Runter von der CO2-Diät

Der Klimawandel gilt als eine der größten Herausforderungen unserer Zeit. Da ist es erfreulich, dass das Bewusstsein für die Emission von CO2 und anderer klimaschädlicher Gase im letzten Jahrzehnt gesellschaftsfähig geworden ist. Schon Grundschulkinder wissen: CO2 ist der Feind ihrer Zukunft.

Die Emissionen, die bei der Produktion von Konsumgütern anfallen, werden vermehrt auf der Verpackung ausgewiesen – bevorzugt als „neutralisiert“. Es gehört quasi zum Allgemeinwissen, seinen CO2-Fußabdruck berechnen zu können, und auch in der Politik sind Emissionen, die in Zahlen zu handhabbaren Fakten werden, eine Argumentationsgrundlage.

Es werden Emissionsrechte definiert und Fortschritte in der Reduktion werden durch das Zählen von CO2 (bzw. CO2-Equivalenten) messbar. Die CO2-Messung ist also ein wertvolles Werkzeug im Kampf gegen den Klimawandel.

CO2-Messung als hilfreiches Mittel im Kampf gegen Klimawandel?

Lili Fuhr, Camila Moreno und Daniel Speich Chassé sehen das anders. Ihre Kritik am „carbon-centered worldview“ haben sie in einem Essay für die Böll-Stiftung veröffentlicht.

Sie vergleichen das Zählen von Kohlenstoffdioxid-Emissionen recht anschaulich mit dem von Kalorien. Wer abnehmen will und deshalb seine Kalorienzufuhr verringert, lässt außer Acht, dass für ein gesundes Körpergewicht viele Faktoren eine Rolle spielen: Maß und Weise des Essens, individuelle Anlagen, psychische Faktoren, Qualität der Nährstoffe, Bewegung.

Wenn wir die Ursache unserer Fettpölsterchen nur in einer zu hohen Kalorienaufnahme sehen, erscheint ein dreimal täglich getrunkener Diät-Shake plötzlich als die einfachste und effektivste Lösung.

Die Definition des Problems beeinflusst die Lösungen, die wir sehen können.

Das Beispiel zeigt: Die Art und Weise, wie wir ein Problem definieren, beeinflusst die Möglichkeiten, die wir darin sehen. Das Zählen von Kalorien oder CO2 macht uns empfindsam für Fakten, die von unseren Sinnen nicht so einfach greifbar wären. Aber sie können auch dazu führen, dass komplexe Zusammenhänge über-vereinfacht werden, wobei im Fall CO2 zum Beispiel Wachstumstreiber und globale Machtgefüge aus dem Fokus treten und „unsichtbar“ werden.

Der Essay zeichnet nach, woher unsere Neigung, Zahlen – und zwar fast ausschließlich Zahlen – als Fakten anzuerkennen, herkommt und zeigt, dass schon frühe Ökonom*innen Probleme hatten, die Lebenswirklichkeit von Menschen mit Statistiken abzubilden. Als das Modell des BIP entstand, gab es keine andere Möglichkeit, Staaten miteinander zu vergleichen. Die Anthropologie, die bis zum zweiten Weltkrieg hauptsächliche Wissenschaft für den Vergleich von Kulturen war, wurde von den sehr einfach handhabbaren Zahlen verdrängt. Das sorgte z.B. dafür, dass afrikanische Staaten, die bis dahin zwar als zivilisatorisch weniger entwickelt, aber durch ihre Bodenschätze als „reich“ eingestuft wurden, plötzlich als wirtschaftlich rückständig galten und den Stempel „dritte Welt“ bekamen.

Die dort vorwiegend praktizierte Subsistenzwirtschaft und Tauschhandel sind im BIP schwer messbar. Die Zahlen vermittelten Rückständigkeit, dabei war es, als hätte man versucht, mit einem Thermometer die Höhe eines Baums zu erfassen und das Ergebnis in Wettbewerb zu den Temperaturen anderer Bäume zu stellen.

Durch die CO2-Brille sehen Atomkraftwerke erschreckend attraktiv aus

Wenn wir globale Angelegenheiten zu einer Frage von CO2-Werten machen, kann das zu einer nachhaltigeren globalen Wirtschaft führen. Aber, und das zeichnet sich bereits ab, es kann auch kapitalistische Machtgefüge festigen: Indem diejenigen, die das Geld haben, sich die auf Basis der CO2-Messung eingeführten Emissionsrechte kaufen können und so ihren Einfluss auf Ökosysteme im globalen Süden sogar noch vergrößern. Durch die CO2-Brille sehen Atomkraftwerke erschreckend attraktiv aus: wirtschaftlich aufsteigende Nationen wie Indien und China setzen darauf, nicht zuletzt, weil sie damit außerhalb zukünftiger CO2-Reglementierungen agieren können.

Globale Machtgefüge mögen sich dadurch von ölfördernden zu uranreichen Nationen verschieben. Die Macht der Energiekonzerne wird es aber nicht brechen, denn sie sind meist in fossiler und nuklearer Energieproduktion gut aufgestellt. Die Klimaprobleme werden dann zu Umweltproblemen. Eine Wahl zwischen Pest und Cholera.

Es sind vor allem Ökonom*innen und große Konzerne, die Lobbyarbeit betreiben und Emissionshandel als wirksame Methode gegen den Klimawandel propagieren. In diesem Rahmen können sie dann auf Carbon-Capture-and-Storage (CCS) setzen und ansonsten beim Business as usual bleiben. Das ist ungefähr so, wie ständig Fresskicks zu schieben und das dann mit dem Verzehr von massenhaft Karotten, Kiwi und Ananas, wahlweise Fettverdauungstabletten ausgleichen zu wollen.

CO2 prägt die Diskussion, lässt uns Lösungen als solche anerkennen, die eigentlich keine sind und Fragen stellen, die es nicht wert sind, diskutiert zu werden. Ist es nun besser, den neuseeländischen Apfel zu essen oder den aus dem deutschen Kühlhaus? Unter CO2-Gesichtspunkten kann die Wahl schon mal auf den fallen, der um die halbe Welt gereist ist. Dabei werden mit dem Kauf der neuseeländischen Frucht auch die ressourcenschwere Logistikbranche und zweifelhaft agierende globale Obstindustrie gefördert, während der heimische Apfel regionale Landwirtschaft und damit verbundene soziale Verbundenheit fördern kann.

Ein weiteres Problem: Wenn die Reduktion von Emissionen zum Hauptziel wird, kommen wir nicht um die Verzichtsdebatte herum. Was wir so nicht sehen können, sind die Vorteile einer anderen Art zu wirtschaften. Gehen wir einen Schritt zurück, um die größeren Zusammenhänge zu sehen, stellen wir fest, dass die hohen Emissionen Resultat eines Systems sind, dass außerdem auch soziale und globale Ungerechtigkeit, hohe Umweltbelastungen, Korruption und Gesundheitsrisiken produziert.

Ungleiche Machtverhältnisse bleiben unangetastet und festigen sich

Zwei Drittel der weltweiten Emissionen seit Beginn der Industrialisierung liegen in der Verantwortung von 90 großen Konzernen (Carbon Majors Report) – Akteure, die außerdem kaum Steuern zahlen, wegen der an sie gebundenen Arbeitsplätze Macht auf die Politik ausüben und nicht selten saftige Subventionen einstreichen. Sie sind in vielen Ländern verantwortlich für Menschenrechtsverletzungen und sorgen regelmäßig für Umweltskandale. Ihre Macht steht allerdings nicht so sehr zur Diskussion, wenn wir nur die Emissionen betrachten.

Die Gedanken, die in „carbon metrics“ formuliert werden, könnten helfen, unsere Neigung, nur Zahlen als harte Fakten anzuerkennen, zu überwinden. Viele kleine Initiativen werden durch die CO2-Messlatte marginalisiert oder unsichtbar, weil ihre Effekte nicht gänzlich in Zahlen darstellbar sind. Der genossenschaftliche Klein-Windpark einer Dorfgemeinschaft mag unter CO2-Gesichtspunkten eher symbolisch aussehen. Es wird jedoch mit dezentraler Energieproduktion die Macht der Konzerne untergraben. Auch die soziale, ermächtigende Wirkung eines gemeinsamen Werks sollte nicht unterschätzt werden,wenn Menschen erleben, dass sie gemeinsam etwas erreichen können.

Natürlich sollten wir die Emissionen nicht gänzlich aus dem Blickfeld verbannen. Aber wir sollten auch aufhören zu glauben, dass globale Gerechtigkeit allein durch die Senkung derselben zu erreichen ist.

 

Titelbild: Thomas Ulrich, flickr, CC BY-SA 2.0

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