Nichts tun wir Linken lieber als Streiten. Am liebsten untereinander, und am allerliebsten darüber, was „links sein“ denn genau bedeutet. „Links sein heißt auf nichts mehr zu warten“, war hier gestern zu lesen. Nicht für die große Veränderung zu kämpfen, sondern sich aus dem System auszuklinken. Ihm eine lange Nase zu drehen und fröhlich pfeifend davon zu spazieren. Wenn mehr Menschen Teilzeit arbeiten, bröckelt der Kapitalismus schon von alleine!
Das, liebe Leute, ist das Ergebnis jahrzehntelanger Individualisierung. Links zu sein ist plötzlich eine täglich konsumierbare Einzelentscheidung: Jedes Mal, wenn du einen fair gehandelten Kaffee trinkst, tust du der Welt etwas Gutes, und damit hat es sich erledigt. Links zu sein ist gleichbedeutend damit sich links zu fühlen und wird damit etwas, was es nie sein sollte: unpolitisch.
Spätestens hier sollten unsere Alarmglocken läuten. Nichts freut diejenigen, die von sozialer Ungleichheit profitieren, so sehr wie eine Linke, die nicht weiß, dass es sie gibt. Eine „Linke“, die denkt, jedes Problem, vor dem unsere Gesellschaft steht, durch den richtigen Lifehack lösen zu können. Die findet, sie hat ihre Schuld getan, wenn sie ethisch unbedenkliche Lebensmittel konsumiert.
Dem „Obdachlosen vom Leopoldplatz“ einen Kaffee auszugeben, ist nett. Wirklich. Politisch ist es nicht. Weil es nichts am Grundproblem ändert. Es gibt dir ein gutes Gefühl, mehr aber auch nicht. Politisch wäre es, deinen obdachlosen Freund darin zu unterstützen, sich mit anderen Obdachlosen zusammen zu tun, eine Protestaktion vor dem Rathaus zu organisieren und so lange nicht locker zu lassen, bis die Stadt etwas gegen die Wohnungsnot unternimmt. Viele würden mir sicher widersprechen, dass „Links sein“ sich für sie einfach im Kleinen, Persönlichen abspielt, weil sich im Großen ja nichts tut. Viele kleine Schritte und so. Be the change you want to see in the world.

„Links sein heißt heute auf nichts mehr zu warten.
Nicht auf die Revolution, nicht darauf, dass Wahlkampfversprechen eingehalten werden. Wenn Ihr es nicht hinbekommt einen würdigen Lohn zu zahlen, dann gründen wir halt ein Start-up und bezahlen uns selbst. Wenn Euch nicht mehr einfällt, als eine Mietpreisbremse: Too bad. Wir sind mittlerweile im Mietshäusersyndikat oder bauen uns ein Tiny House. Und wenn Ihr nervt, rollen wir einfach woanders hin.“
Frei nach Marie Antoinette: Wenn das Volk sich die Miete nicht leisten kann, dann sollen sie sich doch tiny houses bauen!
Sinkende Reallöhne, Einkommensunterschiede, die Schere zwischen Arm und Reich – das können wir strukturelle, systembedingte Ungleichheit nennen, Pikettys „Kapital im 21. Jahrhundert“ lesen, einer Gewerkschaft beitreten, streiken… Oder wir machen Ohren und Augen zu, nehmen unsere Privilegien mit und „rollen einfach woanders hin“. Oder wir „gründen ein Start-up und bezahlen uns selbst“. Nichts einfacher als das, kann ja jeder machen! Dass die Arbeitsbedingungen in Start-ups oft richtig mies sind: geschenkt. Tarifverträge sind was für die „Rentnerlinke“ und die ollen Gewerkschaften, bei uns steht eine Tischtennisplatte im Büro!
‘Links sein’ heißt für mich, aus der Gleichheit aller Menschen zwingende Konsequenzen zu ziehen. Und so leid es mir tut, dafür müssen wir uns auch mit den ökonomischen Ursachen sozialer Ungleichheit beschäftigen. Das ist anstrengend und nervig und frustrierend, aber wir müssen bessere Antworten auf diese Fragen haben als das andere Ende des politischen Spektrums, das gerade mächtig Morgenluft wittert.
Tauschpartys organisieren, um unnötigen Konsum zu vermeiden? Na prima, denkt sich die alleinerziehende Mutter, die in einer Hotelküche schuftet – was interessiert mich da noch der Mindestlohn?
„Und wenn dann in 10 Jahren Euer Kapitalismus wieder einmal zusammenbricht, Eure Aktien nichts mehr wert sind, Eure Umsätze einbrechen; bekommen wir davon nur aus der Zeitung mit.“
Are. You. Serious?
Glückwunsch an jeden, der von Wirtschaftskrisen nur aus der Zeitung erfährt, aber Leute, die ihren Job verlieren, weil „irgendwessen“ Kapitalismus zusammengebrochen ist, haben diesen Luxus nicht. Ach, ich vergaß…: „Aber unser Luxus heißt Freiheit. Und wir leben ihn schon heute.“
Cool. Er sei euch gegönnt. Ich finde auch, dass unsere Gesellschaft freie Zeit zu wenig schätzt und zu viel Wert auf materielle Besitztümer legt. Aber das ist eine Kritik, die ich eben an die Gesellschaft richten würde, nicht an die „Rentnerlinke“. Die wär’ nämlich ganz froh, wenn alle diesen Luxus genießen könnten, nicht nur diejenigen, die genügend Geld auf der hohen Kante haben oder nur für sich selbst sorgen müssen, keine Kinder oder kranken Eltern zu versorgen haben. Den spießigen Acht-Stunden-Tag musste die Arbeiterbewegung übrigens auch erst mal über Jahrzehnte erkämpfen. Mit Streiks und Druck auf die Politik und… ach, ich verstehe schon, warum euch das langweilt. Wir können ja bei Gelegenheit mal zusammen ein Leitungswasser trinken und uns über das ‘Links sein’ im Jahre 2016 streiten. Linker geht’s ja wohl kaum.
transform-Debatte: Was ist links?
Alena Biegert ist Politikwissenschaftlerin und arbeitet inzwischen beim Deutschen Roten Kreuz. Außerdem schreibt und diskutiert sie gerne – zum Beispiel hier (oder in der SPD).
Beitragsbild: flickr, CC