Nudging: Ich mach mir die Welt widewide wie sie mir gefällt

Nina und Svenja stellten in unserem Blog auf beeindruckend einfache Weise dar, wie Rassismus, die Leugnung des Klimawandels und andere Unerträglichkeiten auf menschlichen Instinkten beruhen, die aus der Steinzeit kommen und ebendort auch einmal einen wirklichen Zweck erfüllt haben. Menschen, die anders waren als wir, gehörten einem verfeindeten Stamm an – wir haben uns daran gewöhnt sie zu hassen. Gefahr ist für uns etwas großes, brachiales wie ein Mammut aber nicht ein schleichender Prozess wie der Klimawandel.

Da liegt es doch nahe, dass wir, wenn wir die Welt verbessern wollen, den Menschen an genau diesen Instinkten packen und ihn mit cleveren Mechanismen in die richtige Richtung schubsen oder eben „nudgen“, wie der Fachbegriff dafür heißt. Ein plakatives Beispiel dafür ist das Bild einer Fliege, das auf die Keramik einer Stehtoilette angebracht ist. Der Mann zielt in seinem Jagdinstinkt gerne auf Dinge und ist die Fliege nah am Abfluss abgebildet, dann voila: lassen sich die Reinigungskosten um 80% verringern.

Nudging mit Fliege

Zugegeben: Ein vielleicht größerer Gegner des Nudgings ist nicht eine phlegmatische Bevölkerung, sondern eine gigantomanische Nudgingmaschinerie von gegenteiligen Botschaften: Werbung! Nudging könnte diese Botschaften ausgleichen – Als manipulativer Anwalt des Konsumenten.

Drawing the line

So einfach wie genial. Noch ein Beispiel? Wie wäre es mit langsamen Aufzügen in Mehrfamilienhäusern, sodass die (fitten) Bewohner genervt zu Fuß gehen und so fit bleiben.
Klingt nicht nur toll, oder?

In dem Konzept des Nudging steckt eine Menge Potential, doch wie beinahe jede Technologie (und nichts anderes als ein technologisch-mechanisches Konzept ist das Nudging) ist Nudging weder gut, noch schlecht, noch neutral, wie der Technologiehistoriker Melvin Kranzberg mal sagte.

Denn genauso, wie Nudging das Potential hat, den Steinzeitmenschen in uns zu zähmen, indem zum Beispiel Rassismus durch den Abbau von Gruppenidentitäten bekämpft wird, kann Nudging die Anmaßung einer gebildeten und gut verdienenden, vermutlich auch ziemlich weißen, Elite sein, die zu wissen glaubt, was objektiv für andere Menschen besser ist. Denn die Nudger, die behaupten, den Menschen nur zu dem verhelfen zu wollen, was sie ohnehin selbst wollen, können nicht für alle sprechen.

 

„Der Geist ist willig doch das Fleisch ist schwach“

Nudging macht uns gesünder, wenn es zum Beispiel dafür sorgt, dass wir weniger Salz benutzen oder öfter zu gesunden Produkten greifen, wenn an der Quengelecke vor der Kasse z.B. Obst und nicht Schokolade steht. Wer würde das nicht wollen? Dass wir doch schwach werden, ab und an, ist ja nicht von uns gewollt.

Nudging schafft es, unsere Schwächen zu überwinden. Und dadurch werden wir alle optimiert. Wenn das so einfach wäre: Eigentlich sagen wir damit ja, dass Menschen die Zucker, Tabak oder Salz konsumieren schwach sind und wir diese Menschen in der Form nicht akzeptieren wollen. Es ist ein Schubsen mit freundlichem Lächeln. Aber es ist immer noch ein Schubsen. Ein Schubsen mit dem wir einen ziemlichen Einfluss auf individuelle Lebenskonzepte üben, den uns so niemand erlaubt hat.
Wie könnte man Nudging so gestalten, dass der explizite und individuelle Wille beachtet wird? Dass man ankreuzen kann, wann man doch eins, zwei, vierzehn Bier trinken möchte. Und ganz nebenbei: Wie kann man in einer möglichen durchgenatschten Welt, die Schönheit der Grenzübertretung und die Lust am unvernünftigen Exzess sichern?

 

Kennen wir eigentlich die Richtung?

Ein umfangreiches Nudging-Programm bräuchte ein Konzept, was nicht weniger bedeuten würde als: eine ziemlich genaue Vorstellung einer besseren Welt. Haben wir die? Und wollen wir die haben? Vielleicht ist es schön, wenn jeder oder bestimmte Gruppen ihre Utopien haben, die sich hier und da überlappen, klar. Aber ist es erstrebenswert, eine große Utopie zu haben, derer sich alle unterzuordnen haben? Nehmen wir einmal an, wir könnten durch Nudging die Menschen so zum gesunden Konsum erziehen, dass es keine übergewichtigen Menschen mehr gibt. Alle hätten einfach verdammt geile Körper. Wollen wir eine Welt, in der Menschen mit anderen Körpern nicht mehr existieren? Wären wir überrascht, wenn dann andere Merkmale wie die Farbe der Augen Abgrenzungsmerkmal wären?

Das ist eine Frage des moralischen Wissens. Daneben existiert aber noch die Frage des faktischen Wissens: Hätten wir Anfang des letzten Jahrhunderts Menschen dazu genudget, ihre Pferde schneller anzutreiben, ohne zu wissen, dass kurz danach die Autos kamen? Oder Kokain zu nehmen, weil wir damals die Folgen nicht einschätzen konnten? Kaum eine bemerkenswerte Entdeckung resultierte aus Planung und Absicht, die meisten waren das Ergebnis maximalen Rumprobierens, ob es um die CD geht oder auch um soziale Lösungen, denen viele Debatten vorangingen zum Beispiel dem Rentensystem.

Wie können wir also Nudging so gestalten, dass es eine Offenheit lässt? Für eine Mehrstimmigkeit der Utopien und für Innovationen?

Menschenwürde – kein Konjunktiv

Was ist das nochmal diese Menschenwürde, diese unantastbare? Würde heißt, dass der Mensch immer „Zweck an sich“ ist und nie nur Mittel zum Zweck sein darf. Zum Beispiel unbewusster Diener einer Gesellschafts-Vision. Wann schwingt man sich mit Nudging-Programmen aber zu einem Führer des Guten auf? Wann kippt so ein Programm ins autokratische, dass die Würde des Einzelnen einem höheren Ziel opfert?

Nudging, verstanden als clever positionierte Anregungen, sind natürlich noch lange nicht Teil eines faschistischen Horrorstaats. Anregungen sind erlaubt und gewollt. Wozu forschen wir an der menschlichen Psyche und vielen anderen Dingen, wenn es nicht dem Guten dienen soll? Wozu gehen Menschen in die Politik, wenn es nicht den Menschen helfen soll besser zu werden? Vielleicht liegt der Unterschied genau zwischen eben geschickten Anregungen, die uns auch auf einer instinktiven Eben ansprechen, und vollkommen verstecken Manipulationen.

“Wer auf die Welt gekommen ist, sie ernstlich und in den wichtigen Dingen zu belehren, der kann von Glück sagen, wenn er mit heiler Haut davon kommt.” – Schopenhauer

Der Unterschied zwischen Anregungen und Manipulationen ist, dass Anregungen als solche explizit gekennzeichnet sind und nicht durch die Hintertür kommen. Wie könnte man Nudging kennzeichen? Würde es dann heißen „Achtung: Auf dieser Herrentoilette wird genudgt“?

Anregungen können auch diskutiert werden und hier liegt vielleicht eine zentrale Schwachstelle des Nudgings: Wenn politische Mechanismen ins unterbewusste verlegt werden, kann ein bewusster Wandel dadurch niemals erreicht werden. Wenn die Menschen nur noch Gemüse essen weil das strategisch gut positioniert ist oder nur noch ins Becken urinieren weil da eine Fliege klebt, ist es dann überhaupt wirklicher “Social Change”?

Letztendlich ist es vielleicht auch eine Frage der Dosis (die bekanntlich das Gift macht): Wollen wir eine Gesellschaft die von intelligenten Nudgern/Beeinflussern und hörigen Genudgten abhängig ist, oder mündige Bürgerinnen? Steht radikales Nudging mit den hintergründigen Mechaniken einem bewussten gesellschaftlichen Wandel nicht am Ende sogar im Weg?

Damit sich aber beides die Hand gibt, muss Nudging auf die oben genannten Fragen eingehen.

Zum Weiterlesen:
Cass Sunstein, Nudge: Improving Decisions About Health, Wealth, and Happiness

 

Die Autoren: Marius Hasenheit und Hans Rusinek sind Redakteure beim transform Magazin
Beitragsbild Unsplash.com// CC0 Frank McKenna

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