Alles muss man selber machen

Bürger:innenräte erfreuen sich bei den unterschiedlichsten Menschen großer Beliebtheit. Was können sie, was nicht? transform hat bei Ilan Siebert, Mitgründer von ›Es geht los‹, nachgehakt.

Die westlichen Demokratien stehen zur Zeit massiv unter Druck. Das liegt an der Beförderung von Populismus durch unser mediales System und an Wahlen, als wichtigstes demokratisches Verfahren«, so Ilan Siebert, Mitgründer des Vereins ›Es geht los‹. Demokratien eine Krise zu bescheinigen und diese auf Populismus und Echokammern zurückzuführen, das machen viele. Wahlen allerdings als eine Wurzel des Problems zu beschreiben, das machen sonst im progressiven Spektrum höchstens Anarchist:innen. Siebert ist kein Anarchist, sagt aber: »Es gibt keine Orte, wo wir als Gesellschaft zusammenkommen und grundlegende Fragen oder Probleme diskutieren, so etwas wie Abtreibung, Tempolimits oder Klimaschutz-maßnahmen.« Diese Themen werden durchaus intensiv im Bundestag und an Küchentischen diskutiert, doch das reicht ihm nicht. »Wir brauchen Diskussionen, die informiert ablaufen, wo Menschen miteinander sprechen, die sonst nicht aufeinander treffen und vor allem auch solche, die von selber nicht am politischen Diskurs teilnehmen.«

Ob der ›Allgemeine Deutsche Fahrrad-Club‹, Graswurzel-Initiativen, Gewerkschaften oder politischen Parteien – sich für bestimmte Themen einzusetzen, das geht natürlich schon. Doch die Zahl der Menschen, die sich für solches Engagement Zeit nehmen, ist bei Weitem kleiner als die der Menschen, die gegen ›die da oben‹ wettern. Das liegt nicht zuletzt daran, dass steigende Mietkosten vielen Menschen neben der Lohnarbeit kaum Zeit für politisches Engagement lassen. Auch verlieren mehr und mehr Menschen den Glauben daran, politisch selber etwas bewirken zu können. Zwar ist das Interesse für Politik in den letzten Jahren relativ konstant geblieben, das Vertrauen in Politiker:innen als Interessensvertretung allerdings nahm laut einer Ipsos-Umfrage aus dem Jahr 2018 deutlich ab. Ganze 65 Prozent der Befragten waren der Meinung, dass Menschen in der Politik heute seltener die Wahrheit sagen als vor 30 Jahren.

Bürger:innenräte & Klimaaktivismus

Der Bürger:innenrat ist eine zentrale Forderung von ›Extinction Rebellion‹, ›Scientists for Future‹ oder ›radikal:klima‹. 70.000 Menschen zeichneten die entsprechende Bundestagspetition der Initiative ›Klima-Mitbestimmung jetzt‹. Scientists for Future bereiten im Zuge der Bundestagswahl 2021 einen zivilgesellschaflichen Klimarat vor. Die Vereinten Nationen planen einen globalen Rat.

Losbuden für alle

Ilan Siebert und die acht weiteren aktiven Vereinsmitglieder sehen eine Lösung, um Vertrauen zurückzugewinnen, im Losverfahren: »Das Los ist der Ursprung der Demokratie. Regulär wählen konnten oft nur Vermögende. Dass Bürger:innen via Los ein politisches Amt angeboten bekommen oder in einem Forum Themen diskutieren können, belebt die Demokratie und macht sie erfahrbar.« Dazu wird Aristoteles seit jeher von Befürworter:innen des Losverfahrens zitiert: »So gilt es, wie ich sage, für demokratisch, dass die Besetzung der Ämter durch das Los geschieht, und für oligarchisch, dass sie durch Wahl erfolgt.« Historische Beispiele finden sich nicht nur in der Antike. In Ostbelgien stellt seit 2019 ein institutionalisierter Bürger:innenrat eine Art zweite gesetzgebende Kammer dar, die konkrete Gesetzesvorschläge erarbeitet und dem Parlament vorlegt. Das Parlament muss die Vorschläge prüfen und im Falle einer Ablehnung seine Entscheidung begründen. Auch Frankreich, Österreich und Großbritannien setzen Bürger:innenräte ein. Große Wellen schlug der Prozess in Irland. Dort ging der Volksabstimmung zur ›Ehe für alle‹ eine Bürger:innenversammlung voraus. Gerade bei solchen emotionalen Themen und verhärteten Fronten können geloste Räte entschärfen. Verschiedenste Menschen bekamen in den Räten die Möglichkeit, miteinander zu diskutieren, und fanden häufig den Ansporn, gemeinsam Lösungen zu entwickeln.

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Dieser Text ist Teil unserer siebten Ausgabe. In der geht es um Körper in all ihren Formen und Farben, das Recht auf Selbstbestimmung, den Körper als Waffe und warum spritzende Vulven eine politische Dimension haben.

Deliberation

Lat. für Überlegung oder Beratschlagung. Die OECD zitiert verschiedene Forschungs-ergebnisse und schlussfolgert: Repräsentative deliberative Prozesse ermöglichen eine gute Entscheidungsfindung, da so die kollektive Intelligenz und kognitive Vielfalt einer Gruppe integriert werden kann.
tfmag.de/newdemo | oecd-ilibrary.org

In Deutschland hingegen gibt es nur kleine geloste Räte – mit stark beschränktem Einfluss. So wurden zum Beispiel geloste Bürger:innen bei der Suche nach einem Standort für das Atommüll-Endlager einbezogen. Im Jahr 2019 gab es dann den ersten bundesweiten Bürger:innenrat, organisiert unter anderem von der Organisation ›Mehr Demokratie‹. Das naheliegende Thema: Demokratie. Die Empfehlungen, wie sich diese stärken ließe, wurden schließlich an den Bundestagspräsidenten übergeben. Der nächste bundesweite Bürger:innenrat, initiiert von den Vereinen ›Es geht los‹ und ›Mehr Demokratie‹, beschäftigte sich mit Deutschlands Rolle in der Welt. 160 Bürger:innen haben 2021 ein Gutachten über Militärpolitik und Entwicklungs-zusammenarbeit erstellt und es dem Bundestag vorgelegt.

Wichtig ist, was hinten raus kommt

Bei solchen deliberativen Bürger:innenräten geht es um das Einbeziehen von Meinungen von Menschen, die kein gewähltes Amt ausüben. Anders als bei direkter Demokratie, wie etwa mit Volksentscheiden, sollen die Entscheidungen des Parlamentes dabei nicht ersetzt, sondern ergänzt werden. Das klingt inzwischen gar nicht schlecht. Der Schock über die Brexit-Abstimmung sitzt noch tief; teils auch bei denjenigen, die für den Austritt Großbritanniens aus der EU stimmten. Auch diverse rechtsnationale Abstimmungen in der Schweiz hinterließen ein schales Bild von direkter Demokratie.

Dass von beratenden Bürger:innenräten selten etwas Schlechtes ausgeht, ist auch ihr Nachteil. Ihr Einfluss auf politische Entscheidungen ist schwer messbar oder nicht existent. Die Entscheidungen von Bürger:innenräten sind in den meisten Fällen nicht bindend und zudem einer breiten Öffentlichkeit kaum bekannt. Ilan Siebert schwört dennoch auf deliberative Bürger:innenräte: »Solche Räte sind weniger anfällig für populistische Dynamiken. Durch den Fokus auf Austausch und Beratung wird wirklich miteinander geredet. Das ist dringend notwendig, wenn man beobachtet, wie sich das Gesprächsklima im Bundestag und in den Kneipen verändert hat.« Sollen komplexe Sachverhalte bei einer Volksabstimmung mit ›Ja‹ oder ›Nein‹ eingeordnet werden, bleibt bei den Räten Zeit für Austausch und Raum für Kompromisse.

Räte auf allen Ebenen

Eine Möglichkeit, Bürger:innenräte vielerorts zu initiieren und zu institutionalisieren, könnten Wahlkreisräte sein: »Bundestagsabgeordnete schlagen Themen vor, zu denen sie sich Empfehlungen von ausgelosten Menschen ihres Wahlkreise einholen wollen. Das läuft dann aber nicht über eine bloße Umfrage, sondern basiert auf einer eintägigen, gut moderierten Diskussion«, so Ilan Siebert. ›Es geht los‹ hilft dabei, diese Wahlkreisräte zu initiieren und durchzuführen. Die Abgeordneten Thomas Heilmann (CDU), Canan Bayram (Bündnis 90/Die Grünen) und Helge Lindh (SPD) machen 2021 den Anfang mit diesem Format. »Diese ersten Wahlkreisräte werden uns zeigen, was funktioniert und was nicht. Klar ist schon jetzt: Wer klingelt und zu einem Austausch einlädt und nicht für eine einzelne Partei oder Stimmabgabe wirbt, hat bessere Chancen durchzudringen und macht sichtbar, dass Demokratie keine Frage von Parteien ist«, ergänzt Siebert.

Demokratie-Vereine in Deutschland

Für bundesweite Bürger:innenräte engagiert sich ›Demokratie e.V.‹ und steht anders als ›Es geht los e.V.‹ Volksentscheiden positiv gegenüber. ›Es geht los e.V‹. fokussiert sich auf bundesweite Bürger:innenräte und Wahlkreisräte. In Frankfurt
führte Katharina Liesenberg mit ›mehr als wählen‹ ein Demokratie-Konvent durch.

Wenig Feind, wenig Ehr?

Wie die bundesweiten Räte schon erahnen lassen: Politiker:innen über alle Parteigrenzen hinweg feiern geloste Bürgerräte als Mittel gegen Demokratieverdrossenheit und Politikmüdigkeit. Die Grünen nahmen geloste Bürger:innenräte in ihr Grundsatzprogramm auf – und schmissen Volksabstimmungen raus. Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble bezeichnete solche Räte in der Süddeutschen Zeitung als »einen wichtigen Ansatz«, um »unsere parlamentarische Demokratie zukunftsfähig« zu gestalten. Die allgemeine Begeisterung mag stutzig machen. Sind Bürger:innenräte so beliebt, weil sie sehr gefällig daher kommen, weil die auf Plauschrunden basierenden Ergebnisse nicht bindend sind?

Wer mittels deliberativer Räte wirklich Menschen motivieren und einbringen möchte, muss dafür sorgen, dass die Ergebnisse nicht ungelesen auf dem Server einer Abgeordneten oder des Bundestags versauern. Es sollte ehrlich kommuniziert werden, wie die Ergebnisse eingebracht werden. Politische Prozesse sind nicht selten zäh und brauchen oft viel Zeit. Wer sich erhofft, durch eine eintägige Veranstaltung auf die Gesetzgebung einwirken zu können, könnte sich aus Enttäuschung noch mehr zurückziehen. Nicht zuletzt braucht es solche Räte auf allen Ebenen. Die Wahrscheinlichkeit, für einen bundesweiten Bürger:innenrat ausgewählt zu werden, ist wohl immerhin größer als im Lotto zu gewinnen, aber immer noch ziemlich gering. Gäbe es Räte in jedem Kiez, im Wahlkreis oder in der Kommune, gäbe es schon mehr Möglichkeiten, sich einzubringen. Bürger:innenhaushalte etwa sind eine spannende Möglichkeit, selber Politik zu machen. Dabei können Bürger:innen eigene Vorschläge einbringen, wofür öffentliche Gelder ausgegeben werden sollen, sind also direkt an der Planung des Haushalts beteiligt. Auch die Diskussion und Entscheidung über die Verwendung der Gelder findet öffentlich statt oder mittlerweile sogar online. Die Entscheidung trifft am Ende zwar der Gemeinderat, dennoch kann bei Interesse der gesamte Prozess begleitet werden. In Köln hat das 2008 so gut funktioniert, dass die Stadt dafür den ›UN Public Service Award‹ erhalten hat. Für die Bereiche Verkehr, Grünflächen und Sport stand ein Etat von 338 Millionen Euro zur Verfügung. Aus über 5.000 Vorschlägen von mehr als 10.000 Teilnehmer:innen wurden je Bereich die besten 100 Ideen bewertet und öffentlich begründet, ob die Maßnahmen umgesetzt werden oder nicht.

Auch das Auslosen will gut durchdacht sein, ein Dauerbrenner bei ›Es geht los‹: »Das Ziel des Losverfahrens ist es nicht, Repräsentativität sicherzustellen, sondern eine Diversität, die sich an der Gesellschaft orientiert. Bewährt haben sich die Kriterien Wohnort, Alter und Geschlecht. Bei Einkommen und Vermögen steckt der Teufel im Detail. Darüber sollte sich mal ein Rat abstimmen«, fügt Siebert schmunzelnd hinzu. »Es braucht für Teilnehmende auch Urlaubsregelungen, vergleichbar mit dem Bildungsurlaub, und Aufwandsentschädigungen oder gegebenenfalls Zahlungen für die Pflege von Familienangehörigen. Und dann darf es keine sprachlichen oder körperlichen Barrieren geben.« Das Auslosen selber ist schnell ungewollt selektierend, etwa für Menschen, die nicht auf Briefe reagieren. ›Es geht los‹ klingelt bei solchen Fällen schlichtweg an der Tür, fragt nach und versucht die Bürger:innen zu motivieren.

Doch dieses Problem betrifft nicht nur Bürger:innenräte. Auch bei Wahlen und Referenden stimmen marginalisierte Gruppen seltener ab und sind damit unterrepräsentiert. Zusätzlichen sitzen in den Parlamenten vor allem Menschen mit hohen Bildungsabschlüssen. Richtig angewendet können deliberative Räte einen Teil der Lösung bieten. Denn das Los kennt keine Privilegien.

Text: Marius Hasenheit & Gregor Bräunig
Foto: Mehr Demokratie e.V. | Lizenz: CC BY-SA 2.0

Zur Person

Ilan Siebert
Die Frage, wie wir uns aufrichtig begegnen, streiten und Innovationen nach vorne bringen können, motiviert ihn in seiner Rolle als selbstständiger Organisationsberater und war initial für seine Rolle als Co-Founder von Demokratie Innovation e. V. und Es geht LOS.
Twitter: @I_Siebert

Medien

Bürgerräte regieren mit? Was dann?
Im Zukunfts-Podcast ›mal angenommen‹ beschäftigen sich zwei Tagesschau-Redakteure mit den Vorteilen und Gefahren von Bürger:innenräten und der Frage, wo diese sinnvoll wären.
tfmag.de/buergerrat | tagesschau.de

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