Foto: Hirosaki, Japan (Archivbild) von Bo Kim (CC0 unsplash)
Foto: Hirosaki, Japan (Archivbild) von Bo Kim (CC0 unsplash)

Sind das Bürgerrechte oder kann das weg?

“Demokratie stirbt in der Dunkelheit“ haben sie uns gesagt. Offenbar werden Demokratien im März 2020 aber auch während Telefonkonferenzen und vor laufenden Kameras ernsthaft versehrt. Unser Gastautor Mario Münster wundert sich darüber, wie wir uns die Grundrechte in Krisenzeiten nur allzu leicht abnehmen lassen.

Sie wollen die Menschen vor sich selbst schützen, sagen sie. Sie meinen damit vor allem offenbar die Rücksichtslosen und die Denkfaulen. Die Einschränkung von Bürgerrechten aber sollen wir angesichts einer Pandemie alle in Kauf nehmen.

 Ehrlich gesagt: An jeder Wahlurne gibt es Menschen, die man vor sich selbst schützen müsste. Ebenso an der Fleischtheke im Supermarkt, auf der Autobahn oder im Ein- und Aussteigebereich eines ICE. Da sind überall Menschen, deren Freiheitsrechte ich manchmal gerne einschränken würde. Nicht nur weil sie eine Gefahr für sich sind, sondern weil ihr Verhalten ein Problem für die Allgemeinheit ist. Mal nervt es nur, mal kostet es Menschenleben, mal belastet es das Gesundheitswesen. Um im Sprachbild dieser Tage zu bleiben: In jedem Fall lassen diese Menschen mit ihrem Verhalten Kurven eskalieren, für deren Anstieg die Gemeinschaft kollektiv haftet.

Es gäbe immer einen Grund, Menschen vor sich selbst zu schützen

Ich habe meinen Frieden damit gemacht, dass ich in einer freiheitlichen Gesellschaft mit dieser Ungerechtigkeit leben muss. Das man denjenigen, die sich unsolidarisch und unverantwortlich verhalten, eben nicht einfach ihr Grundrecht aufs Asozial-Sein wegnehmen kann. Was jetzt passiert, wird diejenigen, denen das Gemeinwohl eh egal ist nicht zu besseren Menschen machen. Diejenigen, die eh schon an andere und das große Ganze denken, werden weiter verunsichert.

Über die Einhaltung dieser neuen zutiefst verstörenden Regeln, die in unser Grundrecht auf Freizügigkeit und die Freiheit der Person eingreifen, soll eine eh schon hoffnungslos schlecht ausgestattete Polizei wachen und ich beneide diese Menschen wirklich nicht. Hinzu kommt: Wer wie ich regelmäßig mit dem Zug die Grenze Richtung Italien oder Frankreich überquert und bei den Grenzkontrollen in den Waggons sieht, wer dann nach seinen Papieren gefragt wird und wer nicht, der weiß, was Racial Profiling ist. (Polizeikontrollen auf Basis von offensichtlich rassistischen Annahmen.) Mir schwant da nichts Gutes für die kommenden Tage.

It’s the Verhältnismäßigkeit, Stupid

Bundes- und Landesregierungen holen sich im Moment viel Rat von Virologen. Das ist auch richtig so. Ich würde mir wünschen, wenn in diesen Terminen auch verstärkt andere Expertinnen und Expertinnen und Experten sitzen: Psychologen, Soziologen, Anthropologen, Verfassungsrechtler. Wer schon mal eines dieser hässlichen Ikea Wabenregale zusammengebaut hat, der weiß: Wenn man mit viel Mühe erreicht hat, dass das Ding an einem Ende hält, ist es oftmals am anderen Ende aus dem Leim gegangen. Es zerlegt sich selbst in seine Einzelteile.

Politische Entscheidungsfindung muss in Zeiten wie diesen einen 360 Grad Blick haben, der weit über die nahe Zukunft hinaus geht. Sonst geht hier was aus dem Leim.

Freiheit wird nicht im Guten auf die Probe gestellt

Was konkret aus dem Leim zu drohen geht ist dabei die Balance zwischen Freiheit und Sicherheit. Natürlich ist das immer eine Herausforderung für freie Gesellschaften – diese Debatte kennen wir noch aus den Tagen als es um geeignete Antworten auf die Bedrohung durch Terrorismus ging: Gesichtserkennung, Flughafenkontrollen, Fingerabdruck im Pass etc. Was konkret droht, wenn diese Debatten einseitig zu Gunsten der Sicherheit ausgehen ist vielerlei: Schon jetzt gibt es Berichte nach denen Mobilfunkanbieter dem Robert-Koch-Institut anonymisierten Bewegungsdaten zur Verfügung gestellt haben, um unsere Bewegungsverhalten zu prüfen.

Der gedankliche nächste Schritt hin zur Überprüfung der Bewegungsdaten von Infizieren scheint momentan nicht allzu verwegen und dystopisch. Konkret betreffen die aktuellen Regelungen auch unser Grundrecht auf Freizügigkeit und die Freiheit der Person. Der Staat darf auch in der aktuellen Ausnahmesituation nur in unsere Grundrechte eingreifen, wenn es als verhältnismäßig eingeschätzt.

Und genau diese Verhältnismäßigkeit sollte von möglichst vielen Seiten beleuchtet werden. Und wo immer wir diese Verhältnismäßigkeit nicht gegeben sehen, sollten wir das auch so sagen. Denn auch das gehört zu einer Demokratie, so wie sie Angela Merkel in ihrer TV-Ansprache beschrieben hat.

Die aktuelle Lage wird überall in Deutschland Menschen an den Rand ihrer Existenz bringen. Viele wird sie über diesen Rand hinaus in einen bodenlosen Abgrund stürzen. Diejenigen, die „Politiker“ eh schon immer scheiße fanden, werden sich in ihrem Tunnelblick bestärkt fühlen. Andere, wie ich, die ein gewisses Vertrauen in politische Institutionen haben, fühlen sich nun im Stich gelassen. Stellen wir uns eine Wahl in solchen Zeiten vor: Sie wird unweigerlich populistische Parteien stärken. Was passiert dann eigentlich, wenn all die neuen Regeln und Verordnungen auch dann noch gelten, wenn wir es mit populistischen Regierungen zu tun haben?

Ich war mir immer sicher: Die Qualität von Demokratie und Freiheit wird nicht im Guten auf die Probe gestellt, sondern in schwierigen Zeiten. Nun sind die Zeiten außerordentlich schwierig und der erhoffte Schutzschirm, den uns Demokratie und Bürgerrechte in solchen Zeiten bringen sollte, wird zunehmend löchrig.

Um hier nicht missverstanden zu werden: Mir geht’s nicht um generelles Politiker-Bashing. In Bund und Ländern werden in diesen Tagen in größter Hektik sehr viele kluge Entscheidungen getroffen und all jene, die hier mal wieder rund um die Uhr arbeiten, haben meinen größten Respekt und Dank. Ich möchte nicht mit ihnen tauschen. Wir sollten jedoch nicht alles als alternativlos durchgepeitschte unwidersprochen hinnehmen. Demokratie lebt davon, dass wir unsere Stimme erheben. Auch aus der Isolation heraus.

Und was können wir jetzt machen?

Jetzt willst du dich für Bürgerrechte und gegen Racial Profiling einsetzen? Gut! Alles beginnt damit, dein Unwohlsein auszudrücken: In der Familie, im Freundeskreis: Wie wäre es, im WhatsApp Gruppenchat einen schlechten Klopapierwitz weniger zu posten und stattdessen auf deine Sorge um die Demokratie hinweisen?

Sensibilisieren, das ist ein Anfang. E-Mails an Abgeordnete in Bund und Ländern helfen, um auf ein Thema aufmerksam zu machen. Organisationen wie Amnesty International, Human Rights Watch oder die Gesellschaft für Freiheitsrechte sind die geeigneten organisierten Lobbyisten für Menschenrechte und auch beim Thema Racial Profiling die richtigen Ansprechpartner.


Gastautor Mario Münster ist unabhängiger Berater für strategische Kommunikation und Content Creation. In den vergangenen 20 Jahren beriet er Parteien, Ministerien, NGOs und Unternehmen bei der Kommunikation gesellschaftlich relevanter Themen. Von 2013 – 2017 war er Mit-Herausgeber des Gesellschafts-Magazins Rosegarden.

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