Für das bestmögliche Leben optimieren, verdichten und beschleunigen wir alles, was wir tun, um möglichst viel aus unserer Lebenszeit »herauszuholen«. Stefan Boes hat sich für transform die Zeit genommen, um über Zeitpolitik zu sprechen.
transform: Stefan, was ist überhaupt Zeitpolitik?
Stefan Boes: Immer dann, wenn die Politik, Wirtschaftsunternehmen oder große Organisationen Einfluss nehmen auf die zeitlichen Bedingungen, unter denen wir leben, handelt es sich um Zeitpolitik. Meist wird Zeit als eine individuelle Angelegenheit verstanden. Klar, es ist auch meine persönliche Entscheidung, wie ich mit meiner Zeit umgehe. Meine Möglichkeiten dazu hängen aber von gesellschaftlichen Zeitstrukturen ab. Außerdem sind diese Möglichkeiten ungleich verteilt. Wie selbstbestimmt ein Mensch jemand in der eigenen Zeitgestaltung ist, welche Freiräume er oder sie hat, wie viel Stress oder Gelassenheit er oder sie erlebt, das hängt das alles hängt von gesellschaftlichen Rahmenbedingungen ab. Deshalb ist Zeit politisch, – und damit auch politisch gestaltbar.
Wo begegnen wir Zeitpolitik im Alltag?
Viele Aspekte des alltäglichen Lebens sind zeitpolitische Fragen: Wann fängt die Schule an? Wann beginnen die Ferien? Wann öffnen Kitas, Arztpraxen und Geschäfte? Wie weit sind die Wege dorthin? Wann fahren Busse und Bahnen? Wer kann in Teilzeit arbeiten? Und wer hat das Recht, anschließend in Vollzeit zurückzukehren? Welche Leistungen stehen mir zu, wenn ich private Zeit für Pflege aufbringe? Welche nicht? Wie lange dauert ein Asylverfahren? Was ist ein Verstoß gegen die Sonntagsruhe? Wann wird endlich die Zeitumstellung abgeschafft? Das alles ist Zeitpolitik, die von Regierungen, Verwaltungen, Verbänden, Organisationen und Gruppen gestaltet wird.
Wieso nimmt das Thema Zeit eine derart große Rolle im Leben so vieler Menschen ein?
Das liegt sicher zum einen an den vielen Alltagssituationen, die ich beschrieben habe, in denen wir die Zeit immer mitdenken müsse. Die Bedeutung von Zeit reicht aber viel tiefer. Die Bedeutung von Zeit reicht aber noch tiefer, sagst du.
Bis wohin denn zum Beispiel?
Es geht um existenzielle, wesentliche Fragen des Lebens: Wie wollen wir leben? Was fangen wir mit der großen, aber doch begrenzten Zahl an Lebensjahren an? Welchen Menschen, Orten, Dingen und Tätigkeiten wollen wir in dieser Zeit unsere Aufmerksamkeit schenken?
Uns wird so oft suggeriert, dass wir keine Zeit mehr hätten – was macht das mit der eigenen Wahrnehmung von Endlichkeit und Unendlichkeit?
Die Vorstellung, dass unsere Lebenszeit klar umrissen ist, gibt uns einen Rahmen für unsere Entscheidungen darüber, wie wir leben. Die meisten Menschen glauben nicht mehr an die religiöse Verheißung eines ewigen Lebens. Und bis die Wissenschaft uns unsterblich macht, wird es noch dauern. Wir haben nur ein Leben für all die Reisen, die wir unternehmen wollen, die beruflichen Ziele, die wir erreichen wollen, die Beziehungen, die wir führen wollen, die Hobbys, denen wir nachgehen wollen. Diese privilegierte Situation, aus zahlreichen Lebensentwürfen wählen zu können, führt zu Zeitkonflikten und der Sorge, dass ich nicht die perfekte Entscheidung treffe. Und dass ich dann nicht das bestmögliche Leben lebe. Diese Chance besteht nur einmal. Wahrscheinlich hätten wir nicht so ein schlechtes Gewissen nach einem Tag mit Serien auf dem Sofa, wenn wir 500 Jahre alt werden würden.
Warum funktioniert die Optimierung der begrenzten Lebenszeit durch Verdichten und Beschleunigen nicht?
Der Autor Roger Willemsen hat das einmal sehr treffend beschrieben: »Wir beschleunigen das Leben in der Angst, wir könnten es verpassen. Und indem wir es beschleunigen, verpassen wir es.« Das moderne Leben hat zu der paradoxen Situation geführt, dass Menschen durch den technischen und sozialen Fortschritt Zeit sparen, sie aber dadurch keine Freiräume gewinnen, sondern sich die Zeitnot nur weiter verschärft. Dieses Phänomen wird auch als Zeit-Rebound-Effekt bezeichnet.
Was bedeutet das?
Wir haben Zeit gewonnen, weil wir schneller reisen, kommunizieren und Aufgaben erledigen können, als je zuvor. Dieser Gewinn wird aber dadurch relativiert, dass wir mehr Tätigkeiten übernehmen, häufiger reisen, mehr kommunizieren und viele weitere Möglichkeiten entstehen. Das lässt sich ganz gut am Beispiel eines Saugroboters verstehen: Der nimmt uns eigentlich Arbeit ab. Wir könnten also in der Zwischenzeit auf dem Sofa liegen und ein Buch lesen. Ich bin aber sicher, dass das die wenigsten tun.
Oder ein Nickerchen machen oder Spazieren gehen oder Musik hören. Aber warum nicht?
Die Zeitersparnis wird einfach als neuer Standard festgelegt. Die frei gewordene Zeit ermöglicht es uns, viele weitere Dinge zu tun, die sich ebenfalls in kurzer Zeit erledigen lassen. Der Zeit-Rebound-Effekt besagt, dass die zeitsparenden Techniken nicht in eine höhere Qualität der Zeit investiert werden, sondern dass sie unseren Anspruch verändern und die Nachfrage nach weiteren zeitsparenden Techniken steigt. Wir vermehren und verdichten unsere Erlebnisse. Nur eines gewinnen
wir dadurch nie: Zeit.
Wenn ich jetzt noch super dringend wieder ganz viele Dinge auf einmal erledigen muss, weil mir das irgendeine Person im Kontext von Lohnarbeit zum Beispiel sagt, wie reagiere ich darauf, was soll ich tun, damit meine Zeit mir wertvoll bleibt?
Wenn du eine zusätzliche Aufgabe übernehmen musst, könntest du danach fragen, welche Aufgabe du dafür abgeben kannst. Ich halte auch viel davon, häufiger »Nein« zu sagen. Dieses Wort wird völlig unterschätzt. Es hilft uns dabei, Grenzen einzuhalten und anderen unsere Grenzen aufzuzeigen. Wenn es zu viele Dinge gibt, zu denen wir »Ja« sagen, mündet das in Stress und Überlastung. Wir verlieren den Fokus. Wenn man Fokussierung und Prioritätensetzung als Zeitmanagement begreift, sind solche Strategien durchaus nützlich. Sie greifen aber insgesamt zu kurz.
Warum?
Zeitdruck ist in vielen Berufen systematisch vorgesehen, etwa bei Lieferdiensten oder in der Reinigungsbranche. Eine DGB-Umfrage zeigte vor einigen Jahren, dass sich mehr als die Hälfte aller Beschäftigten häufig oder sehr häufig bei der Arbeit gehetzt fühlt. Dieser Stress setzt sich bis in die Freizeit der Menschen fort, weil sie schlechter abschalten können, mehr Zeit zum Regenerieren brauchen und ihnen die Kraft fehlt, um noch etwas zu unternehmen. Deshalb plädiere ich dafür, die Idee von mehr Zeitwohlstand nicht nur auf das Leben neben der Arbeit anzuwenden, sondern in der Wirtschaft selbst. Zeitwohlstand sollte sich auf alle Lebensbereiche erstrecken.
Was bedeutet Zeitwohlstand?
Der Sozialwissenschaftler Jürgen P. Rinderspacher definierte Zeitwohlstand einmal als »Wohlbefinden in der Zeit«. Er gehörte in den 1980er Jahren zu den ersten, die den Begriff benutzten, und hat die Idee eines immateriellen Wohlstands, der Menschen aus der verbreiteten Zeitarmut befreit, weiter vorangetrieben. In einem während der Pandemie durchgeführten Forschungsprojekt der TU Berlin wurde das Konzept interdisziplinär ausgearbeitet. Die Forschenden sahen mehr freie Zeit als Grundlage für Zeitwohlstand. Darüber hinaus haben sie vier Dimensionen von Zeitwohlstand unterschieden.
Das ReZeitKon-Projekt hat empirisch die Bedeutung von Zeit-Rebound-Effekten erforscht. Dabei wurden neuen Erhebungsmethoden entwickelt, um zentrale Aspekte der Zeitforschung (etwa Zeitnot, Zeitwohlstand) zu untersuchen.
Welche sind das?
Selbstbestimmtheit, Planbarkeit, Synchronisation und Lebensgeschwindigkeit. In Zeitwohlstand leben wir demnach, wenn wir selbstbestimmt mit unserer Zeit umgehen, unsere verschiedenen Lebensbereiche in Einklang bringen, alles in einem angemessenen Tempo tun und insgesamt das Gefühl haben, über mehr Zeit verfügen zu können.
Welchen Nutzen hätte die Gesellschaft in welchen Bereichen von mehr Zeitwohlstand?
Wenn Menschen über mehr freie Zeit verfügen und selbstbestimmter damit umgehen können, hat das positive Folgen für ihre Gesundheit, ihre Lebenszufriedenheit und ihre sozialen Beziehungen. Das zeigen die Erfahrungen mit der Viertagewoche mehr als deutlich. Es gibt auch einen direkten Klimaeffekt, weil in den Unternehmen Energiekosten wegfallen und Beschäftigte weniger pendeln müssen. Diese Klimavorteile sind zwar bisher nicht gut messbar. Manche Untersuchungen zeigen aber, dass im Laufe der Zeit, wenn die Arbeitszeit sinkt, auch die CO2-Emissionen sinken. Diese Potenziale müssen noch stärker in politische Debatten und Forschung einfließen, weil Klima- und Umweltschutz ausnahmsweise wirklich ein Bereich ist, in dem wir keine Zeit mehr haben.
Wie schaffen wir da eine Balance, geht das überhaupt? Oder überspitzt gesagt: Wie retten wir langsam die Welt, wenn uns die Zeit davonrennt?
Ich würde angesichts der Systemkrise, in der wir stecken, von einem Zeitnotstand sprechen. Es stimmt, dass wir keine Zeit mehr verlieren dürfen. Die Frage ist, auf welche Weise wir Zeitverlust vermeiden. Die Fünf-vor-zwölf -Rhetorik ist ausgereizt. Es hat sich inzwischen auch gezeigt, dass eine Reaktion, die während der Pandemie zu einer Art Notstandspolitik geführt hat, in der Klimakrise nicht wiederholbar ist. Der Charakter dieser Krisen wird zurecht unterschiedlich begriffen.
Inwiefern?
Es handelt sich bei der Klimakrise um eine generationenübergreifende Aufgabe, die unsere Kultur tiefgreifend verändert. Wir dürfen nicht langsamer werden. Wir müssen aber berücksichtigen, dass ein Kulturwandel Eigenzeiten hat, denen wir gerecht werden müssen. Eine Gesellschaft muss in einen solchen Wandel hineinwachsen, anders geht es überhaupt nicht. Und um dieser Langfristigkeit gerecht zu werden, brauchen wir neue, demokratisch legitimierte Verfahren und Institutionen.
Welche Verfahren und Institutionen? Was könnten das denn sein?
Klimabürgerräte, die Absenkung des Wahlalters, die Ernennung einer Kommissarin für zukünftige Generationen oder die Einrichtung eines Klimaministeriums mit Vetorecht. Es gibt viele gute Vorschläge. Ich halte die Entwicklung einer zeitgerechten Klimapolitik, verbunden mit einer unaufgeregten, positiven und gemeinschaftlichen Kommunikation, für vielversprechender als kurzschlüssige Reaktionen und die Beschwörung einer Katastrophe, die ja ohnehin längst da ist.
Du sprichst dich für einen zeitökologischen Lebensstil aus. Wie etabliere ich den, vor allem, wenn ich in großen Teilen meines Alltags noch im typischen Zeitstress gefangen bin?
Mit einem zeitökologischen Lebensstil meine ich, dass wir die ökologischen Ressourcen der Umwelt achten, aber auch unsere eigenen körperlichen und psychischen Ressourcen respektieren. Das ist das Gegenteil eines ökonomischen Zeitverständnisses. Es bedeutet, nicht möglichst viel aus der Zeit herausholen zu wollen, sie nicht ständig produktiv und effizient nutzen zu wollen.
Wie lässt sich das erreichen?
Es ist schon eine Menge erreicht, wenn ich anerkenne, dass ich nicht schuld bin, wenn ich für bestimmte Dinge keine Zeit habe. Zeitpolitik muss in Regierungen und Wirtschaftsunternehmen an Bedeutung gewinnen, das passiert zum Glück gerade. Das soll aber nicht bedeuten, dass ich selbst keinen Einfluss nehmen kann. Einige Dinge habe ich schon genannt: Nein sagen, Prioritäten festlegen, Konsum reduzieren, sich selbst erlauben, häufiger nichts zu tun und ein unperfektes Leben zu führen. Ich stelle mir ein perfektes Leben ziemlich schrecklich vor.
Illustration: Juliette Schminke (Behance)
Zur Person
Stefan Boes arbeitet als freier Journalist und Autor. Sein Arbeitsschwerpunkt ist das Thema Zeit, das er aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet. Boes ist außerdem Vorstandsmitglied der Deutschen
Gesellschaft für Zeitpolitik.
Weiterlesen
Zeitwohlstand für alle. Wie wir endlich tun, was uns wirklich wichtig ist.
Stefan Boes. Perspective Daily Bücher, Münster 2021. (Zur Website)
Inseln der Zeit
Stefan Boes schreibt den Newsletter Inseln der Zeit: “Ein Newsletter über die Suche nach den Dingen, die wir wirklich tun wollen, und nach der Zeit, die wir dafür brauchen”. (Zum Newsletter)
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