Der Mann, Maß aller Dinge

Unsere Welt ist für den männlichen Körper gemacht – ob im Straßenverkehr, auf der Arbeit oder im Krankenhaus. Die Folgen für Frauen sind gravierend, manchmal tödlich.

Mir ist kalt. Ich habe dicke Socken mitgebracht, unter dem Schreibtisch liegt wie immer eine Decke. Den Schal habe ich bis unter die Nase gezogen, ich bin von oben bis unten eingepackt. Nur meine rechte Hand lugt noch aus dem Ärmel hervor, um die Maus zu bedienen. Und sie ist ein eiskaltes Händchen.
Zugegeben: Ich bin vermutlich verfrorener als viele andere Menschen. Aber ich bin nicht die einzige Frau, die im Anorak am Schreibtisch sitzt, während der männliche Kollege im Hawaii-Hemd über den Gang schlendert. Dass es dafür einen ganz einfachen Grund gibt, habe ich erst mit 31 Jahren gelernt: Die Raumtemperatur ist nicht für mich gemacht. Sondern für einen Mann. Sie ist auf das Wärme- und Kälteempfinden eines 70 Kilogramm schweren 40-Jährigen ausgelegt – und damit im Schnitt fünf Grad zu kalt für Frauen, die einen langsameren Stoffwechsel haben.

Diesen Aha-Moment hat mir die britische Autorin und Aktivistin Caroline Criado-Perez beschert. In ihrem Buch ›Unsichtbare Frauen‹ aus dem Jahr 2020 zeigt sie auf, wie eine von Daten beherrschte Welt die Hälfte der Bevölkerung ignoriert. Der Mann ist in dieser Welt das Maß aller Dinge, im wahrsten Sinne des Wortes. Sein Körper gilt als Standard, als universelle Referenz, an der sich Design, Programmierung, Forschung und Entwicklung orientieren. Das führt zu einer Welt, in die Frauen nicht passen und die Frauen nicht passt. Die Folgen sind mal skurril, mal erschreckend.
Meine Nordpol-Ausrüstung im Büro zählt noch zu den harmloseren Beispielen, die Criado-Perez in ihrem Buch beschreibt. Obwohl auch hier ein zweiter Blick lohnt: Frierende Frauen sind weniger produktiv, die Temperatur am Arbeitsplatz hat direkte Auswirkungen auf ihre Leistung im Job. Aber der ›Gender Data Gap‹, also das Fehlen von Untersuchungen und Zahlen über den weiblichen Körper, kann auch tödlich enden.

Frauen haben ein 47 Prozent höheres Risiko, bei einem Verkehrsunfall verletzt zu werden als Männer. Obwohl sie insgesamt seltener in Verkehrsunfälle verwickelt sind, erleiden sie 17 Prozent häufiger tödliche Verletzungen. Warum? Weil Autos für Männer gebaut sind. Für die Zulassung eines neuen Fahrzeugs sind Crashtests mit Dummys vorgeschrieben, um die Auswirkungen eines Unfalls auf den menschlichen Körper zu simulieren. Lenkrad, Airbag, Kopfstützen oder Gurte werden so ausgerichtet, dass sie den Standardkörper ideal schützen. Dieser Standard ist auch hier: der männliche Körper. Menschen mit Brüsten, anderer Gewichtsverteilung, anderem Körperbau werden in Crashtests in der Regel nicht beachtet – und wenn überhaupt, dann werden solche Dummys auf dem Beifahrersitz platziert.
Frauen am Steuer sind anscheinend ebenso wenig vorgesehen wie Frauen in gefährlichen Berufen. Polizistinnen, Soldatinnen und Feuerwehrfrauen bekommen jeden Tag zu spüren, dass ihr Körper nicht passt. Ihre Schutzkleidung wird nicht für Frauenkörper entwickelt, sondern ist lediglich eine verkleinerte Version der männlichen Ausrüstung. Stiefel und Handschuhe sind dann oft zu locker, Schutzwesten sitzen an der Brust zu eng und schließen an Bauch und Rücken nicht richtig ab. Das ist kein Fashion-Problem. Statt zu helfen, wird die Arbeitskleidung zur Belastung. Die Frauen sind in ihrer Bewegung eingeschränkt, klagen über schmerzende Druckstellen und sind schlimmstenfalls bei einem Angriff nicht geschützt. Criado-Perez berichtet von einer Frau, die sich die Brüste verkleinern ließ, damit ihre Schutzkleidung besser passt. Statt dass also die Arbeitsausrüstung an die Bedürfnisse von Frauen angepasst wird, sehen sich Frauen gezwungen, ihren Körper anzupassen.

transform No 7 Crowdfunding
Dieser Text ist Teil unserer siebten Ausgabe. In der geht es um Körper in all seinen Formen und Farben, das Recht auf Selbstbestimmung, den Körper als Waffe und warum spritzende Vulven eine politische Dimension haben.

Zu viel Zyklus

Dramatisch sind die Auswirkungen des Gender Data Gap auch in der Medizin. Die schlechte Datenlage wird hier laut Criado-Perez oft damit gerechtfertigt, dass weibliche Körper zu kompliziert seien, um sie zu messen. Zu viele Hormone, zu viel Zyklus, zu viele Schwankungen. »Unkompliziert ist einfacher, unkompliziert ist billiger. Aber es bildet nicht die Realität ab«, schreibt Criado-Perez. Viele klinische Studien testen neue Medikamente fast ausschließlich an männlichen Probanden. In der Folge werden Medikamente frühzeitig verworfen, weil sie keine Wirkung oder negative Nebenwirkungen bei Männern zeigen – obwohl die Resultate bei Frauen völlig anders aussehen können. Umgekehrt werden Medikamente zugelassen, die zwar bei Männern wirken, bei Frauen aber fatale Folgen haben. So musste im Jahr 2000 der häufig genutzte Inhaltsstoff Phenylpropanolamin vom amerikanischen Markt genommen werden, weil er das Risiko von Blutungen im Gehirn erhöhte – bei Frauen, nicht aber bei Männern.

Die weiße Norm — Criado-Perez thematisiert in ihrem Buch die Marginalisierung von Frauen. Am Rande streift sie ein Phänomen, das Stoff für ein weiteres Werk liefern würde: Nicht nur unser Geschlecht hat Auswirkungen darauf, ob die Welt zu unseren Bedürfnissen passt. Es macht auch einen Unterschied, ob wir als ›weiße‹ oder ›Schwarze‹ Frau durchs Leben gehen. In den USA ist die Wahrscheinlichkeit, dass afroamerikanische Frauen bei der Geburt sterben, 243 Prozent höher als bei weißen Frauen. Und das gilt nicht etwa nur für schwarze Frauen, die sich in einer prekären finanziellen Lage befinden. Selbst afroamerikanische Frauen mit einem Hochschulabschluss sterben häufiger bei der Geburt als weiße Frauen ohne Hochschulabschluss. Unterschiede wie diese werden viel zu selten erforscht, weil es in den allermeisten Fällen schlicht keine Daten dazu gibt. Die Referenz, die universelle Norm, ist nicht nur der männliche Körper, es ist auch stets der weiße männliche Körper.

Oft herrscht in der Medizin bis heute die Annahme vor, der männliche Körper stehe universell für die menschliche Anatomie. So zeigen Schaubilder, wenn überhaupt, weibliche Fortpflanzungsorgane. Alle anderen Körperteile – vom Arm bis zur Zehe, vom Muskel bis zur Sehne – werden männlich bebildert, obwohl sich die Anatomie auch abgesehen von Hoden und Eierstöcken deutlich unterscheidet. Frauen sind eben mitgemeint.

Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass sich
die Geschlechtsblindheit auch bei der Diagnostik
fortsetzt. Bis heute werden Herzinfarkte bei Frau-
en oft nicht erkannt. Denn ihre Symptome gelten
als ›atypisch‹. Aber das sind sie nicht. Sie sind nur
anders als beim Mann. Nur eine von acht Frauen
zeigt bei einem Herzinfarkt die für Männer sympto-
matischen Brustschmerzen. Das führt immer wieder
dazu, dass bei der Diagnose wertvolle Zeit verloren
geht. Anders als das Klischee vermuten lässt, sind
Herzinfarkte aber alles andere als ein rein männli-
ches Phänomen. Herz-Kreislauf-Erkrankungen sind
in Deutschland, in den USA und in vielen anderen
Ländern die häufigste Todesursache für Frauen.
Und obwohl Frauen insgesamt seltener Herzinfarkte
erleiden als Männer, enden sie für Frauen häufiger tödlich. Warum? Vielleicht weil Frauen 50 Prozent
häufiger falsch diagnostiziert werden, wie eine Stu-
die in Großbritannien 2016 gezeigt hat.

Die Medizin macht sich mitschuldig

Die anatomischen Unterschiede zwischen den Geschlechtern sind substantiell und betreffen alle Teile des Körpers, vom Gewebe über die Organe bis hin zur zellulären Ebene. In der Forschung spiegelt sich das jedoch nicht wider. »Über Jahrtausende ist die Medizin von der Annahme ausgegangen, der männliche Körper könne die Menschheit als Ganzes repräsentieren. Infolgedessen haben wir eine riesige historische Datenlücke, was den weiblichen Körper betrifft. Und diese Datenlücke wächst weiter an, weil Forscher immer noch den dringenden ethischen Bedarf ignorieren, weibliche Zellen, Tiere und Menschen in ihrer Forschung zu berücksichtigen«, kritisiert Criado-Perez. »Frauen sterben und die medizinische Welt macht sich mitschuldig.«

Man sollte meinen, dass wenigstens beim Konsum Gleichberechtigung herrscht – der Markt regelt das schon. Aber auch hier werden die Bedürfnisse weiblicher Körper konsequent ignoriert. Smartphones werben damit, dass sie »gut in der Hand liegen«. Nur welche 6,7 Zoll umspannende Frauenhand soll das sein? Auch dass Spracherkennungssoftware mit tieferen Stimmen besser funktioniert als mit hohen, ist kein Zufall. Die Software wird mithilfe von Stimmdatenbanken geschult. Diese enthalten meist hauptsächlich männliche Stimmen. Die Folge: Die Spracherkennungssoftware von Google versteht männliche Stimmen mit 70 Prozent höherer Wahrscheinlichkeit als weibliche. Das ist lästig, aber auch gefährlich: »Spracherkennungssoftware in Autos beispielsweise soll unnötige Ablenkung vermeiden und das Fahren sicherer machen. Wenn
sie nicht funktioniert, kann sie die gegenteilige Wirkung haben«, schreibt Criado-Perez. Um das Problem zu umgehen, wird Frauen empfohlen, ihre Stimme zu senken und langsamer zu sprechen. Nicht die Technik wird angepasst. Die Frau soll sich gefälligst anpassen.

Criado-Perez beschreibt in ihrem Buch ein Patriarchat der Daten. Dabei betont sie: Die Diskriminierung findet oft nicht bewusst oder böswillig statt. Vielen Forschern, Designern und Planern fehlt schlicht die Perspektive. Sie vergessen einfach, dass es Frauen gibt. Die Lösung des Problems ist für die Autorin deshalb eindeutig: »Wir brauchen mehr Frauen in Positionen mit Macht und Einfluss.« Ihr Buch ist ein erster Schritt, die Datenlücke zu schließen. Die Welt braucht noch viel mehr Frauen wie Criado-Perez. Dann werden vielleicht irgendwann nicht nur die Frauen passend gemacht – sondern die Welt passt auch zu ihnen.

Texte: Hannah König
Illustration: Anna Gusella

Zur Person

Caroline Criado-Perez
Die britische Journalistin, Autorin und Aktivistin setzte sich dafür ein, dass die Queen nicht die einzige Frau ist, die auf einer britischen Banknote abgedruckt wird. Den Hass, der ihr danach entgegenschlug, nutzte sie, um Twitter dazu zu bringen, einen Button zur Anzeige von Missbrauch einzuführen.

Weiterlesen

Unsichtbare Frauen
Wie eine von Daten beherrschte Welt die Hälfte der Bevölkerung ignoriert. Caroline Criado-Perez. btb Verlag, München 2020.
tfmag.de/unsichtbar | randomhouse.de

Newsletter