzern geführt. Das System hat mich längst aufgefressen. Mein Schuldenberg schmolz indes wie ein Eiswürfel im Backofen. Ich war 28 Jahre alt, arbeitete nahezu rund um die Uhr, strotzte nach außen hin vor Kraft und die Party hätte ewig weitergehen können.
Bis zum großen Knall
Doch immer öfter schlief ich aufgrund von Albträumen schlecht und Bauchschmerzen wurden zu meinen ständigen Begleitern. Schließlich ließ meine Konzentration beständig nach und so reihte ich einen Fehler an den nächsten. Damit ich weiterhin meine gewohnte Leistung erbringen konnte, arbeitete ich noch mehr. Es kam vor, dass ich den Inhalt eines kompletten Telefonats in dem Moment vergaß, wenn ich den Hörer auflegte. Aufträge erledigte ich daher so, wie ich meinte sie verstanden zu haben. Die Blöße des Nachfragens ersparte ich mir.
Plötzlich fiel es mir morgens schwer aufzustehen und in den Tag zu starten. Stundenlang konnte ich die Zimmerdecke anstarren, nur um mich hinterher über die vertrödelte Zeit zu ärgern. Eines Tages überlegte ich mir, was wohl sinnvoller wäre: mit meiner Arbeit zu beginnen oder aus dem Fenster zu springen. Eine Antwort darauf fand ich nicht.
Im Dezember war meine Aufgabe simpel: Ich sollte einen Pressetext verfassen; reiner Standard. Mir lagen alle Informationen vor und bei der Vorbesprechung hatte ich mich voll konzentriert. Die ersten Absätze waren auch vielversprechend, doch mittendrin riss der Faden. Meine Finger tippten etwas anderes, als ich dachte. Je mehr ich versuchte den Text zu retten, desto schlimmer machte ich es.
Da schoss mir ein einzelner, „klarer“ Gedanke durch den Kopf: So fühlt es sich also an, wenn man verrückt wird!
Das Spiel ist vorbei
Es folgten Termine beim Hausarzt, Neurologen und schließlich ein siebenwöchiger Aufenthalt in einer Psychosomatischen Klinik. Diagnose: depressives Erschöpfungssyndrom, umgangssprachlich auch „Burnout“ genannt. Unter anderem erkannte ich meine jahrelange schwere Arbeitssucht. Zudem hatte ich meinen Selbstwert allein daran gemessen, wie viel ich im Alleingang erledigen konnte. Als ich bedingt durch den vorerst endgültigen Zusammenbruch meinen Tätigkeiten nicht mehr nachgehen konnte, blieb einerseits meine Sucht unbefriedigt – es fehlte der regelmäßige „Kick“ – und ich war in meinen Augen schlagartig in unserer Gesellschaft ein nutzloser Esser. Immer öfter dachte ich an Suizid und legte es einmal darauf an, tödlich zu verunglücken. .
Aus heutiger Sicht bin ich froh, bereits in jungen Jahren einen solchen Wendepunkt erlebt zu haben. Erstmals machte ich mir Gedanken, wer ich bin, welche Fähigkeiten ich habe, wo und wie ich sie einbringen möchte. So beschloss ich mich von faulen Kompromissen zu verabschieden und in allen Lebenslagen meinem Herzen zu folgen. Das Angebot wieder für den Konzern tätig werden zu können, schlug ich in den Wind.
Schrittweise reaktivierte ich mein Medienbüro, widmete mich als freier Journalist konsequent den Themen enkeltaugliches Wirtschaften, gesellschaftlicher Wandel und Medien. In der Öffentlichkeitsarbeit begleitete ich einen gemeinnützigen Verein.
Automatisch glücklich?
Kennt jemand noch die alte Werbung für Kinderüberraschung? Ein riesiges Zeichentrick-Überraschungsei war „im Auftrag ewiger Jugend und Glückseligkeit“ unterwegs. Ähnliche Botschaften erhalte ich auch in etlichen Lebensratgebern: Wer auf seine Intuition hört und konsequent seinen Weg des Herzens geht, der ist stets glücklich und der (finanzielle) Erfolg ist gewiss. Fast wäre mir „am Arsch, die Räuber“ herausgerutscht, aber ich habe eine gute Kinderstube genossen und formuliere es daher ein wenig galanter.
Tatsächlich entscheiden wir uns nicht nur einmal im Leben für die Veränderung und integrieren sie dann in unsere Handlungsweise, sondern wir entscheiden uns jeden Tag aufs Neue, welchen Weg wir gehen. Wer dabei noch seinem Herzen folgt, der eckt mitunter gewaltig an, gilt vielleicht gar als verrückt. Wir leben noch immer in einem Wirtschaftssystem, welches in weiten Teilen Umweltverschmutzung, Lohndumping, Steuerflucht, Herstellen von Konsumschrott und dergleichen nicht nur ermöglicht, sondern monetär belohnt. Vielfach zählen nur Marktanteile und Umsätze.
Das Gemeinwohlstreben ist allerdings gesetzlich verankert: Im deutschen Grundgesetz heißt es im Artikel 14 Absatz 2: „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.“ Noch deutlichere Worte fanden die Urheber der Landesverfassung des Freistaats Bayern. „Die gesamte wirtschaftliche Tätigkeit dient dem Gemeinwohl, insbesondere der Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins für alle und der allmählichen Erhöhung der Lebenshaltung aller Volksschichten.“ Die Verfassung Baden Württembergs stellt gleich zu Beginn in Artikel 1 Absatz 1 klar: „Der Mensch ist berufen, in der ihn umgebenden Gemeinschaft seine Gaben in Freiheit und in der Erfüllung des christlichen Sittengesetzes zu seinem und der anderen Wohl zu entfalten.“
Doch wer sich daran hält, nimmt mitunter wirtschaftliche Nachteile in Kauf. Bevor ich mich einem Auftrag widme, beantworte ich mir drei Fragen: Führt mich die Tätigkeit näher zu meinem wahren Selbst oder lenkt sie mich ab? Nützt sie auch meinen Mitmenschen? Sind meine Kosten gedeckt, verdiene ich vielleicht sogar etwas? Kurz gesagt: Sinn genießt Vorfahrt. Leider sind gerade etliche soziale und gemeinnützige Tätigkeiten gar nicht oder nur schlecht bezahlt. Wo bleibt denn nun die „ewige Jugend und Glückseligkeit“, ich folge doch schon meinem Herzen? (verdammt noch mal!)
Mission: sich treu bleiben
Ehrlich gesagt, fühlte ich mich auf meinem Herzensweg öfter wie der allerletzte Clown auf Erden. Um mich herum machen Menschen Karriere, kaufen oder bauen Häuser und ich führe einen finanziellen Überlebenskampf. Manchmal war ich sogar neidisch auf andere mit einem geregelten Einkommen, deren Job ich nie im Leben machen wollte – verrückt!
Tatsächlich fragte ich mich des Öfteren, was mit mir nicht stimmt. Schließlich waren die erwähnten Lebensratgeber voll von positiven Beispielen, wer seinem Herz folgt, der wird doch vom Universum unterstützt und der Erfolg fällt einem praktisch in den Schoß. Tatsächlich setzte mich die als inspirierend-gemeinte Lektüre teilweise unter Druck. Wahrscheinlich kann mich das Universum nicht leiden oder irgendjemand hat gewettet, wie lange ich auf meinem Weg bleibe.
Es war wieder an der Zeit für eine journalistische Reise. Für mein Buch „Herzensfolger“ führte ich nicht nur meine persönliche Geschichte weiter, sondern ich traf – wie der Titel es vermuten lässt – andere Herzensfolger.
Dokumentarfilm-Regisseurin Cosima Lange verriet mir, wie es ihr gelingt an ihrem Herzensprojekt (ein Film über Auroville) festzuhalten ohne zu frustrieren. Unternehmensberater Reinhold Hartmann war für mich ein Wandler zwischen zwei Welten: Einerseits für Firmen tätig, die die Welt nicht zu einem besseren Ort machen und gleichzeitig privat in Afrika sozial aktiv. Helmut Lind, Vorstandsvorsitzender der Sparda-Bank München, gab mir tiefe Einblicke in seinen Wandel vom Karriere- zum Herzensmenschen und wie er es geschafft hat, seine inneren Prozesse auch in das Geldhaus zu tragen, welches sich dadurch der Gemeinwohl-Ökonomie anschloss.
Der Geschäftsführer der Sekem-Gruppe, Helmy Abouleish, erklärte mir, warum wir für die sozio-ökologische Wende Geduld brauchen und was wir schon heute tun können. Unternehmerin und Gründerin von manomama Sina Trinkwalder ist wirtschaftlich erfolgreich, obwohl oder gerade weil sie genau das Gegenteil von dem macht, was in der Betriebswirtschaftslehre Usus ist. Zuletzt hat mir Allgemeinmediziner Jörg Blettenberg gezeigt, dass man beim Herzenfolgen, was in seinem Fall bedeutet seine Patienten bestens zu versorgt, so richtig ins Klo greifen kann. Über 100.000 Euro Strafe muss er zahlen ohne zuvor einen Schaden verursacht zu haben.
Eine von vielen Quintessenzen: Auch Herzensfolger haben Probleme und Konflikte zu bewältigen. Durststrecken, Rückschläge & Co gehören zum Leben dazu.
Puh, mit mir ist also alles in Ordnung. Seinem Herzen zu folgen, kann anstrengend sein aber unter dem Strich lohnt es sich. Ich habe gelernt, Gewinn nicht nur auf dem Bankkonto zu suchen und deswegen bleibe ich auf meinem Weg – auch wenn ich hin und wieder meckere und schimpfe. Dann gelingt es mir meist, meinen Blick auf das zu richten, was ich habe, anstatt dem nachzutrauern, was scheinbar fehlt.
Über den Gastautoren: Jens Brehl ist als freier Journalist, Blogger und Buchautor tätig. In seinem Buch “Mein Weg aus dem Burnout – Der Stress-Falle entkommen, Lebenskunst entwickeln” erzählt er seine komplette Geschichte vom Zusammenbruch bis zum gelungenen Neustart. In seinem aktuellen Werk “Herzensfolger – Sich treu bleiben im Beruf: Zwischen ökonomischem Zwang und dem Traum vom Gemeinwohl” zeigt er auf, wie es ihm und anderen Herzensfolgern gelingt, sich weiterhin treu zu bleiben.
Titelbild: CC0, Angelina Litvin (unsplash)