Verschiedene Arten von Saatgut. Foto von Crop Trust auf Flickr.
Verschiedene Arten von Saatgut. Foto von Crop Trust auf Flickr.

Wir brauchen mehr Pachamama

Die konventionelle, industrielle Landwirtschaft ist in der Krise. Ein Gespräch mit Johanna Jacobi über Oligopole, tödliche Pestizide und ein demokratischeres Ernährungssystem.

transform: Johanna Jacobi, wem gehört eigentlich das Essen auf der Welt?

Johanna Jacobi: Wenn wir sagen, dass Nahrungsmittel letztendlich aus Saatgut entstehen, dann gehören sie wohl größtenteils den drei Großkonzernen, die etwa 60 Prozent des Weltmarkts für Saatgut beherrschen: Bayer-Monsanto, Corteva, ChemChina und BASF. Die gleichen vier Unternehmen produzieren noch dazu den Großteil der Pestizide, 70 Prozent des Weltmarktes. Von ihnen und ihren Produkten sind Millionen von Menschen in der Lebensmittelproduktion abhängig. Sie verschulden sich, um Saatgut und Pestizide zu bezahlen. Sie vergiften sich damit: 385 Millionen Menschen erleiden eine Pestizidvergiftung jedes Jahr und das sind die unabsichtlichen Vergiftungen, denn jedes Jahr begehen über 100.000 Menschen, meist Bauern, mit Pestiziden Suizid.1

Du stellst dem das Konzept der Agrarökologie entgegen. Klingt sperrig, was ist das?

Agrarökologie ist die Anwendung ökologischer und sozialer Prinzipien in der Landwirtschaft und im Ernährungssystem. Es beinhaltet viele verschiedene Aspekte, besonders wichtig sind dreierlei. Erstens die Erforschung von altem und neuem Wissen über Landwirtschaft. Zweitens die Anwendung dieses sozial-ökologischen Wissens in der Landwirtschaft, auch in Europa. Drittens die Transformation der heute dominierenden industriellen Landwirtschaft.

Was ist so schlimm daran, dass sich jemand dagegen einsetzen sollte?

Die industrielle Landwirtschaft konzentriert sich auf die Maximierung von Erträgen mithilfe von Pestiziden, Düngern, Saatgut und Maschinen von Oligopolen weniger, globaler Unternehmen und den politischen und legalen Strukturen, die sie stützen. Ökologische Ziele, Biodiversität oder die Rechte von der lokalen Bevölkerung, etwa indigenen Kleinbäuerinnen und Kleinbauern an Saatgut, Land und Wasser spielen dabei quasi keine Rolle. Diejenigen, die das schaffen, wehren sich mit immer zahlreicheren Gerichtsverfahren. Aber auch die globale Organisation La Via Campesina mit 200 bis 300 Millionen Mitgliedern ist ein Beispiel des Widerstandes. Sie ist weltweit präsent, auch in der Schweiz. Aber viele sind eben nicht organisiert, geben auf, wandern in die Städte ab, wir verlieren die Menschen die Nahrung produzieren und die Agrarlandschaft und damit das Ernährungssystem wird weiter vereinheitlicht.

Dabei betonen die von dir erwähnten großen Hersteller von Saatgut doch stets, dass ihnen der Erhalt kleinbäuerlicher Strukturen, Nachhaltigkeit und die Bekämpfung des Welthungers wichtig sind.

Aus meiner Forschung des Ernährungssystems in Südamerika passen diese Narrative der Großkonzerne mit der lokalen Realität und der Lebenswirklichkeit der Bäuerinnen und Bauern, und mit dem was ihre Produkte in den Anbauländern bewirken, absolut nicht zusammen. Auf ungefähr einem Drittel der gesamten Anbaufläche in Bolivien wird von Großgrundbesitzern Soja für den Export und diverse nicht-Nahrungsnutzungen angebaut. Damit wird die Biodiversität eindeutig zerstört statt geschützt. Solche Monokulturen von Nutzpflanzen bedeckt global gesehen etwa 80 Prozent aller Anbaugebiete. Jedes Jahr werden dafür weltweit drei bis vier Milliarden Kilo Pestizide ausgebracht, mit steigender Tendenz (FAOSTAT 2023). Viele von denen sind in Europa verboten, weil sie akut toxisch oder krebserregend wirken, Hormonwirkungen haben, für Bienen gefährlich sind oder sich im Grundwasser anreichern.

Mit dem Willen zur Agrarökologie und dem Wunsch nach einer Änderung dieser Verhältnisse stellt man dann wohl auch die Systemfrage: weniger Macht den Eigentümern der Produktionsmittel, weniger Kapitalismus?

Schon der Weltagrarbericht (IAASTD) von 2009 gezeigt, dass wir ohne einen Paradigmenwechsel in der Landwirtschaft die Nachhaltigkeitsziele der UN nicht erreichen können. Im Moment machen wir bei den meisten Nachhaltigkeitszielen ja Rückschritte statt Fortschritte, vor allem was den Hunger angeht, der seit 2014 wieder ansteigt – obwohl Gesamtagrarproduktion gleichzeitig auch gestiegen ist. Der notwendige Paradigmenwechsel bedeutet daher zum Beispiel, Wachstumsparadigmen mit Suffizienzideen zu ersetzen, und eine Demokratisierung des Ernährungssystems, gerade auch der mächtigen Strukturen die sich im Moment der demokratischen Kontrolle entziehen, anzustreben. Wenn der Begriff „Kapitalismus“ mit endlosem Wachstum und Akkumulation gleichgesetzt wird, dann also ja.

Ein klassischer Kritikpunkt bezieht sich auf die Skalierbarkeit agrarökologischer Landwirtschaft: Können wir ohne synthetische Pestizide und Dünger, sprich Bio, die Welt ernähren?

Es ist ein Mythos, dass der Ertrag aus dem Biolandbau geringer sei als der aus dem konventionellen Anbau und der Biolandbau daher größere Flächen benötigt. Studien zeigen übereinstimmend, dass durch Mischkulturen, wie sie im agrarökologischen Landbau üblich sind, weniger Fläche für den Gesamtertrag benötigt wird, als für die Einzelerträge der gleichen Feldfrüchte in Reinkultur, also in Monokulturen. Der Bio-Ertrag ist also nur dann geringer, wenn man nur den Ertrag einer Kultur unter idealen Anbaubedingungen vergleicht. Mischkulturen sind nicht nur aus ökologischen und Ertragsgründen, sondern auch aus Resilienzgründen besser. Außerdem stimmt die Schlussfolgerung nicht, dass mehr Menschen zu essen hätten, nur weil mehr produziert wird. Amartya Sen, Nobelpreisträger für Ökonomie, hat bereits vor über 40 Jahren bewiesen, dass Hunger nicht so sehr an die Produktionsmenge, als vielmehr an die Verteilung von Lebensmitteln gekoppelt ist. Es gibt schon lange genug Essen für alle Menschen auf der Welt. Die Verteilung ist das Problem – und die Ungleichheit.

„Erst kommt das Fressen, dann die Moral“, sagte Bertolt Brecht. Müsste es andersrum sein: Es braucht zuerst eine entsprechende moralische Haltung, um allen Menschen Nahrungssicherheit zu gewährleisten?

„Food First“ mach dahingehend Sinn, dass die Landwirtschaft gemäß dem Menschenrecht auf Nahrung vor Allem der Ernährung dienen sollte. Aus moralischer Sicht müssen wir tatsächlich überdenken, wie wir mit Lebensmitteln umgehen wollen. Die Agrarindustrie produziert zu viele Lebensmittel für die Energiegewinnung oder als Futtermittel für Tiere in der Fleisch-, Milch- und Eierindustrie. Wir werfen darüber hinaus viel zu viele noch essbare Lebensmittel in den Müll, zum Beispiel weil Obst oder Gemüse einen Fleck hat, den man auch einfach wegschneiden könnte. Als eine Grundursache dessen, dass wir kein „Food First“ Prinzip in der Landwirtschaft haben, sehe ich die vorhin beschriebene Tatsache, dass unser Ernährungssystem nicht demokratisch organisiert ist.

Dann nehmen wir das doch als Beispiel für einen Lösungsansatz: Was würde es bedeuten, unserer Ernährungssystem demokratisch zu organisieren?

Ernährungsdemokratie bezieht sich auf die Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger an der Gestaltung der Agrar- und Ernährungspolitik und -praxis auf lokaler bis globaler Ebene. Eine Demokratisierung des Ernährungssystems hat bereits im Rahmen einer Erklärung der UN zu den Rechten von Kleinbäuerinnen und Kleinbauern stattgefunden, die 2018 von 119 Ländern, auch der Schweiz, angenommen wurde. Sie spricht ihnen mehr Rechte zu, zum Beispiel Zugang zu Land oder das Recht, keinen toxischen Pestiziden ausgesetzt zu werden. Würde sie umgesetzt, käme es zu weniger Abhängigkeiten und zu einem gerechten Anspruch auf Landnutzung der lokalen und indigenen Bevölkerung. Brasilien hat gerade eine Neuauflage seiner weltweit fast einzigartigen und in den 2000ern hocherfolgreichen Ernährungspolitik gestartet – mit Geldtransfers für arme Haushalte, gesundem Schulessen, Umstellungsprämien, besonderer Unterstützung nicht-weißer und indigener Frauen auf dem Land und sinnvollem Naturschutz. Das alles sind Forderungen, die in der Zivilgesellschaft schon lange bestehen.

Du hast selbst mit Indigenen vor Ort und in deren kleinbäuerlichen Landwirtschaft gearbeitet. 2010 bis 2012 warst du in Bolivien und hast dort bei ihnen die Idee der “Pachamama” kennengelernt. Was ist das?

Die indigene Bevölkerung in Bolivien bezeichnet damit das, was wir manchmal “Mutter Erde” nennen. Sie sehen Pachamama als Ernährerin der Menschen. Sie ist ein lebendes Wesen und wir müssen ihr etwas zurückgeben, damit das Leben auf der Erde, von dem wir ein Teil sind, erhalten bleibt. Dieses tiefe Systemverständnis und Kreislaufdenken, das neben Ertrag auch Biodiversität, Wasserhaushalt, Bodenfruchtbarkeit, Klima, soziale und spirituelle Komponenten beinhaltet, hat mich sehr beeindruckt.

Sollten wir auch hierzulande mit der “Pachamama”- Idee über Ernährung nachdenken?

Es würde uns zumindest vor Augen führen, dass wir ein Bestandteil unserer umgebenden Natur sind und kein davon unabhängiger Organismus, wie wir es in der westlichen Kultur allgemein annehmen. Dabei ist der Schutz der Natur auch ein Selbstschutz und ein Schutz der Gemeinschaft. So würde zum Beispiel die Kreislaufwirtschaft vom abstrakten Effizenzkonzept zum praktischen Lebensprinzip.

Ich schütze die Natur doch auch, wenn ich im Supermarkt Bio und Fairtrade kaufe.

Das reicht aber nicht, denn die Supermärkte erheben gerade bei Bioprodukten überhöhte Margen und drücken die Preise für Produzentinnen und Produzenten. Auch könnte man meinen, jeder Handel sollte selbstverständlich fair sein, nicht ein kleiner Anteil für den man noch zusätzlich bezahlen muss. So wird die Verantwortung vom Handel auf die Einzelperson abgewälzt. Was die Agrarbiodiversität angeht, so sind das Aussehen und die Transport- und Lagerfähigkeit wichtig, alles andere weniger. Dadurch verpassen wir unbekanntere, aber geschmacklich sehr interessante Sorten von zum Beispiel Tomaten oder Äpfeln, und an das lokale Ökosystem gut angepasste Sorten gehen verloren.

Um den Verlust der Saatgutvielfalt zu verhindern, gibt es das Global Seed Vault in Spitzbergen. Das ist die größte Saatgutsammlung der Welt, um der Menschheit eine Sicherung der Pflanzenvielfalt zu gewährleisten…

…Ein wichtiges Projekt! Wir bekommen diese Vielfalt nur zurück, wenn wir weniger bei großen Unternehmen einkaufen, uns dadurch auch aus deren Wachstumsdenken ausklinken, und Nahrung selbst produzieren oder direkt von lokalen Produzenten beziehen, nach unseren und deren Wünschen und Bedürfnissen. In Zürich arbeite ich gerade mit einem Gemeinschaftsgarten zusammen, wo Bürgerinnen und Bürger gemeinsam Sorten von Bohnen, rote Beete und Weißkohl auswählen und nach ihren Bedürfnissen weiterzüchten. Ein anderes Beispiel ist der Verein ProSpezieRara, ebenfalls in der Schweiz, der den Menschen die Vielfalt alter, weitgehend unbekannte aber geschmacklich intensiver Gemüse – und Obstsorten vermittelt. Seine Mitglieder bewahren und reproduzieren die Sorten in ihren Gärten und auf ihren Feldern und Balkons. Genau solche Initiativen tragen zu einem demokratischeren Ernährungssystem bei.

Wie kann man zusätzlich im Alltag für eine Bewegung hin zur Agrarökologie rebellieren?

Es gibt sehr viele Möglichkeiten, je nach Infrastruktur und auch finanziellen Möglichkeiten. Man kann Lebensmittel direkt von einem Hof beziehen. Wenn man schon im Supermarkt einkaufen muss, kann man darauf achten, saisonal, lokal, biologisch und fair zu kaufen. Man kann Einkaufsgemeinschaften oder Quartiersläden bilden, einen Gemeinschaftsgarten gründen, sich an einer solidarischen Landwirtschaft beteiligen. Diese “SoLaWis” zeigen, wie eine landwirtschaftliche Gemeinschaft aussehen kann, in der man die Kosten und Risiken für die produzierten Lebensmittel teilt. Man kann sich auch dafür einsetzen, dass Großküchen und Restaurants, sowie öffentliche Einrichtungen auch nach solchen Gesichtspunkten einkaufen und arbeiten. Ich selbst lebe in einer größeren Wohngemeinschaft, in der wir uns die Erträge aus unserem Gemeinschaftsgarten teilen. Wir Nutzen beim Anbau von Lebensmitteln agrarökologische Prinzipien, traditionelles und neues Wissen, und lernen ständig dazu. Für mich sind das Bestandteile eines guten Lebens.

Text: Christoph Benner

Bild: Crop Trust auf Flickr

Zur Person

Interviewpartner:in

Dr. Johanna Jacobi ist Assistenzprofessorin für agrarökologische Transitionen an der ETH Zürich. Sie erforscht die Agrarökologie als transformative Wissenschaft, Praxis und soziale Bewegung sowie die Machtverhältnisse in Nahrungsmittelsystemen mit Ansätzen und Methoden der politischen Ökologie.

Transparenzhinweis: Christoph Benner ist Mitglied in der Betriebsgruppe bei der Zürcher SoLaWi „Pura Verdura“.

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