Seit etwa 100 Jahren gilt die „Entzauberung der Welt“ als wesentliches Beschreibungsmerkmal unserer Gesellschaft: Wo vorher Aberglaube und Tradition auf magische Weise herrschten, übernahmen nun endgültig Vernunft und Wissenschaft die Deutungshoheit. Der Intellekt befreite das individuelle Leben von göttlichen Sanktionen und erklärte die Welt zu einem Konstrukt aus unendlich vielen Möglichkeiten. Statt himmlischer Eingebung stehen nun eine Fülle an Theorien, Modellen und Methoden bereit, um das Leben zu erklären und zu gestalten.
Optionenvielfalt oder Überforderung?
Soweit, so gut. Dennoch hangeln wir uns von Sinnkrise zu Sinnkrise. Statt eindeutiger Perspektiven lauern überall Widersprüche und Paradoxien. Einerseits ist es ganz und gar großartig, dass uns die Aufklärung aus der vielfach beschworenen „selbstverschuldeten Unmündigkeit“ herausgeführt hat. Vor allem die Ideen der Selbstbestimmung und Selbstverantwortung, aber auch die der Gestaltbarkeit von Geschichte und Gesellschaft sind bis heute bestimmende Leitbilder.
Kritiker halten dem entgegen, dass die Versprechungen der Aufklärer versagt haben. Sie hatten prophezeit, mit wachsendem Wissen über Zusammenhänge würden die Unwägbarkeiten des Lebens beseitigt, Sicherheit geschaffen und die unberechenbaren Launen der Natur und des Menschen gezügelt. Gescheitert! Heute sind wir mit einer unüberschaubaren Menge an Sichtweisen, Methoden und Theorien konfrontiert und es überrascht nicht, dass gerade diese Optionenvielfalt zu Überforderung führt.
Unzufriedenheit macht sich breit oder ein „Unbehagen in der Gesellschaft“, wie es der bekannte Soziologe Alain Ehrenberg treffend sagte. Grund ist die Frustration darüber, dass Selbstverantwortung und Selbstverwirklichung nicht nur Ideale sind, sondern in ihrer Zwanghaftigkeit auch den Keim eines neuen Unglücks in sich tragen. Irgendetwas passt hier nicht. Das Meer an Möglichkeiten, dessen subjektive Bewertung und die daraus folgenden Handlungslogiken – das alles kann nicht mehr unter einen Hut gebracht werden. In dieser Situation ist es nicht verwunderlich, dass viele von uns das Bedürfnis äußern, sich von Zeit zu Zeit (wieder)verzaubern zu lassen. Einfach der Vorstellung hingeben, hier sei etwas ganz Großes und Wunderbares am Werk. Hat doch irgendwie Sinn, wenn Entscheidungspfade immer komplexer werden!?
Kollektive Flucht ins Private
Man könnte sagen: Es findet eine Art private Wiederverzauberung statt. Da schwärmen die einen von der spirituellen Selbsterfahrung beim Healing-Retreat oder machen sich auf zur Pilgerreise; andere suchen ihre Antworten bei Meditation, Acro Yoga oder im Rausch. Ersehnt wird eine neue Beziehung zur Welt, in der die Dinge weder kontrolliert noch schnell und effizient gehandhabt werden. Es handelt sich um die Suche nach persönlicher Rückkopplung in einer durchrationalisierten Welt. Dabei geht es in erster Line um Begegnung und Resonanz: Andere Menschen, Orte, Musik oder Natur sollen uns berühren und etwas in uns zum Schwingen bringen.
An dieser Art der Weltbegegnung ist nichts Verwerfliches. Mit dem Talisman in der Tasche und dem schamanischen Buch im Gepäck können die Unwägbarkeiten der widersprüchlichen Gegenwart anscheinend besser bewältigt werden. Das ist folgerichtig und schade zugleich, denn es wiederholt sich auf diesem Gebiet eine Entwicklung, die schon vielfach angemahnt wurde: die Flucht ins Private.
Bereits Mitte der 1970er Jahre wurde von der „Tyrannei der Intimität“ (Richard Sennett) gesprochen. Gemeint ist damit eine Gesellschaft, in der das Private immer stärker das Öffentliche überlagert, in der sich die Menschen vorrangig mit sich selbst beschäftigen und zwar auf Kosten eines aufgeschlossenen Umgangs mit ihrer Umwelt. Dabei wird der gegebene gesellschaftliche Rahmen akzeptiert und die Frage nach den geltenden Spielregeln bleibt weitestgehend ausgeblendet. Es lebe die Flucht! Los geht’s zum Yogakurs und zum Achtsamkeitsseminar – geistige Verarmung und eine allgemeine Konformisierung inklusive.
Vom Zauber der Utopien…
Warum so kritisch? Sind nicht gerade Meditation oder Pilgererfahrung friedliche Methoden der individuellen Selbstbestimmung? Ja, das sind sie. Ebenso klar ist aber auch, dass es sich in vielen Fällen um ein Weglaufen vor Entscheidungsstress und Entfremdung handelt. Unsere Gesellschaft benötigt mehr als individuelle Optimierung und konsumorientierte Fluchtstrategien. Es muss eine Agenda für eine radikale Wiederverzauberung entwickelt werden, die Neugier und Staunen aus den privaten Räumen befreit und auch mit Blick auf die Gesamtheit entfaltet. Es gilt den Rahmen für ein neues Gesellschaftsklima abzustecken: utopisch und fantasievoll.
Richtig gehört: Utopien! Ganz im Sinne Max Webers geht es dabei um „markante Einsprüche gegen eine ganz und gar verzwickte durchrationalisierte Wirklichkeit“. Um Wiederverzauberungsversuche auf sehr hohem Niveau sozusagen. Leider haben utopische Entwürfe seit einiger Zeit keinen guten Ruf. Das liegt vor allem daran, dass die letzten utopischen Großversuche Ende der 80er Jahre gescheitert sind. Zwar werden Utopisten heute nicht zwangsläufig als gefährliche Ideologen abgestempelt, aber meist als illusionäre Spinner abgetan. Ihre Ideen seien schlicht Träumerei. Leider wird mit der Ablehnung utopischen Denkens aber eben jenem Zauber eine Absage erteilt, der die Menschen immer über das Gegebene hinaus hat denken, wünschen und hoffen lassen.
Wagt Gedankenexperimente!
Es würde uns gut tun, wieder Ideen davon zu entwickeln, wo wir eigentlich gemeinsam hinwollen. Dazu ist es notwendig, über den eigenen Tellerrand zu schauen. Was bedeutet für mich ein gutes Leben: politisch, sozial, künstlerisch oder architektonisch? Dabei kann es nicht mehr um eine einzige Vision des idealen Gemeinwesens gehen, wie sie beispielsweise Thomas Morus in „Utopia“ beschrieb.
Dem postmodernen Anything Goes kann nur eine Vielfalt überzeugungsstarker Visionen entgegengesetzt werden. Hier ist wildes Denken gefragt: nicht nur inhaltlich, sondern auch methodisch. Statt den Feierband zurückgezogen in der bürgerlichen Kleinfamilie oder beim Sport zu verbringen, geht‘s auf in die Zukunftswerkstatt. Oder wie es auf Neudeutsch heißt: zum Future Summit. Ein schönes Beispiel ist hier der Digital Bauhaus Summit. Mithilfe des Gedankenexperiments eines „Luxury communism“ wurden Utopien einer Gesellschaft diskutiert, in der technologische Entwicklungen zum Wohle aller genutzt werden. Auch unabhängig vom „Luxuskommunismus“ lässt sich in solchen Formaten ein Möglichkeitsdenken erkunden, dass jene zauberhafte Zukunft erforscht, die der durchrationalisierten Welt im Laufe der Moderne abhanden gekommen ist.
Schafft Gegenräume!
Gedankenexperimente allein führen noch nicht zur Wiederverzauberung der Welt. Das hat auch Michel Foucault erkannt, der die Idee der Utopie konsequent weiterdachte. Er hat vorgeschlagen, von Heterotopien zu sprechen. Damit sind lokalisierte Utopien gemeint, real existierende Orte, die eine physisch-materielle Seite und eine mythisch-diskursive Seite aufweisen. Es sind Gegenräume, die vollkommen anders sind als die übrigen Orte und die aufgrund ihrer Existenz alle anderen Räume in Frage stellen – aber auch bereichern. Klingt kompliziert. Ist es nicht! Der gemeinsame Ausbau und die Entwicklung einer alternativen Lebensgemeinschaft oder einer Kommune kann vielleicht ein erster Schritt sein. Aber denken wir weiter. Wie wäre es mit der Gründung einer eigenen Mikronation? Von der Freistadt Christiania in Kopenhagen bis zum Gay and Lesbian Kingdom of the Coral Sea Islands in Australien gibt es zahlreiche mehr oder weniger gelungene Beispiele. Deren Wesen ganz im Sinne Foucaults: Irritation. Dadurch werden sie zu produktiven Gegenräumen, zu Keimzellen und einem Katalysator von Transformation. Also: Raus aus der Komfortzone und rein in die gemeinschaftliche Gestaltung von Heterotopien!
Erzeugt Begeisterung!
Eine Gesellschaft, die ihr Sensorium für den utopischen Zauber verloren hat, benötigt eine radikale Wiederverzauberung. Mit einer Vielzahl von Experimenten, Projekten und Aktionen ist ein erster Schritt dafür getan. Kreativität, Entdeckerlust und Gestaltungskraft werden sich auf diese Weise auch mit Blick auf die gesellschaftlichen Zusammenhänge entfalten und führen vielleicht sogar zu einem neuen und politisierten Klima. Das wird allerdings nur gelingen, wenn wir alle Hebel in Bewegung setzen und für utopische Vorhaben begeistern. Gerade dieser Schritt scheint wichtig zu sein. Durch Begeisterung entstehen Enthusiasmus, intensives Interesse, sogar Leidenschaft. Und wer einmal leidenschaftlich einer Idee nachgeht, wird sich an ihrer Verwirklichung mit Mut und Verve beteiligen – für sich und für die Gemeinschaft. Eine solchermaßen verstandene Wiederverzauberung eröffnet nicht nur neue Lebens- und Gesellschaftsperspektiven, sondern entfaltet auch ein solidarisches gesellschaftspolitisches Potential. Sie ist keinesfalls als einfache Entschädigung für die Verluste der Vergangenheit zu verstehen, sondern vielmehr als Gestaltungsakt auf ganz neuem Niveau. Sie bildet die Folie, vor der eine radikale Veränderbarkeit des Aktuellen überhaupt erst denkbar wird.