Ursprünglich versprach uns der Glauben eine bessere Zukunft. Sowas wie: Die Aussicht auf ein besseres Leben. Nach dem Leben. Heute ist es beinahe andersherum: Unsere Gegenwart stellt so etwas wie die Beste aller möglichen Welten dar. Was danach kommt, macht uns Angst. Also müssen wir wieder lernen, zu glauben.
Woran glaubst du? Laut einer Studie im Auftrag des SPIEGEL glauben Menschen in Deutschland jedenfalls immer seltener an Gott. Nur mehr knapp die Hälfte kann sich vorstellen, dass jemand über uns wacht. Und der Trend kennt nur eine Richtung: weiter nach unten. Der Münchener Psychologe Eckhard Frick vertritt die Ansicht, dass der Rückgang des Glaubens nicht auf die Trennung von Kirche und Staat zurückzuführen ist, sondern auf eine durch Wissenschaft und Technik geprägte Verweltlichung.

Dabei spricht vieles dafür, dass der Glauben nicht verschwindet. Er verändert sich. Religionen, wie wir sie heute vielleicht noch kennen, könnten in naher Zukunft nicht mehr wiederzuerkennen oder durch neue ersetzt worden sein. Es sind neue Erzählungen, neue Motive und neue Bräuche, die Menschen in einer komplett anderen Welt suchen. Wenn man überlegt, wie alt die großen religiösen Ideen sind, ist das eigentlich nicht allzu überraschend. Wir verstehen heute, wie Leben entsteht, wie der Planet und das All um uns herum aussehen. Viel wichtiger aber: Wir sind mit Menschen auf der ganzen Welt verbunden. Daraus entstehen neue Arten des Glaubens, angepasst an die globalisierte Welt. Und all das, währenddessen sich einige Menschen vor einer Vermischung der traditionellen Religionen und Kulturen fürchten. Nur ist genau das schon längst eingetreten. Und es verändert alles.
Der französische Philosoph Voltaire hat im 18. Jahrhundert einmal folgenden Satz formuliert: »Wenn es Gott nicht gäbe, müssten wir ihn erfinden. « Wir wissen heute, dass der Glauben wichtige Funktionen erfüllt hat und immer noch erfüllt. Dazu gehören vor allem das Teilen von Verhaltensnormen und Bräuchen, welche die Gemeinschaft stärken. Zu gesellschaftlichen Ereignissen unter dem Banner einer Religion kommen Menschen zusammen, egal welcher politischen Haltung oder welcher Subkultur sie angehören. Ohne diese Bräuche und Rituale läuft der Laden einfach nicht, wenn man der Auslegung Voltaires folgen möchte. Beobachtungen aus der Geschichte sowie der Gegenwart deuten darauf hin, dass genau das der Fall ist.
Wenn der Staat zum Gott wird
Im ehemaligen sowjetischen Block wurde die Religion immer stärker zurückgedrängt. Die Nähe zu denen, die nach Lesart der Kommunisten das Volk im Verlauf der Geschichte als Könige oder Leibherren unterdrückten, wurde der Kirche nie verziehen. In der Schule lehrte man den Kindern, es gilt »Wissen statt Glauben«. Die Trennung von Staat und Kirche sollte zu Ende gedacht werden. Doch der Staat ging noch einen Schritt weiter. Eigene Strukturen sollten die gemeinschaftsstiftenden Elemente der Religion ersetzen. Gewaltige gesellschaftliche Großereignisse, gemeines Singen und Tanzen sollten Gott ersetzen. Durch den Staat selbst. Der Siegeszug des Westens und der bundesrepublikanischen Christlich Demokratischen Union konnte die Ostdeutschen nach der Wende trotzdem nicht wieder zurück in die Kirche holen. Umso erstaunlicher im Rückblick ist die tragende Rolle der Kirche während der Bildung revolutionärer Kräfte in der späten DDR. Den Kräften, die der DDR den Garaus machten.
Der ehemalige Pfarrer Hanno Schmidt lebt in Dresden, unweit von seiner Kirche direkt an der Elbe im vom Stadtvillen geprägten Stadtteil Striesen. Wenn man seine Wohnung betritt, kann man den Geruch von Papier nicht ignorieren. Die aufgeräumte Wohnung des 82-Jährigen ist angenehm vollgestopft mit Büchern und Zeitungen. Schmidt war im September 1989 an der Gründung des Neuen Forums beteiligt, einer Bürgerorganisation mit dem Ziel einer Reformation. Das ist wichtig und wird heute oft falsch verstanden: Die Vision dieser Menschen war nicht etwa die Wiedervereinigung oder gar die Einführung des Kapitalismus. Sie wollten eine bessere DDR.

Die Kirche stellte zu dieser Zeit vor allem die Räumlichkeiten. Relativ sicher war es dort vor dem Zugriff des Staates. Unter einem gewissen Schutz standen sie dann eben doch, berichtet der damalige Pfarrer. Schmidt erinnert sich aber auch, dass mancher Bürger mit seinem revolutionären Gedankengut damals Probleme hatte, die Türschwellen der Kirche zu übertreten. »Wer religiös war oder nicht, das hat uns nicht interessiert«, sagt er heute. Das Ziel der Kirche war nicht eine Rückholung der Revolutionären auf die Kirchbänke. Im Gegenteil, so sagt es der Pfarrer außer Dienst, »wir waren später froh, dass nicht jede und jeder einfach wieder in die Kirche eintrat.« Man wollte keine Opportunisten.
Eines der größten Themen zu Beginn der Bewegung 1989 war die Ökologie gewesen. Zu wenig hätte die Regierung damals dagegen einzuwenden gehabt, sich für »die Bewahrung der Schöpfung« so Schmidt, einzusetzen. Die Worte der Funktionäre wären das nicht gewesen. Aber Umweltschutz, das war immer noch weniger bedrohlich als die Aufgabe der bestehenden Machtstrukturen.
Der ehemalige Pfarrer sagt, dass die DDR trotz ihrer Neudichtung des gesellschaftlichen Lebens nie vom christlichen Glauben wegkam. Zu ähnlich waren die neuen Rituale und wer genau hinschaute, konnte auch in der Sprache Rückstände aus der Kirche finden. Die Erklärung dafür liegt aber nicht nur in der kirchlich geprägten Erziehung, die so ziemlich jeder Mensch in der DDR erfahren hatte. Zu finden dafür sind die Hinweise noch viel tiefer im Osten. »Schwerter zu Pflugscharen«, sagt Schmidt nun mit einem breiten Grinsen, sei ein »Zitat aus der Bibel, anno 800 vor Christus«. Die Führung der Sowjetunion schenkte der UNO in New York City 1959 eine Bronzeskulptur im Stil des sozialistischen Realismus. Als Symbol des Friedens.
»Für mich stellt der Glauben eine Chance dar, alle Menschen zusammenzuführen«, sagt Hanno Schmidt, nun entspannt aus der Schale seines Sessels. Und irgendwie sei ja dann auch tatsächlich alles gut gegangen. Eine gute Fügung könnte man meinen. Ob Gott seine Hand da wohl im Spiel hatte? Kopfschütteln. »Am Ende ist es doch der Einzelne, der sich für das Gute einsetzt.«
Glauben ans Wachstum
Der Siegeszug des Atheismus im 20. Jahrhundert war keine exklusive Eigenart der Sowjetunion und Chinas, die ihn zur Staatsdoktrin machten. Auch der Westen erlebte eine Verweltlichung des Glaubens, die Traditionen aufsprengte. Der Soziologe Peter Berger prophezeite 1968 in der New York Times, Gläubige würden sich im 21. Jahrhundert lediglich in kleinen Sekten wiederfinden und einer globalen säkularen Kultur gegenüberstehen. So weit kam es nicht. Zumindest nicht bis heute. Weltweit wächst der christliche Glaube nämlich weiter.
Er wächst nur woanders. Im sogenannten globalen Süden, in afrikanischen Ländern südlich der Sahara und weiten Teilen Lateinamerikas. Andere Glaubensrichtungen wachsen ebenfalls mitsamt der Weltbevölkerung: allen voran der Islam, gefolgt vom Hinduismus. Schätzungen des PEW Research Forums gehen davon aus, dass die Anzahl von Menschen ohne Religionsbezug bis 2050 in der Rangfolge auf den vierten Platz zurückfallen werde.
Menschen ohne Religionsbezug sind in dieser Rechnung alle, die sich nicht mit einer Religion identifizieren könne. Dazu zählen aber Agnostiker genau so wie bekennende Atheisten. Und die leben vor allem in Europa, Nordamerika, Japan und in China.
An was aber glauben diese Menschen? Der Religionsforscher Connor Wood beschreibt, dass für viele westlich geprägte Menschen die »unsichtbare Hand des Marktes«, also eine Art übernatürliche Kraft auftritt. Er verweist auf einen Zusammenhang zwischen dem modernen, westlich geprägten Atheismus und dem Glauben an den Kapitalismus.
Connor geht davon aus, dass eine starke, stabile Gesellschaft – etwa die Schwedische – in Bezug auf Arbeit, Geld und Energieverbrauch besonders schwierig und teuer am Leben zu erhalten ist. Trocken fasst er zusammen, dass die »westliche Übereinkunft über die Kombination aus marktbasiertem Kapitalismus und Demokratie nicht in Stein gemeißelt ist, während die Welt sich auf einen unvorhersehbaren Wandel der sozialen Gefüge einstellen muss.« Mit anderen Worten: Atheismus, das muss man sich auch leisten können.
Erfolgsmodell Glauben
Ist Spiritualismus die Antwort von hochzivilisierten, wohlhabenden Gesellschaften auf das, was Religionen einmal leisteten? Was macht den Glauben an etwas so stark, dass selbst Atheisten davon nicht loskommen? Hirnforscher wollten der Angelegenheit schon seit Jahrzehnten auf die Spur kommen. Eine These besagte, es gebe eine Art Gottesknopf in unseren Köpfen. Gemeint war damit ein ganz bestimmtes Areal im Hirn, dass während religiösen Erfahrungen aktiviert wird. Heute weiß man: Aktiviert werden diese Areale bei so ziemlich allem, was wir tun. Aber es ist nicht nur eines. Es sind viele.
Michael Blume von der Universität Jena hat dem Deutschlandfunk in einem Interview gesagt, dass im gegenwärtigen Stand der Forschung drei Bereiche unterschieden werden. Dazu gehört der Glauben an höhere Wesen, die Religiosität. Eine Erfahrung der Entgrenzung, die Spiritualität und das magische Denken, womit die Forscher das Gefühl von Einheit mit Universum oder der Natur bezeichnen. Bei allen drei Glaubensformen werden verschiedene Areale angeregt. Eines der stärksten Gefühle, dass bei diesen Forschungsarbeiten festgestellt werden konnte, ist das, wenn wir an einen geliebten Menschen denken. Bemerkenswert daran: Es ist das gleiche Areal, das aufflackert, wenn wir beten.

Spirituelle Erfahrungen dagegen sorgen offenbar für eine gegenteilige Beobachtung. Statt einer erhöhten Aktivität kann etwa die Meditation zu einer Verringerung führen. Ein Stück weit verlieren wir das Gefühl von Körpergrenzen und Zeitgefühl. Das Ziel von Achtsamkeit dürfte damit nachweislich erfüllt werden.
Es sind Nachweise wie diese, die den Erfolg des Glaubens verdeutlichen, so Blume. Spiritualität habe demnach »gesundheitliche Vorteile«, während die Religion das Bilden von »viel stärkeren Gemeinschaften « fördere. Der Leiter des Neurobiologischen Forschungslabors im Universitätsklinikum Freiburg, Robert Benjamin Illing, geht weiterhin davon aus, dass die Angst eine der treibenden Kräfte hinter der Religion darstellt. Er benennt ganz konkret die »Angst vor dem Tod«. Demnach sei die Entdeckung unserer eigenen Sterblichkeit einer der Hauptgründe für die Entstehung der Religion. Was aber bedeutet das für uns heute? Wenn die Religion sich immer weiter ausbreitet und der Atheismus zurückgeht. Lernen wir wieder das Fürchten?
Die Rückkehr der Angst
Die Versicherung R+V führt jedes Jahr in Deutschland eine repräsentative Studie durch. Und die untersucht Ängste der Menschen in Deutschland. Im Jahr 2019 ist das mit sinkender Tendenz die Angst vor Staatsversagen angesichts der Ankunft von Geflüchteten, Spannungen durch Zuzug von Menschen aus anderen Ländern und der mutmaßlich negative Einfluss von US Präsident Trump auf die Weltsicherheit. Auf weiteren Plätzen finden sich Sorge um die Überforderung von Politikern, politischer Extremismus und die Wohnsituation. Es sind allesamt Sorgen um die Gesellschaft, um das, was uns zusammenhalten soll. Erst auf dem siebten Platz dieser Topliste befindet sich eine gänzlich persönliche Sorge: die um den möglichen Pflegefall im Alter. Der Klimawandel findet sich abgeschlagen auf dem elften Platz.
Wo aber bleiben die Warteschlangen vor der Kirche? Wenn die Religion der erfolgreichste Treiber des Gemeinschaftsgefühls sein soll, müsste jetzt ihre Zeit gekommen sein. Oder ist das vielleicht die Erklärung für unsere Ängste? Sind wir Deutschen am Ende zu dumm für die Lösung? Läutet sie jeden Mittag um 12 und 18 Uhr umsonst und wir – beschäftigt mit Selbstoptimierung, Onlineshopping und Meditation – hören den Schuss bloß nicht? Wenn wir nur wieder glauben würden!
Der Glaube an das Gute
Wäre alles besser, wenn wir wieder glauben würden? Vielleicht schon. Das Ur-Vertrauen in die Sicherheit der Welt, es hat uns über Jahrhunderte gut über die Runden gebracht. Dieses Gefühl, es hat uns nicht blind gemacht, auch mal einen Wandel anzustoßen, wenn es nötig war. Wenn wir heute glauben, dass unsere Vorfahren alle Verantwortung an einen Gott im Himmel abgaben, dann ist das ziemlich dreist. Wir verkennen damit all die Kreativität, die Dissidenz und die Revolution, die unsere heutige Gesellschaft erst möglich machte.
Das soll nicht bedeuten, dass wir uns wieder bei der Kirche anmelden sollten. Dass ein Gott jetzt ganz schnell Platz nehmen soll in unseren Herzen. Was wir aber möglicherweise wieder brauchen: Das ist der Glaube. Und sei es der Glaube daran, dass das Gute siegen wird. Unser moderner Rationalismus lässt uns bei diesen Worten zusammenzucken. Wir fühlen uns erinnert an müde Stunden auf der Kirchenbank oder rührseligen Reden von Hippies und Esoterikern. Wir sträuben uns dagegen, weil wir Angst davor haben, die Realität nicht zu sehen. Etwas zu verpassen.
Doch das ist ein Fehler. Wenn wir nämlich von Realität reden, dann meinen wir damit in Wirklichkeit etwas Beängstigendes. Die Realität ist für uns der Gegenpol zur Komfortzone. Wir verlassen dabei unsere behütende Umgebung und gehen hinaus in eine Welt, die ein »gefährlicher Ort« ist. Wenn Menschen in Deutschland Angst vor geflüchteten Männern auf dem Marktplatz haben, dann ist das vor allem deren Angst davor, eine neue Realität anzunehmen.
Ohne Mut schaffen wir’s nicht
Die Klimakrise setzt uns noch weiter zu. Sie bedroht die gesamte Welt auf einmal. Jedes Land, jeder Ort, jedes Haus ist nun potenziell unsicher. Das versetzt uns in einen Zustand der kollektiven Entkoppelung von jeglichem Sicherheitsgefühl. Die Drohung dieser neuen Realität lässt uns Szenarien diskutieren, in denen die zukünftige Welt schlimm, schlimmer oder noch schlimmer aussehen wird. Viele Menschen können damit offenbar nur noch umgehen, indem sie sich vor Angst und Hoffnungslosigkeit schützen und sich immunisieren. Man kann ja das Problem leugnen oder heimlich einfach nicht daran glauben, dass all diese Dinge wirklich passieren sollen.
Und doch geschieht immer wieder nichts. Die Hoffnungslosigkeit lähmt uns. Was uns fehlt, ist die Zukunft. Griffiger gesagt: Uns fehlt die Vorstellung von einer Welt, in der wir gerne leben würden. Easy ist das nicht. Trauen wir uns das? Ich muss an die Worte des Pfarrers denken, als ich seine Wohnung verließ. Er sagte: »Ohne Risiken gibt es keine Erfindungen«.
Quellen
Immer weniger Deutsche glauben an Gott
Spirituelles Interesse wächst aber. SPIEGEL, 19. April 2019.
Religionen der Welt
PEW-Studie über den Glauben auf der ganzen Welt, 2015
Der Glauben wächst weiter
Religion: Why faith is becoming more and more popular. The Guardian, 27. August 2018. (Englisch)
Religion in Deutschland
Forschungsgruppe Weltanschauungen in Deutschland, 2018
Die Zukunft des Glaubens
Ein Beitrag über den Glauben in Europa und ein Ausblick auf Morgen. Die Welt, 31. Mai 2014.
» Gott ist tot!« – und Nietzsche unsterblich
Wie Philosophen und Forscher den Glauben heute sehen. Deutschlandfunk, 19. Oktober 2016.
Das Christentum steht vor einer Revolution
Wie das Christentum sich verändert, indem es im globalen Süden wächst. Tagesspiegel, 15. Januar 2017.
Glücksgefühle und Hilfsbereitschaft
Eine Studie legt nahe, gesellschaftlicher Zusammenhalt werde durch Religionen gestärkt. ZEIT Online, 27. Februar 2019.
Text: Richard Kaufmann
Illustrationen: Julius Klemm für transform Magazin
Foto: Wikimedia