Dreckig geleckt: Spurensuche in einem kippenden Kiez

Menschen machen Orte. Wer wo lebt, prägt die Umgebung mit. Positiv oder negativ? Für Alteingesessene liegt oft auf der Hand, wer das Problem ist. Zwei Nachbarn, zwei Welten.

In der Berliner Kurfürstenstraße wachsen jetzt spiegelnde Klötze aus dem Boden. Eleganz, Macht, ein Hauch von Dekadenz. Der alte Schöneberger Norden zeigt sich sonst in Heroinspritzen auf Spielplätzen, benutzten Kondomen von Freiern, Crackfolien, Pimmeltags, Essensresten, Kippenstummeln und Urin im Treppenhaus, illegalem Sperrmüll. Kein Viertel, in dem die Welt in Ordnung ist. Der riesige Sozialbau Pallasseum ist Stigma, Klischee-Videokulisse und Sehenswürdigkeit zugleich. Nicht weit entfernt säumen abends (zu) junge Prostituierte, beäugt von zwielichtigen Männergruppen, die Straßenränder. Unter der Bahntrasse an der Bülowstraße watet man seit jeher durch gefühlte Zentner Taubenscheiße. In diesem Kosmos landen Luxusimmobilien wie Ufos.

Den Begriff » Gentrifizierung « hat die Soziologin Ruth Glass geprägt. Er ist abgeleitet von » gentry «, der Bezeichnung für unteren Adel. Glass benannte damit in den 60er-Jahren den Prozess, dass eine Mittelschicht sich in relativ ärmlichen Arbeitervierteln ansiedelt. Für die Bedürfnisse der Besserverdienenden entsteht eine neue Infrastruktur, Mieten und Preise steigen. Die Stammbevölkerung kann diesen Wandel langfristig nicht mitmachen und wird verdrängt.

Schöneberger Norden
Der Schöneberger Norden ist ein dicht besiedelter Stadtteil, in dem viele Kulturen aufeinandertreffen. Die Kurfürsten- und Bülowstraße sind bekannt als Straßenstrich, an dem auch Minderjährige stehen. Strich und Drogenszene sorgen immer wieder für Konflikte mit Nachbarschaften. Sozialer Wohnungsbau ist verbreitet. Von 1999 bis 2020 war die Gegend ein Quartiermanagement Gebiet.

Schöneberg bleibt dreckig!

Die Gegend ist ein bisschen wie das alte Kreuzberg: Viele, die sie von früher kennen, blicken schaudernd und gleichsam nostalgisch zurück. Denn gerade kippt hier was. Stylisches Eigentum knallt gegen Drogen- und Strichermilieu, gegen Armut als Familienerbe. Hier war es immer rau, aber dieser Kontrast ist brutale Härte: Parallelwelten – die eine abgefuckt und schmuddelig, aber dennoch Heimat. Die andere geschniegelt und ungebraucht, als wäre das Preisschild noch dran. » Schöneberg bleibt dreckig «, sagt der Rapper Khrome. Und was, wenn nicht? Stirbt dann seine Seele? Berliner Identität, hart aber herzlich – ist Chaos nicht ein Teil davon? Wenn überall Ordnung herrscht, wo bleiben die, die den Dreck verursacht haben? Und: Wo sind die, die es geschafft haben im Leben, willkommen?

Dieser Text ist Teil unserer achten Ausgabe. In der geht es um Schmutz und Sauberkeit in allen gedanklichen Dimensionen, Phantasien, Putzkollektive und Lösungen für einem saubere Umwelt. Abgerundet wird das Ganze mit Tips für das Gute Leben, garniert mit einem Spritzer Rebellion.

» Harry « , Harald, 90 Jahre alt, Berliner Urgestein mit Hang zur Sentimentalität, Backstein, Zement, Stuckreste, Patina:

Scheiße, Mensch – hier macht man was mit. Pisse vor der Tür – alte Bekannte. Ich stemme mich am Straßenstrich gegen den Zerfall, um die Ecke von Handy Brüdaz und dem schlechtesten Döner-Pizza-Pasta-Laden der Stadt. Die jungen Mädels draußen sind wie ich Leid gewohnt. In uns investiert man nicht viel. Unser Charme ist hinter einer abgelebten Fassade verborgen. Ganz in der Nähe verschmelzen bonzige Familieninseln mit dem schwulen Kiez. Haben wir ein Problem? Man muss können mit Berliner Mischung und Berliner Schnauze. Also find ich. Mit Hippiekita, nackten Ärschen, aber auch Drama, das man eigentlich nicht sehen will. Gute Enden sind halt limitiert da draußen. Ekelst du dich vor den Hinterlassenschaften der schlechten?

Wer Hygiene wollte, blieb lange weg. Wer sich verwurzelte, ist ein Raubein wie ich – oder sieht die Sozialromantik dort, wo Nachbarschaften ihre Probleme selbst lösen. Krawalljunkies gehören schon so lange zum Klang der Straße, aber die Nomaden sind jetzt mehr geworden und niemand, den man leicht wieder los wird. Manchmal fühle ich mich wie eine der letzten Eisschollen, nach der tausend verzweifelte Arme greifen… Nun dieser neue Gast. Mein Oberstübchen ist nicht mehr ganz sauber, seit er dort wohnt. Seins schon lange nicht mehr. Er ist auch keine schöne Erscheinung, verlottert, weil er nirgendwo hingehört. Er zog ein, als es kalt war und hat sich da oben wie eine Straßentaube ein verdrecktes Nest gebaut. Niemand würde ihn einladen. Für die Hausgemeinschaft ist er unsichtbar. Sie finden nur seine Spuren, riechen seine Anwesenheit. Köttel im Treppenhaus. Ja, ehrlich. Er ist ein Schatten seiner selbst, sitzt im Verborgenen Psychosen aus, ein schlechter Geist. Das Viertel war schon immer voll Spukhäuser.

Die Neuen machen ihre Schotten dicht für die Geister. Mit kalten Mienen pokern sie gut. Sind sie die Zukunft und meine Zeit ist bald gekommen? » Die Kurfürstenstraße legt ihr schlechtes Image ab «, trällerte neulich so ein Kostümweibchen. Am Arsch. Eiskalt und berechnend – das waren früher nur die Gangster. Ich spüre meine Substanz bröckeln, höre meinen neuen Bewohner wieder leise murmeln und denke: Bleibt, ihr alle, trotz allem. Bleibt, solange ihr es euch irgendwie leisten könnt. Denn Bestandsmieten sichern mein Überleben. Lasst den alten Harry nicht mit den unheimlichen Neuen von gegenüber allein. Wohnen ist Rebellion, Mensch! Spende dein letztes Hemd für einen guten Zweck!

Liz, 5 Jahre alt, zugezogen, selbstbewusstes Understatement, Textilbeton, Stahl, Glas:

Manche verstehen nicht, was ich hier mache. Urbanes Feeling tanken, Urbanität atmen, urban design im urbanen Kiez. Ich strecke mich aus auf einem Filetstück in bester Stadtlage. Visionär. Mit mir kommt die Bequemlichkeit ins Viertel. Der Supermarkt: neu. Die Drogerie: neu. Stadt der kürzesten Wege, Sortimente für Leute mit wenig Zeit, aber großem Bewusstsein und gut gefüllten Portemonnaies: Premium-Veggie-Palette, kleingeschnittenes Gemüse mit 50 Prozent Preisaufschlag. Das geht jetzt. Kleine Fort- schritte im Viertel.

Ich sehe die urbane Elite kommen und gehen im Laden unten, wie Puzzleteile eines großen Bildes. Der Wohlstand zieht ein, die Probleme aus. Wir schieben sie vor uns her, bald sind sie nicht mehr sichtbar. Das ist der natürliche Lauf der Dinge in einer Metropole. War das nicht das Ziel: Prestige, etwas zählen, weniger Dreck, ein besseres Leben? Mir geht’s gut. Soll ich mich dafür schämen? Lebensstandard ist keine Sünde. Dass viel schief läuft in Deutschland, kann man an den Gestalten vor meiner Tür sehen. Dasein voller Tragik geht auch an mir nicht spurlos an mir vorbei, doch meine Türen sind einbruchssicher, meine Fenster schalldicht, zum Glück. So können die Leute ruhig schlafen.

Ich finde nicht, dass ich mich für meine Existenz rechtfertigen sollte. Gute Enden sind nun einmal limitiert da draußen. Wenn du es an diesen Ort schaffst, hast du entweder hart für den hohen Standard gearbeitet oder du hast echt Pech gehabt. Drinnen oder draußen, diese Frage ist größer als das alles hier. Wenn ich dir einen Platz an der Sonne biete, Dachterasse, Skyline, gehobener Standard, und für dich bezahlbar: Lehnst du ihn ab? Bis zu welchem Gehalt hast du Enteignungsfantasien? Sozialromantiker kritisieren mich. Ich denke: Sie verklären eigene Bedürfnisse.

Text: Josephine Macfoy
Bild: grayomm on Unsplash

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Gentrifizierung im 21. Jahrhundert
Ingrid Breckner, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, bpb.
transform-magazin.de/bpb

Entwicklungsstadt
» Fuck off. Go to Hamburg with your cunt ass projects. Friedrichshain area is not your playground « – Ein Blog mit Kommentarspalte beschreibt den Umbau Berlins.
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Musik
Von unten nach oben, ein altes Ideal, das tausendfach besungen wurde: Harte Lebenserfahrung, der Traum vom Wohlstand und errungener Wohlstand verschwimmen manchmal in einer Person. Würdest du Dreck wählen, wenn du dir Wohnträume leisten könntest? Vier nachdenkliche Songs:
Disarstar ft. Gentleman: » 7 Leben «
Kendrick Lamar ft. Jay Rock: » Money Trees «
Notorious B.I.G.: » Sky is the Limit «
K.I.Z.: » Geld «

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