Kuschel dich glücklich

Wir Menschen sind soziale Tiere, und die meisten von uns benötigen ihre Herde – oder wie man heutzutage sagt: unseren »Tribe«. Wer gut in sein soziales Umfeld eingebunden ist, vor allem wer gute Freunde hat, ist nicht nur zufriedener, sondern auch widerstandsfähiger gegen Stress und insgesamt gesünder. Durch unsere technischen Geräte sind wir überaus effizient vernetzt. Es gibt viele Gründe, die zunehmende Technisierung unserer Gesellschaft zu kritisieren – die Möglichkeit, mit Freunden und Familie in Kontakt zu bleiben, gehört nicht dazu. Doch eine wichtige Zutat zu unserer Interaktion mit unseren Liebsten können Smartphones (noch) nicht vermitteln: Berührung.

Weil das Umarmen, Drücken und Küssen von Kindern glücklicherweise nicht mehr als Verwöhnen gilt, kamen die meisten von uns als Kinder noch in den Genuss von regelmäßiger körperlicher Nähe. Doch für uns Erwachsene beschränken sich die sozialen Berührungen auf Händeschütteln, ab und an eine Umarmung zur Begrüßung oder zum Abschied, und intimere Berührungen mit Partnern. Wer im Zoo Affen beobachtet, wird schnell einsehen, wie weit unsere Berührungskultur von unserer biologischen Veranlagung abweicht.

Affen lausen sich gegenseitig fast die Hälfte des Tages. So viele Läuse können sie gar nicht haben. Daher sind Forscher der Arbeitsgruppe um den Anthropologen Robin Dunbar auf den Gedanken gekommen, dass das Lausen weniger einen hygienischen, sondern vielmehr einen sozialen Zweck hat. Tatsächlich lausen sich Affen umso mehr, desto größer die Gruppe ist, in der sie leben. Durch das Lausen werden Beziehungen zwischen den Affen gepflegt und Spannungen abgebaut, so dass es auch in großen Gruppen selten zu Konflikten kommt. Hinzu kommt die Beobachtung, dass zwei Affen, die einander regelmäßig lausen, auch sonst zusammenhalten: Sie helfen einander, sie trösten sich gegenseitig und teilen Essen miteinander. Aus unserer Menschen-Perspektive würden wir sagen: Sie sind befreundet. Wer sich gegenseitig laust, festigt Freundschaften.

transform 6
Dieser Text ist Teil unserer sechsten Ausgabe. In der geht es um Glaube, Religion, selbstgebaute Smart-Speaker ohne mithörende Konzerne, wandernde Straßenbäume oder das Potenzial von religiösen Bildern im Einsatz gegen die Klimakrise.

Dunbar schlägt sogar vor, dass das Lausen der Affen die Vorstufe von Sprache ist und nicht etwa die Laute, die Affen von sich geben. Dies würde bedeuten, dass Berührungen die Grundform unserer Kommunikation darstellen. Tatsächlich konnte der Psychologe Matthew Hertenstein nachweisen, dass wir verschiedene Gefühle, beispielsweise Angst, Wut, Liebe und Dankbarkeit, gut durch Berührungen vermitteln können. In einer von Hertensteins Studien hatten die Teilnehmer die freie Wahl, ob sie die Emotionen über ihren Gesichtsausdruck, ihre Körperhaltung oder durch Berührung kommunizieren wollten. Die Teilnehmer bevorzugten Berührungen, um Liebe und Mitgefühl zu signalisieren. Auch diejenigen, die die Empfänger der Nachricht waren, die also die Gefühle identifizieren sollten, die ihr Versuchspartner darzustellen suchte, erkannten Liebe und Mitgefühl am leichtesten, wenn diese durch Berührung vermittelt wurden.

Zuneigung zeigen in digitalisierten Zeiten

Dies mag vielleicht nicht überraschend sein, hat aber weitreichende Konsequenzen: In einer Gesellschaft, in der wir uns immer seltener berühren, und in der ein Großteil der Kommunikation über unser Smartphone verläuft, wird die Möglichkeit geschwächt, anderen Menschen Liebe und Mitgefühl zu signalisieren. Das kann nicht gut sein! Zwar gibt es bisher keine wissenschaftliche Untersuchung, ob der Mangel an liebevoller Berührung das Übermaß an Hass und die Grenzüberschreitungen im Internet bedingen. Doch es ist ohne Zweifel leichter, die digitalen Kanäle für die Vermittlung negativer Emotionen zu nutzen als für liebevolle und teilnehmende Signale.

Übrigens ist das Lausen nicht nur ein Herauspicken der Läuse und vielleicht ein Herumkratzen am anderen Affen. Interessanterweise gehört zum Lausen, dass die Affen immer wieder das Fell des Lausepartners auseinanderstreichen. Also mit einer Streichel-Bewegung. Und für genau solche Streichelbewegungen haben wir eine ganz besondere Art Rezeptor in der Haut: Die sogenannten C-taktilen Fasern befinden sich am Ende der kleinen Körperhärchen. Sie reagieren am besten auf langsame Streichelbewegungen und auf Temperaturen, die genau der Temperatur unserer Fingerspitzen entspricht. Als wären sie nur dafür gemacht, Streicheleien durch andere Affen (also in unserem Fall der Sorte »Mensch«) wahrzunehmen! Diese Art der Berührung wird auch als besonders angenehm erlebt. Sanfte Berührungen scheinen also so wichtig für uns zu sein, dass unser Körper dafür einen eigene Sorte Berührungsrezeptor entwickelt hat.

Die zwischenmenschliche Berührung ist für alle und in jeder Lebensphase wichtig, hilfreich, oft sogar heilsam. Neugeborene regulieren beispielsweise ihre Körperfunktionen besser, wenn sie direkt nach der Geburt Hautkontakt mit den Eltern haben. Paare können die Zufriedenheit in ihrer Beziehung steigern, indem sie sich regelmäßig liebevoll berühren und küssen, unabhängig von Sex, Lust und Begierde. Umarmungen verringern Stress, was sich sogar anhand der Menge des Stresshormons Cortisol im Blut messen lässt. Und auch im Alter ist Berührung wichtig – und kommt oft besonders kurz, vor allem bei Dementen und Pflegebedürftigen.

Liebevolle, einvernehmliche Berührungen sind gut. Gut für unser psychisches Wohlergehen, gut für unsere Gesundheit, gut gegen Stress, und sie stärken alle unsere Beziehungen. Doch was, wenn wir keinen Menschen in unserem Leben haben, mit dem wir kuscheln können oder wollen? Den Mangel an Berührung in unserer Gesellschaft hat der Markt schon entdeckt und versucht sogar diesen Bereich des Zusammenlebens, der so intim, so menschlich und so persönlich ist, zu kommerzialisieren. Berührungstherapeuten und Kuschelpartys bieten Kuschelsessions gegen Bares und die Forschung an Kuschelrobotern läuft auch schon auf Hochtouren. Diese Angebote werden vor allem von Menschen genutzt, die sich einsam fühlen. Und sie bieten ja tatsächlich eine gute Möglichkeit für diejenigen, die niemanden haben, dem oder der sie sich nahe genug fühlen, um Zärtlichkeiten zu auszutauschen.

Ein Grund, weshalb Berührungen einen so positiven Effekt auf uns haben, ist, dass beim Streicheln und Umarmen Oxytocin ausgeschüttet wird. Oxytocin wird oft als Liebes- oder Bindungshormon betitelt. Doch auch wenn es in Liebesbeziehungen und der Eltern-Kind-Bindung eine wichtige Rolle spielt, scheint es noch weitere Funktionen zu haben. Insofern könnte man es vielleicht besser »Wohlfühlhormon« nennen. Oxytocin wird nicht nur ausgeschüttet, wenn wir mit jemand anderem kuscheln, sondern auch bei anderen Aktivitäten, bei denen wir uns wohlfühlen. So können auch diejenigen, die keinen anderen Menschen zum Kuscheln haben (oder dies nicht wollen) in den Genuss von Oxytocin kommen: bei einem warmen Bad, bei einem leckeren Essen, beim Spielen mit einem Hund oder beim Streicheln einer Katze.

Eine weitere Funktion der Berührung durch andere ist, dass wir die Grenzen unseres Körpers spüren. Dies ist wichtig, damit wir unsere Bedürfnisse bewusst wahrnehmen und damit wir ein Verständnis davon entwickeln können, was dieses »ich selbst« eigentlich ist. Wirst du nicht oft berührt, kannst du diesen Mangel ausgleichen, indem du deinen Körper auf andere Art und Weise spürst: beim Sport, in der Sauna oder indem du dir die Zeit nimmst, wirklich in dich hineinzufühlen, wie bei manchen Formen der Meditation oder bei autogenem Training. Auch gut: beschwerte Decken. Die sollen bei Ängsten helfen und werden häufig von Menschen mit Autismus als angenehm empfunden.

Kuschelt mehr!

Geld für professionelle Berührung zu zahlen wäre nicht nötig, wenn wir etwas mehr Herzlichkeit und Zärtlichkeit in unseren Beziehungen leben würden. Häufig möchten wir ausschließlich von unseren Intimpartnern angefasst werden – komischerweise hat das dann aber nicht unbedingt etwas mit emotionaler Nähe zu tun. In freundschaftlichen oder familiären Beziehungen hingegen möchten wir oft nur dann Berührung zulassen, wenn wir uns dem anderen wirklich nah fühlen. Wir können uns überlegen, ob wir nicht diese selbstauferlegte Schwelle für die nötige emotionale Nähe in Freundschaften oder in der Familie senken sollten. Nun will ich keinem nahelegen, plötzlich wildfremde Menschen zu umarmen. Auch nicht, die Arbeitskollegen mit Küsschen im Meeting zu begrüßen. Und ganz sicher nicht, die körperliche Integrität eines anderen Menschen zu verletzen. Nur Berührungen, die von beiden Personen gewollt sind und als angenehm empfunden werden, können ihre wunderbare Wirkung entfalten. Was ich mir wünsche, ist eine kleine Revolution in unseren engen Beziehungen, in Freundschaften, familiären Beziehungen, Partnerschaft und Eltern-Kind-Beziehung.

Eine Umarmung von der besten Freundin oder dem Liebsten wird immer bedeutungsvoller bleiben als eine Kuschelsession mit dem Kuscheltherapeuten. Wenn bereits eine Beziehung besteht, wird diese durch liebevolle Berührungen gestärkt und somit können wir auf Dauer unterstützende und loyale Verbundenheit zu unseren Mitmenschen aufrechterhalten. Berührungen machen das gute Leben greifbar.

Kuscheln — Tipps für mehr Berührung im Alltag:

  1. Frage einen Freund/eine Freundin einfach mal so, ob er oder sie dich umarmen könnte.
  2. Frage jemanden, der dir nahesteht, ob er/sie dir mit dem Igelball den Rücken entlang rollt.
  3. Hake dich beim nächsten Spaziergang mit Oma und Opa mal ein.
  4. Umarme jemanden, bei dem du dich bedankst oder leg ihm oder ihr die Hand auf den Arm.
  5. Mach deinen Freunden lustige Frisuren und bitte sie, dich zu frisieren. Vielleicht hat das sogar den besten Effekt – ist schließlich ganz ähnlich wie das Lausen der Affen.


Texte: Rebecca Böhme
Illustrationen: Maddalena Carrai für transform Magazin

Quellen

Tolles Leben im Alter
Leading a meaningful life at older ages… Andrew Steptoe
und Daisy Fancourt (2019). PNAS, 116(4).


Wie Kinder von elterlicher Berührung profitieren
Maternal-preterm skin-to-skin contact enhances child
physiologic organization and cognitive control across the
first 10 years of life. Feldman, R., Rosenthal, Z., Eidelman, A.
I. (2014). Biological Psychiatry, 75(1).


Warum wir küssen müssen
Kissing in marital and cohabiting relationships… Floyd, K.,
Boren, J. P., Hannawa, A. F., Hesse, C., McEwan, B., Veksler, A.
E. (2009). Western Journal of Communication, 73(2).


Wie Frauen auf Kuscheln reagieren
Effects of different kinds of couple interaction on cortisol
and heart rate responses to stress in women. Beate Ditzen et
al. (2007). Pychoneuroendocrinology, 32(5).

Weiterlesen

Human Touch
Warum körperliche Nähe so wichtig ist. Rebecca Böhme.
C.H. Beck, München 2019.


Grooming, gossip, and the evolution of language
Robin Dunbar. Harvard University Press, Cambridge 1998.

Der ganze Weg vom Lausen zum Schmeicheln.

Newsletter