So lasset uns raven

Religion bedeutet Abstinenz, Buße und Langeweile? Von wegen! Ohne religiöse Hingabe wäre die Welt vielleicht eine friedlichere, aber auch um einige Partys ärmer.

Der Alltag auf Erden kann schrecklich dröge sein: Aufstehen, Arbeit, Netflix, Schlafen. Im Englischen wird diese Monotonie des Daseins als daily grind bezeichnet, eine hübsche Metapher: Das tägliche Zerrieben-Werden. Teil der Konventionen, die das Leben zur Plackerei machen können, ist vielerorts auch die Religion. Der rechte Glaube bedeutet schließlich oft, den irdischen Freuden im Hier und Jetzt zu entsagen – zugunsten der ewigen Party im Jenseits. So sind religiöse Alltagsrituale oft vorhersehbar fad: Das Tischgebet folgt festen Formeln, der Muezzin verhindert erst das Ein-, dann das Ausschlafen, und sonntags ist Mitsingen zwar willkommen, aber man muss sich doch bitte ans kirchliche Liederbuch halten.

Dabei sind es gerade die Religionen, die vielen Menschen seltene Gelegenheiten bieten, aus dem Alltag auszubrechen. Für Bürgerinnen und Bürger westlicher Großstädte mögen Jesus-Partys etwas albern wirken. Selbst die funkensprühenden, basswummernden Gottesdienste moderner Freikirchen reichen nicht wirklich ans Berghain ran. Doch viele Millionen Menschen weltweit verdanken dem Glaubenseifer die einzigen Festivals und Partys weit und breit. Wer in einem Armenviertel von Jakarta lebt, muss nicht selber fromm sein, um das fröhliche Straßenfest zum Ende des Ramadans zu genießen.

Ein Gospel-Sonntag ist besser als keine Party

Die Religionen haben das Feiern freilich nicht erfunden. Sonnwendfeiern, Erntefeste und Hochzeiten kommen auch ohne Götter und Geister aus. Zur Eskalation kommt es jedoch erst mit der eifernden Hingabe der Gläubigen zu einer höheren Macht, die genau beobachtet, was die Menschen da treiben. Wer auf dem Erntefest müde ist, verteilt Küsschen und geht halt schlafen. Wo aber die Feiernden überzeugt sind, ausdrücklich für das Wohlgefallen des Herrn zu singen und zu tanzen, da nimmt der Wahnsinn mitunter seinen Lauf.

Da sind die Sufis, muslimische Mytiker, die sich bei Gesang und Getrommel über Stunden in Trance wirbeln, um mit Allah in Kontakt zu treten. Oder die christlichen Pfingstkirchen, die mit eigenen Pop-Rock-Bands die Gläubigen in ein Spektakel mitreißen, das auch mal den ganzen Tag andauern kann. Ob damals einer übers galiläische Wasser gelaufen ist oder nicht? Egal, die Musik fetzt und alle tanzen – Halleluja!

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Religiös motivierte Maßlosigkeit herrscht auch am Purim-Fest, das oft als jüdischer Karneval bezeichnet wird und an die Errettung der jüdischen Bevölkerung im antiken Perserreich erinnert. Gemäß rabbinischer Tradition gilt an diesem Tag im Jahr bis heute – verkürzt gesagt – die Anweisung, Krach zu machen, zu schlemmen und, nicht zuletzt, sich anständig zu betrinken. Würdevolle Rabbis, die freudelallend nach Hause wanken, haben an Purim ihre religiöse Pflicht getan. Ein doppelter Gewinn, möchte man meinen.

Noch eine Schippe drauf legen die israelischen »Na Nachs«. In der religiösen Praxis dieser anarchisch-jüdischen Sekte spielt – rund ums Jahr – unbedingte Fröhlichkeit eine zentrale Rolle. Unter Berufung auf einen Ausspruch des Propheten Jesaja (»Denn ihr sollt in Freude ausziehen«) gilt die demonstrative Freude als religiöse Pflicht, Feiern und Tanzen als Gottesdienst. Nur der Herr im Himmel weiß, wieso das in der Alltagspraxis ausgerechnet heißt: Schrill bemalte Lieferwagen und lautstarker »Na Nach-Trance«, ein skurriler Mix aus Techno und Gebetssprüchen.

Tanzen bis zum Kommunismus

Im säkular-rationalen Deutschland des 21. Jahrhundert finden sich vergleichbare Auswüchse kopfloser Extase freilich auch. Ohne den höheren Zweck – ich flippe aus, weil es Gott gefällt – fällt es vielen aber schwer, sich gehen zu lassen. Anstelle der Religion hilft da die politische Legitimation von Exzess: Party als aktiver Protest gegen die Leistungsgesellschaft. So waren linke Gruppen in den letzten Jahren vor allem deswegen so erfolgreich darin, Techno mit Politik zu verbinden, weil das Durchfeiern ganzer Wochenenden tatsächlich einem alternativen Lebensentwurf dient. Wer Montag früh noch tanzt, kann sich nicht ins neoliberale Haifischbecken einbringen. Genuss hier und heute statt allwöchentliches Frisch-ans-Werk, das ist bewusster Exzess im Namen der Entschleunigung des Kapitalismus.

Wo die Religion nicht mehr wirkt und politisch motivierte Partys fehlen, enthemmen sich die Mitglieder der säkularen Gesellschaft auf altbewährte Weise: durch Drogen. Durchtanzen bis zur Erschöpfung und selbstvergessenes Singen mit Fremden geht für Viele erst nach der zweiten Maß oder mit illegaler Chemie. Ob eine religiösere Welt unverkrampfter wäre? Würde die Enthemmung durch Drogen überflüssig? Vermutlich nicht. Aber immerhin, die Frommen haben jederzeit einen guten Grund zur Ekstase und zur Flucht aus dem grauen Alltag. Damit ließe sich behaupten: Religion ist Ecstasy fürs Volk.

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