Am Krankenbett

Welche Worte laden mehr zum Verweilen ein, als die einer guten Geschichte? Das Magazin für das Gute Leben präsentiert dir nun einige handverlesene Kurzgeschichten, die zum Nachdenken oder Lachen, im besten Fall jedoch zu beidem gleichzeitig einladen! Nimm dir doch einfach einen kurzen Moment, lass das Tab-Springen sein und genieß diese Kurzgeschichte.
Wir sind gespannt was du von ihr hältst!

Wundert es Sie, dass ich überlebt habe?

Ich bin seit 30 Jahren Unfallchirurgin, mich wundert gar nichts mehr.

Aber ich wurde von einer Kugel in die Brust getroffen.

Ja gut, sowas kann man schon mal überleben, mit ein bisschen Glück.

Das hat mit Glück nichts zu tun, ich hatte mich vorbereitet!

Ach ja?

Ja, ich habe einen Talisman in meine Brusttasche getan, damit er die Kugel aufhält!

Der hat die Kugel aber nicht aufgehalten, die habe ich Ihnen vor einer Stunde aus der Brust operiert …

Naja, aber vielleicht hat er die Kugel so abgefälscht, dass ich überleben konnte?

Nein, hat er nicht, der Talisman ist noch ganz – und außerdem, woher wussten Sie überhaupt, dass Sie eine Kugel in die Brust bekommen würden? Das war doch ein Unfall!

Ja, aber mein Körper warnt mich bei sowas vor. Immer wenn ich mir irgendwo ernsthafte Verletzungen zuziehe tut mir schon Stunden vorher genau die Stelle weh.

Das glaube ich Ihnen nicht.

Ist aber so.

Haben Sie jetzt gerade Kopfschmerzen?

Nein.

Ha, sehen Sie, ich könnte Ihnen jetzt ins Gesicht schlagen und würde damit beweisen, dass Sie lügen.

Sie machen es aber nicht. Außerdem ist das von diesem Witz mit dem Hellseher geklaut.

Na und?

Was, na und? Wenn Sie das in einer Kurzgeschichte schreiben würden, würde ich Ihnen Kreativitätslosigkeit vorwerfen!

Ich schreibe keine Kurzgeschichten.

Das ist auch gut so wenn Sie eh nur aus alten Witzen klauen.

Ich klaue überhaupt nichts.

Das mit dem Auf-den-Kopf-schlagen eben, das war wohl geklaut.

Ich schreibe aber hier gerade keine Geschichte! Ich schreibe überhaupt keine Geschichten, ich bin Unfallchirurgin. Und wenn ich Geschichten schreiben würde, dann sicherlich nicht über irgendwelche verwirrten alten Männer, die denken, sie können mit ihren hellseherischen Fähigkeiten und irgendwelchem Krimskrams in ihrer Brusttasche ihr eigenes Leben retten.

Worüber würden Sie denn schreiben?

Ich würde gar nicht schreiben, als Chirurgin muss ich nicht kreativ sein.

Die Welt braucht Künstler, nicht alle Wunden kann man mit Nadel und Faden heilen.

Die Welt braucht auch Chirurgen … ich kann Ihnen das nächste Mal wenn Sie in die Notaufnahme kommen ja ein Gedicht vorlesen statt Sie zu operieren und dann sehen wir mal wie lange Sie überleben.

Ach, dass würde schon irgendwie klappen.

Das würde überhaupt nicht klappen, Sie würden sterben und fertig.

Aber immerhin hätte ich vorher noch ein Gedicht gehört.

Na, herzlichen Glückwunsch.

Ach kommen Sie schon, versuchen Sie es doch mal, schreiben Sie mal eine Geschichte!

Selbst wenn ich das wollen würde – was ich nicht tue – hätte ich keine Zeit dafür.

Schreiben Sie eine Geschichte über einen alten Mann und eine Unfallchirurgin.

Nein.

Und hier, der alte Mann hat seinen Unfall vorrausgesehen und sich entsprechend geschützt, das wäre doch was.

Nein.

Na klar, das ist literarisches Gold.

Gleich haue ich Ihnen wirklich ins Gesicht.

Das könnte ja der Höhepunkt der Geschichte sein, es spitzt sich immer weiter zu, bis der Unfallchirurgin der Kragen platzt und sie ihren Patienten schlägt.

Das hätten sie wohl gerne. Erstens schreibe ich keine Geschichte, zweitens ist es ziemlich dreist von Ihnen, mir Kreativitätslosigkeit vorzuwerfen und dann als Idee für Ihre Geschichte genau das zu erzählen was hier gerade passiert.

Nicht für meine Geschichte – für Ihre.

Ahja. Und wenn Sie so kreativ sind, worüber würden Sie denn eine Geschichte schreiben?

Über eine Raupe, die nicht als Schmetterling aus ihrem Kokon kommt, sondern als 9V-Block, und die ihre gesamte Ladung dafür verwenden muss, eine Wärmelampe für die anderen Schmetterlinge in Betrieb zu halten. Und während die letzten Elektronen schwingen, sieht die kleine Batterie noch wie eine neue Generation schlüpft, die es ohne sie nie gegeben hätte.

Das ist das Dümmste, was ich je gehört habe.

Warum haben Sie dann Tränen in den Augen?

Ich weiß es nicht, Sie weinen doch selber!

Ich muss immer weinen wenn ich an den kleinen 9V-Schmetterling denke.

Obwohl er nicht existiert.

Das Wunder der Kreativität.

 

 

 

 

Der Autor Lukas Diestel hat in Freiburg Englisch und Kognitionswissenschaft studiert, ist Schriftsteller und eine Hälfte des Blogs Worst of Chefkoch. Er schreibt unter anderem für das Intro Magazin und piqd.de. Twitter: @eckdoktor. (Autorenbild: Marius Green)

Illustrationen: Chiara Marquart-Tabel schreibt Texte über allerlei bisweilen zu kurz gekommenes und versucht gerade in Berlin Fuß zu fassen. Dabei füllt sie ihr Skizzenbuch mit Mensch gewordenem Unfug, Schmetterlingen und Batterien.
[Instagram]

 

Titelbild:  Nong Vang CC0,  Unsplash

 

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