Container Cuisine

Zwei Jahre lang hat Will Reid nur Essen aus dem Müll gegessen – um ein Zeichen zu setzen. In seinem Film »Trash Empire« kritisiert er die weltweite Lebensmittelverschwendung. Und jeden Samstag verteilt er gerettetes Essen an Obdachlose.

Es ist dunkel in New York City. Nur die Straßenlaterne flackert grell über dem Asphalt und erleuchtet einen schwarzen Berg aus Müllsäcken. Will Reid beugt sich über seinen Fund wie ein Forscher auf Entdeckungsreise. Seine Finger gleiten geübt über das glänzende Plastik. »Ich fühle Sellerie«, sagt er. »Und das hier ist Aubergine.« Nicht das Richtige für heute Abend. Will ist hungrig, er ist weit weg von zuhause und braucht sofort etwas zu essen. Er tastet sich weiter zum nächsten Sack. »Oh oh oh!«, murmelt er plötzlich. Mit leuchtenden Augen zieht er eine Plastikschale aus dem Müll. »Das ist, was wir brauchen«, sagt Will und schiebt sich zufrieden eine große rote Erdbeere in den Mund. »Lecker!«

Will Reid ist leidenschaftlicher ›Dumpster Diver‹: Er taucht in die Tiefen von Müllcontainern ab und gräbt dort ungeahnte Schätze aus. Als ein Freund ihn vor einigen Jahren zum ersten Mal mit auf eine Tour durch die benachbarten Container nahm, war er schockiert und fasziniert zugleich von den Bergen an weggeworfenen Lebensmitteln. Ein Gedanke ließ den Filmstudenten danach nicht mehr los: Wäre es möglich, 30 Tage lang nur von diesem Essen zu leben? Aus dem Gedanken entstand die Idee für seinen Dokumentarfilm ›Trash Empire‹ – eine Kampfansage gegen die Lebensmittelverschwendung.

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Dieser Text ist Teil unserer siebten Ausgabe. In der geht es um Körper in all seinen Formen und Farben, das Recht auf Selbstbestimmung, den Körper als Waffe und warum spritzende Vulven eine politische Dimension haben.

Rettung oder Diebstahl? — In den USA ist Dumpster Diving nicht verboten. Der Oberste Gerichtshof hat entschieden: Was im Müll landet, ist herrenloses Gut. Die ursprünglichen Besitzer:innen haben keinen Anspruch mehr darauf. In Deutschland ist die rechtliche Situation eine andere: Wer Lebensmittel aus Müllcontainern fischt, macht sich immer noch wegen Diebstahl strafbar. Zwei verurteilte Studentinnen reichten deshalb Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht ein, die jedoch im August 2020 abgelehnt wurde. Auch ein Vorstoß des grünen Hamburger Justizministers Till Steffen zur Legalisierung scheiterte 2020 im Bundesrat.

Für ›Trash Empire‹ machte Reid sich auf die Suche nach Antworten. Er sprach mit Vertreter:innen aus der Politik, aus der Lebensmittelindustrie und aus der Wissenschaft. Sein Fazit: »Lebensmittelverschwendung ist geplant, sie ist beabsichtigt – und sie lohnt sich.« Reid kritisiert, dass eine gezielte Überproduktion von Lebensmitteln stattfindet, von der die Industrie profitiert. Haltbarkeitsdaten etwa sind in den USA wie in Deutschland nicht staatlich reguliert. Die Unternehmen entscheiden also selbst, wann ihre Produkte ablaufen. Je früher Lebensmittel im Müll landen, die eigentlich noch genießbar wären, desto mehr wird der Konsum angekurbelt. In den USA erhalten Unternehmen außerdem steuerliche Nachlässe, wenn sie zu viel produzierte Lebensmittel an Tafeln spenden. Meist geben sie aber nicht etwa Obst oder Gemüse an Bedürftige weiter, sondern hochverarbeitete und oft ungesunde Lebensmittel wie Chips oder Cookies.

Hier setzt eine Bewegung an, in der Will Reid eine politische Heimat für seine Mission gefunden hat: die Organisation ›Food Not Bombs‹. Die Gruppe unabhängiger Kollektive wurde 1980 in Boston aus Protest gegen Atomkraft gegründet und versorgt bedürftige Menschen, aber auch Demonstrationen mit veganem und vegetarischem Essen. Mittlerweile gibt es rund 1.000 Ortsverbände auf der ganzen Welt, von den USA über Tschechien bis hin zu den Philippinen.

»Bedürftige Menschen mit Essen zu versorgen, ist für uns ein struktureller Ansatz«, sagt Reid. »Wir richten uns damit einerseits gegen soziale Ungerechtigkeit und kritisieren, dass viele Staaten lieber Geld für Krieg und Waffen ausgeben statt für menschliche Grundbedürfnisse wie Essen. Andererseits machen wir auf ein riesengroßes ökologisches Problem aufmerksam, nämlich auf die massive Lebensmittelverschwendung.«

Seit acht Jahren ist Reid für Food Not Bombs in Washington DC verantwortlich. Jeden Samstag verteilt die Gruppe dort Essen auf dem McPherson Square, nur ein paar Blocks entfernt vom Weißen Haus. Oft versorgen die Freiwilligen über 100 Menschen mit Suppen, Salaten, Obst und Gemüse. Anfangs kamen die meisten Zutaten aus dem Container und alles wurde in einem riesigen Suppentopf zusammengeworfen. »Mittlerweile haben wir feste Spender und auch unsere Rezepte haben sich weiterentwickelt«, sagt Reid lachend. »Statt immer nur Suppe gibt es jetzt vegetarisches Chili, Pasta oder Eintöpfe. Und natürlich immer einen Obstsalat.« Food Not Bombs bietet bewusst gesundes, reichhaltiges Essen an. »Bei den Tafeln ist das leider oft nicht der Fall«, kritisiert Reid.

In acht Jahren hat die Gruppe nur einen einzigen Samstag kein Essen verteilt – während eines heftigen Schneesturms. Viele Menschen sind auf Food Not Bombs angewiesen. Und die Corona-Pandemie hat die Lage weiter verschärft. »Die nächsten Monate werden besonders schwer«, befürchtet Reid. »Viele Menschen haben ihre Jobs und ihre Krankenversicherung verloren.« Ein soziales Netz gibt es kaum, über 40 Millionen US-Amerikaner:innen droht die Zwangsräumung. Was als zusätzliche Unterstützung gedacht war, wird so für viele überlebensnotwendig.

Aber Food Not Bombs kocht nicht nur für Obdachlose und Bedürftige. Für die große Gegendemo zu Donald Trumps Amtseinführung 2016 organisierte die Gruppe über Nacht Essen für rund 6.000 Demonstrant:innen. »Manchmal erschrecke ich selber, was wir alles auf die Beine stellen – ohne bezahltes Personal oder feste Strukturen, eine Gruppe von Underdogs«, sagt Reid. Food Not Bombs sind keine Dienstleister. Die Gruppe ist hochpolitisch. Immer wieder gerät sie deshalb auch in Konflikt mit Polizei und Politik. »Wir gelten als Unruhestifter und uns wird vorgeworfen, dass wir mit unserer Arbeit Obdachlosigkeit unterstützen und fördern«, erklärt Reid.

Mitglieder der Gruppe stehen regelmäßig vor Gericht, immer wieder gibt es Gesetzesinitiativen, um die öffentliche Ausgabe von Essen einzuschränken. »Natürlich ist Lebensmittelsicherheit wichtig. Aber wenn unsere Arbeit auf dieser Grundlage verboten werden soll, ist das oft nur ein Vorwand. Obdachlosen soll das Leben so schwer wie möglich gemacht werden.«

Auch in Deutschland gibt es vereinzelte Ortsgruppen von Food Not Bombs – und eine Reihe anderer Organisationen, die ehrenamtlich Essen kochen. Besonders verbreitet sind die sogenannten Volxküchen (VoKü), ein Erbe der Hausbesetzungsszene der 1980er-Jahre, das bis heute fester Bestandteil der linken Szene ist. In Berlin finden sich dutzende solcher Projekte, mittlerweile häufiger als Küche für Alle (KüFa), Kiezkantine oder Soliküche bezeichnet, um sich vom Begriff ›Volk‹ abzugrenzen. Wie bei Food Not Bombs wird oft vegan oder vegetarisch und mit Lebensmitteln aus dem Container gekocht, gemeinsam, für wenig Geld und als politischer Akt.

Das Ausmaß der Verschwendung — Laut einer Studie des WWF aus dem Jahr 2015 landen in Deutschland pro Jahr über 18 Millionen Tonnen an Lebensmitteln im Müll, fast ein Drittel des aktuellen Nahrungsmittelverbrauchs. Das bedeutet: Pro Sekunde werden 313 Kilo genießbare Nahrungsmittel weggeschmissen. Der überwiegende Teil dieser Abfälle wäre bereits heute vermeidbar – insgesamt fast 10 Millionen Tonnen. Allein in Deutschland werden damit jährlich 2,6 Millionen Hektar landwirtschaftliche Nutzfläche ›umsonst‹ bewirtschaftet. Hinzu kommen unnötig freigesetzte Treibhausgasemissionen in Höhe von 48 Millionen Tonnen.

Für Will Reid ist der Kampf gegen die Verschwendung eine Lebensaufgabe, seine Mission. »Wenn du die Augen öffnest für all die Möglichkeiten, siehst du sie plötzlich überall. Es ist fast ein magisches Gefühl«, sagt Reid. Auf die Frage, die ihm nach seiner ersten Tour durch den Kopf ging, hat er eine eindeutige Antwort gefunden: Aus 30 Tagen Essen aus dem Müll wurden mehr als zwei Jahre. In 26 Monaten gab Reid nur 5,50 Dollar für Lebensmittel aus – für einen Müsliriegel und eine Packung Chips bei einem Filmdreh im Nirgendwo.

Nicht immer war das einfach. Aber mit der Zeit hat Reid gelernt: Zu einem guten Dumpster-Dinner gehört auch eine Portion Glück. »Einmal hatte ich den ganzen Tag gedreht und das schwere Equipment mit mir herumgetragen. Ich war total ausgehungert und einfach am Ende«, erinnert sich Reid. »Ich schleppte mich zu meinem Zug und direkt neben der Station fand ich eine Tüte mit der Aufschrift ›Zu verschenken‹. Sie war voller Äpfel, Bananen und Bagels. Immer wenn ich kurz davor war aufzugeben, passierte so etwas.«

Seine Arbeitskolleg:innen waren anfangs skeptisch, wenn er zum Beispiel nach Halloween kiloweise weggeworfene Süßigkeiten mitbrachte, die nicht mehr verkauft werden konnten, weil sie wie Geister, Kürbisse oder Vampire aussahen. Aber mit der Zeit gewöhnten sie sich daran. Reid ließ sich nicht davon beeindrucken, dass viele Leute schockiert oder angeekelt auf seinen Ernährungsplan reagierten. Im Gegenteil, die Empörung hatte sogar einen positiven Effekt: viel Aufmerksamkeit für seinen Film. Zeitungen, Radio- und Fernsehsender berichteten über den wunderlichen Amerikaner, der kein Geld mehr für Essen ausgeben wollte. Am Ende wurde sein Film sogar bei der Weltbank gezeigt. So richtig kann Will Reid es immer noch nicht glauben. »Ich bin doch nur ein Junge, der eine Weile Müll gegessen hat«, sagt er. Aber so ein bisschen Müll essen – das kann ganze Berge versetzen.

Text: Hannah König
Illustration: Brent Yves Debecker für das transform Magazin

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Zur Person

Will Reid
Der 32-jährige Filmemacher aus Washington, DC, hat der Lebensmittelverschwendung den Kampf angesagt. Mit seiner Organisation ›Food Not Bombs‹ sorgt er dafür, dass überflüssiges Essen nicht in der Tonne landet, sondern auf den Tellern von bedürftigen Menschen

Quellen

Das große Wegschmeißen
Studie über Ausmaß und Umwelteffekte der Lebensmittelverschwendung in Deutschland, WWF Deutschland, 2015.
tfmag.de/growe | wwf.de

Weiterlesen

Lebensmittel umsonst! Weil sie es wert sind.
transform-Artikel über Foodsharing und die rechtliche Situation von ›Dumpster Diving‹ in Deutschland
tfmag.de/lebensonst | transform-magazin.de

Handeln

Tipps gegen Verschwendung von Will Reid
Der Dumpster Diver empfiehlt: [1] Richte ein eigenes Fach oder eine Ecke in deinem Kühlschrank für Lebensmittel ein, die bald ablaufen, damit du sie nicht vergisst und rechtzeitig verbrauchst. [2] Kaufe saisonal und lokal ein, um die ökologischen Kosten von Produktion und Transport zu senken. Wenn du dann doch mal etwas wegschmeißt, sind die Lebensmittel wenigstens nicht so weit zu dir gereist. [3] Je mehr du über Lebensmittel weißt, desto besser kannst du konsumieren. Informiere dich, gib dein Geld bewusst aus und beeinflusse so die Lebensmittelindustrie.

Foodsharing
Die erste Anlaufstelle gegen Lebensmittelverschwendung in Deutschland ist foodsharing.de. Die Initiative rettet mithilfe tausender Freiwilliger ungewollte und überproduzierte Lebensmittel in privaten Haushalten sowie von kleinen und großen Betrieben.
foodsharing.de

Küche für Alle
Lust auf solidarisches Kochen? Dann schau bei einer der vielen KüFas und VoKüs in deiner Nähe vorbei. In Berlin ist die Dichte besonders hoch, aber auch in vielen anderen Städten wirst du fündig.
tfmag.de/bolxk | vetomat.net [Berlin]
tfmag.de/molxk | fb.com [Munchen]
tfmag.de/lolxk | djh-leipzig.de [Leipzig]
tfmag.de/holxk | bewegungsmelder.org [Hamburg]

Food Not Bombs
Auch in Deutschland gibt es einige Ortsgruppen der Bewegung Food Not Bombs. Da sie aber eher lose und unabhängig organisiert sind, finden sich wenige aktuelle Informationen online. Viele der Gruppen scheinen nicht mehr aktiv zu sein. Aber warum eigentlich? Auch in Deutschland gibt es Bedarf für eine Gruppe wilder Underdogs mit Kochlöffeln, die kostenloses vegetarisches Essen an Bedürftige verteilen, oder? Werde Teil der Bewegung und gründe deine eigene Ortsgruppe! In sieben einfachen Schritten:
foodnotbombs.net

Media

Trash Empire
Willst du Will Reids punkige Dokumentation über Lebensmittelverschwendung sehen? Oder willst du dafür sorgen, dass noch mehr Leute Bescheid wissen? Dann melde dich bei Will über seine Webseite und hoste ein Screening – vor Ort oder digital.
empireoftrash.com

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