Foto: Inga Aleknaviciute

„Macht es endlich attraktiv, Hausmann zu sein!“

Feminismus darf nicht länger nur Gegenstand von Diskussionen über alte weiße Männer sein. Er muss im Alltag gelebt werden, sagt Cesy Leonard, Frontfrau der politischen Aktionskunstgruppe Zentrum für Politische Schönheit.

„Nehmt euch die Macht! Wir müssen in Positionen kommen, in denen wir andere Frauen ermächtigen können”- Das fordert Leonard in ihrem Essay für den aktuell erschienen Band „No More Bullshit – Gegen sexistische Stammtischweisheiten” des österreichischen Frauennetzwerks Sorority. Mit unserer Autorin sprach sie darüber, was sich in Politik und Alltag ändern muss, um Gleichberechtigung zu erreichen.

Frau Leonard, warum fordern Sie in Ihrem Essay einen aggressiven Feminismus?

Leonard: Unter Artikel 3 in unserem Grundgesetz steht: „Männer und Frauen sind gleichberechtigt.“ Dieses Versprechen ist rund hundert Jahre alt und wir verdanken es maßgeblich einer Frau – der Politikerin und Juristin Elisabeth Selbert. Eingelöst ist der Satz aber bislang nicht, Politik und Gesellschaft bewegen sich extrem langsam. Noch immer erhalten wir weniger Geld als unsere männlichen Kollegen. Wir arbeiten öfter in schlecht bezahlten Berufen, zum Beispiel im Sozial-, Bildungs- und Gesundheitswesen.

Die Anerkennung für gesellschaftliche Aufgaben, wie zum Beispiel die Pflege von Angehörigen, ist gering. Das erledigen wir praktisch nebenbei. Und sobald wir Kinder haben, stehen die meisten von uns vor der Wahl: Will ich lieber in einen Burnout rutschen, weil ich neben meinem Vollzeitjob noch Haushalt und Familie versorge? Oder tappe ich freiwillig in die Teilzeit-Falle und stelle meine Karriere- und Finanzplanung aufs Abstellgleis?

Laut einer Studie der Boston Consulting Group (BCG) liegt trotz Einführung der Quote, der Anteil an Frauen in den Vorständen der 100 größten Unternehmen nach Börsenwert im Jahr 2018 nach wie vor nur bei sieben Prozent. BCG prognostiziert, dass es weitere 40 Jahre dauern könne, bis ein einigermaßen gleiches Verhältnis zwischen Frauen und Männern auf Führungsebene hergestellt ist.

Leonard: Das Weltwirtschaftsforum errechnete letztes Jahr, dass es weltweit bei unserem jetzigen Reformtempo noch 202 Jahre dauert, bis wir am Arbeitsplatz gleichberechtigt sind. Ich frage mich, wie lange wir das noch hinnehmen wollen? Selbst unsere Enkelinnen werden auf dem Arbeitsmarkt nicht gleichberechtigt sein. Die Einführung der Quote hat zwar schon Verbesserungen gebracht, aber alleine wird sie es nicht richten. Auch Preise, wie den “Spitzenvater des Jahres” zu verleihen, reicht für den gesellschaftlichen Wandel nicht aus.

Spitzenvater des Jahres
Seit dem Jahr 2006 vergibt die Großbäckerei Mestemacher aus Gütersloh jährlich den Preis “Spitzenvater des Jahres”. Der Preis ist mit 5000 Euro dotiert und soll ein gleichberechtigtes Familienmodell fördern, damit mehr Mütter Kinder und Karriere unter einen Hut bringen. Die Kritik am Preis lautet, dass Mütter diesen Spitzenjob still und ohne dafür Preise einzuheimsen, tagtäglich erledigen. Fakt ist aber auch, dass bislang nur ein Drittel aller Väter Elternzeit in Deutschland nehmen. Der Preis wird unter der Schirmherrschaft des Bundesfamilienministeriums verliehen, initiiert hat ihn Prof. Dr. Ulrike Detmers vom Fachbereich Wirtschaft und Gesundheit an der Fachhochschule Bielefeld, die gleichzeitig auch das  Zentrale Markenmanagement und Soziale Marketing bei Mestemacher leitet.

Als ich von dem Preis hörte, wusste ich nicht, ob ich lachen oder weinen sollte.

Leonard: Ich fand es eher lächerlich – oder nehmen Männer sowas ernst? Fakt ist: Die Anzahl der Männer, die ihren Anteil an der Gesellschaftspflege übernehmen, ist mikroskopisch klein. Wenn wir weiterhin nichts ändern, bleibt das auch so. Es ist daher Zeit für einen aggressiven, kompromisslosen Feminismus! Und damit fordere ich konkret alle Frauen auf: Nehmt euch die Macht! Wir müssen in Positionen kommen, in denen wir andere Frauen ermächtigen können. Also lernt, voneinander zu profitieren. Und hört endlich auf, zu diskutieren, ob echte Feministinnen Achselhaare tragen oder sich beim BDSM-Sex unterwerfen dürfen.

Konzentriert euch auf andere Themen. Nutzt eure beruflichen Positionen aus. Damit meine ich auch Politikerinnen: Ändert was. Findet lebbare Konzepte! Wirtschaft, fang endlich an, dich nach unseren Bedürfnissen zu richten! Bewegt euch, damit noch in dieser Generation Gleichberechtigung am Arbeitsplatz erreicht wird.

Aggressiver Feminismus bedeutet also: Jetzt sind wir dran? Richtet euch endlich nach uns?

Leonard: Feminismus ist für mich eine Bewegung, die noch viel kompromissloser geführt werden muss, als es aktuell der Fall ist. Die letzten Jahrhunderte hat der Mann bestimmt und er tut es noch immer. Sehen Sie sich das Berliner Gallery Weekend an: Es wird zu 75% von weißen männlichen Künstlern dominiert. Und ich könnte 1000 weitere Beispiele nennen. Also sind jetzt wir dran – sonst kommen wir nicht vorwärts.

Daher stehe ich für einen aggressiven Feminismus ein – womit ich nicht gewalttätig, sondern fordernd meine. Ich bin Feministin, weil es viel zu tun gibt. Nicht weil ich oder die Gesellschaft den Idealzustand schon erreicht hätte. Der Idealzustand wäre, wenn ich mich Humanistin nennen könnte. Wenn das Geschlecht keine Rolle mehr spielen würde, wenn wir nicht mehr über Gleichberechtigung sprechen müssten. Aber bis dahin dauert es noch eine Weile.

Demonstration in den USA - Chloe S - CC0 unsplash
Aggressiver Feminismus meint vor allem: fordernd, nicht gewalttätig
CCO unsplash, Chloe.S

Klingt in der Theorie alles toll, aber wie sieht es im Alltag bei Ihnen Zuhause aus? Wer holt Ihre Kinder von der Kita? Wer verdient mehr? Leben Sie Ihre Forderungen?

Leonard: Jein. Ich fühle mich als Work-in-progress-Feministin. Mal gelingt es mir, nach meinen eigenen Maximen zu leben. Aber ganz oft auch nicht. Und das ist vor allem nochmal komplizierter geworden, seit ich Kinder habe. Das System in Deutschland ist nicht für Frauen gemacht, die mehr sein wollen als Mütter. Außerdem stecken wir alle in alten Rollenbildern fest, die nur schwer zu löschen sind und in allen möglichen Alltagssituationen sofort das Ruder übernehmen: Wer rennt also nach der Arbeit los, um noch Windeln zu kaufen? Sicher nicht mein Mann.

Aber genau aus diesen Situationen lerne ich, unsere Verhaltensmuster zu hinterfragen. Seien wir doch mal ehrlich: Wir Frauen um die 40  behaupten so oft und gerne, dass wir gleichberechtigte Partnerschaften führen. Aber bei der Mehrheit ist das überhaupt nicht der Fall. Sich als Paar und als Frau Fragen zu stellen, ist der erste Schritt zur Veränderung:  Warum mache ich mehr im Haushalt als mein Mann und wie lässt sich das ändern? Warum arbeite ich weniger als er, verdiene weniger als er? Warum schätze ich meine Leistung im Haushalt geringer ein als die Arbeit meines Mannes?

Wenn wir uns diese Fragen ehrlich beantworten, ist das wie eine Befreiung. Es steht in unserer Macht, das System zu ändern.

Dann habe ich vielleicht erreicht, dass mein Mann an die Windeln denkt – aber trotzdem verdiene ich immer noch weniger als meine männlichen Kollegen.

Leonard: Der Pay Gap ist Aufgabe der Politik, er muss dringend gelöst werden. Im Vergleich zu anderen Ländern schneidet Deutschland nach wie vor miserabel und unter dem Durchschnitt in der EU ab! Aber die Wirtschaft wird das alleine niemals regeln. Wir brauchen auch auf politischer Ebene ein Umdenken: Wir brauchen nicht nur mehr Frauen in Führungspositionen, sondern vor allem mehr Männer zu Hause. Also macht es endlich attraktiv, Hausmann zu sein!

Erkennt den Wert von unbezahlter Arbeit an und macht gesellschaftliche Aufgaben für Männer endlich erstrebenswert. Sorgt dafür, dass klassische Frauenjobs besser bezahlt werden. Dazu stehen viele Mittel zur Verfügung: Steuernachlässe, Benefits für die Rente oder Ähnliches. Kümmert euch darum, dass die finanzielle Verantwortung einer Familie nicht mehr nur auf dem Rücken des Mannes liegt.

Erhöht die Akzeptanz für Männer, die Elternzeit nehmen, halbtags arbeiten oder keine Lust auf Karriere haben. Es liegt an euch, Politikerinnen und Politiker! Werdet radikaler, dreht das Rad des Wandels schneller.

Ist es dann auch ein richtiger Schritt, dass Männer ab jetzt weniger Unterhalt zahlen sollen?

Leonard: Von der Idee her, ja. Aber das Problem ist das System: Noch immer sind Frauen diejenigen, die mehrheitlich in Elternzeit gehen, ihre Arbeitszeit verkürzen und Karriere einbüßen.

Wenn es dann zur Trennung kommt, stehen Frauen in der Regel finanziell viel schlechter da. Das geht gar nicht! Solange es dieses Ungleichgewicht gibt, halte ich überhaupt nichts davon, Männer weniger Unterhalt zahlen zu lassen. Das ist übrigens eine Frage der Gerechtigkeit, weniger der Gleichheit.

Sie sind selbst Mutter, arbeiten als Regisseurin und sind künstlerische Leiterin des Zentrums für Politische Schönheit. Die Performance-Künstlerin Marina Abramovic hat mal gesagt, Mutter zu sein, bremse die künstlerische Karriere aus. Können Sie mit Kindern noch Kunst machen?

Leonard: Der Wandel von Frau zur Mutter ist extrem. Ich habe meine Freiheit sehr geliebt und eine Familie zu haben, schränkt das erst einmal ein. Aber die Kinder haben in keinem Fall meine künstlerische Karriere gebremst – im Gegenteil. Begrenzt Zeit zu haben, inspiriert mich, sie gezielter zu investieren. Durch meine Kinder habe ich gelernt, radikal für mich selbst zu sorgen. Wenn du neben Kindern noch was auf die Kette kriegen willst, zwingen sie dich zu einem positiven Egoismus.

Du lernst zu priorisieren, was ist wichtig und was später erledigt werden kann. Du wirst zielstrebiger. Und da bin ich kein Einzelfall. Alle befreundeten Mütter in meinem Umkreis haben mit Geburt ihrer Kinder erst so richtig losgelegt. Kinder zu haben, bedeutet, das Leben zu bejahen. Und Leben und Kunst lassen sich nicht trennen. Das Leben beflügelt einen, es stärkt die innere Haltung.

Ich kenne nur wenige Frauen, die nach der Geburt ihrer Kinder nicht eingeknickt sind und ihre Karriere an den Nagel gehängt haben.

Leonard: Es ist eine Frage der Vorbilder. Wir brauchen starke, zufriedene Mütter und Künstlerinnen, an denen wir uns orientieren können. Bei meiner letzten Produktion für das Zentrum für Politische Schönheit waren wir fast ein reines Frauenteam, darunter einige Mütter. Unsere jungen Praktikantinnen haben uns später gesagt, wie wichtig es für sie war, Mütter zu erleben, die für ihre Arbeit brennen. Und die nicht permanent am Telefon hängen, um zu checken, wie es zuhause mit den Kindern läuft.

Es hat ihnen Mut gemacht, zu erfahren: Kunst und Familie sind vereinbar. Auch, wenn zwischendurch Schulstreik ist, die  Kinder krank werden oder der Mann beruflich eingespannt ist – wir haben das als künstlerisches Team abgefangen und vereinbart.

Das klingt fast so wie das afrikanische Sprichwort: “Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind großzuziehen.”

Leonard: Ich verzweifle an diesem westeuropäischen Keinfamiliendenken. Kinder groß zu ziehen, ist ein ganz und gar kollektiver Prozess. Das ist gut für die Kinder und vor allem für die Mütter. Warum rennen wir immer alle um 16 Uhr los, um unsere Kinder allein aus dem Hort zu holen? Viel schöner und einfacher wäre es doch, uns abzuwechseln, uns gegenseitig in der Erziehung unter die Arme zu greifen: Heute ich, morgen du.

Das hieße aber auch: Wir müssten viel mehr lernen, nach Hilfe zu fragen.

Leonard: Wir müssen uns vor allem endlich mal vom deutschen Mutterbild verabschieden und ein neues Bild für uns entwickeln. Das hat auch mit Mut zu tun. Aber Mut ist wie ein Muskel, er kann ständig trainiert werden. Da hilft es, sich eine Armee von Vorbildern zuzulegen.

Sich durch ein politisches, gesellschaftliches Umfeld in seinen Meinungen und Haltungen stützen zu lassen. Freundinnen zu unterstützen, anstatt sie zu kritisieren. Sich durch ungewöhnliche Biografien inspirieren lassen. Denn solche Biografien machen Mut, sie leben uns ein anderes, ein mutiges Frauenbild vor. Und das ist so wichtig!


Autorin: Nina Schmulius ist freie Autorin und unterrichtet Schreiben im Studiengang Multimedia Production an zwei Schweizer Hochschulen. Sie lebt in Berlin.

Fotos: Inga Aleknaviciute


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