Am 3. September sammelte sich eine bunte Menge von fast 70.000 Menschen in Chemnitz, um ein Zeichen gegen Rechtsextremismus zu setzen. Das Motto war “Wir sind mehr”, aber wäre die Botschaft “Es geht uns um euch” nicht die bessere gewesen?
Nichts finde ich peinlicher, als zum Beispiel am Ende eines Films zu weinen – niemand wird dies bei mir erleben. Anders aber am 3. September 2018 in Chemnitz: Es gab einige Momente beim “Wir sind mehr”-Konzert, an denen ich doch kräftig schlucken musste und dies gerne zugebe. Spontan hatten sich Zehntausende in eine Stadt aufgemacht, die sowohl auf der Landkarte als auch politisch nicht unbedingt im Zentrum unseres Blickfelds steht, aber durch rechte Randale ungewollt Aufmerksamkeit verpasst bekommen hat.
Das Konzert in Chemnitz mit einem beeindruckenden Line-Up hinterlässt unterschiedliche Eindrücke. Besonders im Gedächtnis bleiben wird mir ein eindringlicher Aufruf der Band Kraftklub, dieses Konzert könne Probleme nicht lösen, es könne nur ein Anfang sein. Und dass es wichtig sei, sich nicht alleine gelassen zu fühlen.
“Wir sind mehr” kann hier kein Argument sein
Einen fragwürdigen Eindruck hinterlässt bei mir das Motto der Veranstaltung. “Wir sind mehr” kann nicht alles sein, was wir Demokraten zu bieten haben, denn so werden wir irgendwann deutlich weniger werden.
Chemnitz hat turbulente Tage hinter sich. Zu wenig Polizei und zu wenig Widerstand gegen rechte Hetzer in den ersten Momenten, eine Lücke, in die Extremisten mit Verve vorstießen. Eine Stadt, in der das Gefühl, alleine gelassen worden zu sein, sich gleich auf mehreren Ebenen auszubreiten drohte. Diese Stadt bekam Besuch von zigtausenden, die die Botschaft mitbrachten “Ihr seid nicht allein!”.
Es ist in meinen Augen diese Botschaft, die hängenbleiben muss. Und die dahinter liegende Aussage: Es geht uns um euch. Über die Problemlage in (nicht nur den) ostdeutschen Ländern ist viel gesagt worden. Es gibt dazu intelligentere Analysen als ich sie leisten könnte. Man darf beispielsweise gespannt sein auf das Buch der sächsischen Integrationsministerin Petra Köpping “Integriert doch erst mal uns!”, einem Erfahrungsbericht aus vielen Gesprächen mit Menschen in Sachsen, die sich alleine gelassen fühlen. Wir können allerdings davon ausgehen, dass sich diese Erfahrungen in ähnlicher Weise bei Menschen in ganz Deutschland beschreiben lassen.
Ein Neues Miteinander
Was kann man einem Gefühl des Alleinegelassenseins entgegensetzen, das sich nach Jahrzehnten neoliberaler Politik ausgebreitet hat? Als Folgen einer Ideologie, in der jeder und jede sich selbst der oder die Nächste ist und möglichst viele Risiken von der Gemeinschaft auf die Einzelnen abgewälzt werden?
Eine Möglichkeit ist es, nach dem Staat zu rufen, der ein zentraler Akteur dieser Ideologie war und ist. Natürlich kann der Staat hier vieles reparieren, aber unsere Idee vom Staat ist Teil des Problems: Der Staat mit seinen Institutionen ist kein fernes etwas, kein Götze, dem man ein Opfer darbringen muss, um ihn freundlich zu stimmen. Der Staat ist das Instrument unserer Gemeinschaft, um Fairness herzustellen und unser Gemeinwohl zu stützen. Der Staat ist aber nur Teil der Antwort.
Eine Gemeinschaft kann man nicht anders denken, wenn die neoliberalen Denkmuster in den Köpfen bestehen bleiben, ob in der Verwaltung, auf der Arbeit oder in den politischen Leitungspositionen. Es braucht auf allen Ebenen ein Neues Miteinander, ein füreinander einstehen, ein aufeinander achten, ein um einander kümmern. So, wie viele Menschen es in Vereinen, Initiativen, Genossenschaften und andernorts leben. Dieses Gefühl muss die Gesellschaft durchdringen und das neoliberale Gedankengift verdrängen.
Wer sind “wir”, wer seid “ihr”?
In diesem Neuen Miteinander sind wir alle Akteure. “Es geht uns um euch” steht nicht für ein anonymes “Es”, eine Servicestelle oder ein Unternehmen, das gegen Bezahlung Wohltaten verteilt. “Wir”, das sind diejenigen, die in der Lage sind, sich zu kümmern, alle nach ihrem Vermögen. “Ihr”, das sind diejenigen, die in einer misslichen Lage sind und ein horchendes Ohr und eine helfende Hand brauchen. Das sind keine festgeschriebenen Rollen: Heute kann ich mal “wir” sein, morgen “ihr”.
Insofern ist ein konsequent zu Ende gedachtes Motto: “Es geht uns um einander”.
Die Grenzen dieses “um einander” müssen wir ausloten: Niemand soll zur Selbstaufgabe gedrängt oder gar gezwungen werden. Niemand soll sich komplett zurückziehen dürfen mit der Erwartung, andere würden die nötige Sorge tragen. Diese unscharfen Grenzen werden immer wieder neu ausgelotet werden, mal scherzhaft, mal schmerzhaft. Allemal besser auf jeden Fall, als die Welt und unsere Mitmenschen sich selbst und ihrem Schicksal zu überlassen.
Die Idee ist schon lange da. Der Weg in ein Neues Miteinander wird von vielen bereits gelebt. Für die anderen heißt es jetzt nur noch: Aufbruch.
Beitragsbild: CC-BY, Oliver Czulo
Edit 2018-09-05 07:09: “dass/das”-Tippfehler verbessert, “Leitungspositionen” zu “politischen Leitungspositionen” präzisiert