Foto: Zhigang Zang
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Langsam sich und die Welt retten

» Zeit ist unser kostbarstes Gut. « Und trotzdem verschwenden wir sie, leben nach vorgefertigten Mustern und versuchen, jede Minute zu optimieren. Der Philosoph Martin Liebmann veröff entlichte 2019 sein Buch » Faul zu sein ist harte Arbeit. Eine Ode an den Müßiggang «. Ein Gespräch über Zeit.

Draußen nieselt es. Es ist diese unangenehme, unter die Haut kriechende Art des Regens, bei der ich eigentlich mit einer Tasse Tee im Bett bleiben würde. Stattdessen sitze ich jetzt, fröstelnd, mit meinem Bruder auf einer klammen Holzbank mitten in Kreuzberg. Das Handy ist irgendwo im Rucksack verschwunden, die Finger sind eh zu nass zum Tippen. Wir sitzen einfach nur da, schauen uns um, erzählen Geschichten und gehen dann irgendwann weiter. Einfach nur so. Wie spät es ist? Keine Ahnung. Wie lange wir unterwegs sein wollen? Keine Ahnung. Aber am Ende des Tages werden wir erfüllt sein von Ideen und neuen Blickwinkeln, die einfach so irgendwann unsere Wege kreuzen. Wir werden uns Zeit genommen haben, um nichts zu tun. Wir werden bewusst Ruhe in den Tag gebracht und die Gedanken schweifen lassen haben, wie es auch Martin Liebmann macht.

transform: Wann entstehen Ihre Gedanken?

Martin Liebmann: Sie entstehen in der Kontemplation, in der Muße. In diesem Zustand, in dem man völlig zweckfrei irgendetwas tut oder nicht, aber die Gedanken ein bisschen schweifen lässt.

Muße, was bedeutet das für Sie?

Die Muße ist die eigentliche Freiheit. Sie geht heraus aus diesem zweckgebundenen, zielorientierten und optimierten Rahmen, der die meisten Menschen umgibt. Das ist ein Zustand der absoluten Freiheit, auf sich selbst geworfen zu sein, aber auch sich als Teil der Natur oder seiner Umgebung zu spüren. Ein sehr schöner Zustand.

Was war denn für Sie der Auslöser, um sich diesem Zustand mehr widmen zu können?

Ein Auslöser ist ja meistens das Gegenteil, nämlich das Leid, der Schmerz. Ich bin ziemlich lange sehr temporeich unterwegs gewesen: Ich bin früh ausgezogen, musste neben der Schule Geld verdienen, war Schülersprecher und hatte tausend Sachen auf der Uhr. Dann war ich selbstständig und hatte viel Verantwortung in der Firma. Da kommt die Muße zu kurz. Abends saß ich gerne mal am Feuer, um eine Stunde Ruhe zu haben. Dabei stieg das Verlangen danach, auch mal runterzukommen und einfach nur zu sein, nicht immer nur zu funktionieren. Ich habe mir immer wieder Gedanken darüber gemacht, wie ich das hinkriegen kann. Aus dem Hamsterrad bin ich trotzdem lange nicht herausgekommen.

Mir hat es geholfen, die Ursachen der Beschleunigung erstmal wahrzunehmen. Und dann zu begreifen, dass sehr viel davon selbstgemacht ist.

Gibt es Tipps, wie wir das Gefühl verlieren können, ständig etwas zu versäumen?

Der Anfang ist ja immer, sich darüber Gedanken zu machen. Mir hat es geholfen, die Ursachen der Beschleunigung erstmal wahrzunehmen. Und dann zu begreifen, dass sehr viel davon selbstgemacht ist. Ich habe dann überlegt, was wirklich wichtig ist. Was ist selbstgemachter Stress und was ist systemischer Stress von außen? Außerdem braucht es Erfahrung. Wo ist es völlig widersinnig, sich so hetzen zu lassen? E-Mails sofort zu beantworten, zum Beispiel. Oder ständig auf das Handy zu gucken.

Was macht das mit uns?

Das sind Sachen, die zu Ritualen geworden sind. Sie zerstückeln unsere Zeit und bringen uns in einen Modus der Geschwindigkeit. Die Muster sind aber jeweils individuell. Wichtig ist zu gucken, mit welchen Mustern ich breche und wo ich Rituale einrichte, die mir Ruhe bringen.

Dieser Text ist Teil unserer achten Ausgabe. In der geht es um Schmutz und Sauberkeit in allen gedanklichen Dimensionen, Phantasien, Putzkollektive und Lösungen für einem saubere Umwelt. Abgerundet wird das Ganze mit Tips für das Gute Leben, garniert mit einem Spritzer Rebellion.

Wichtig ist zu gucken, mit welchen Mustern ich breche und wo ich Rituale einrichte, die mir Ruhe bringen.

Haben Sie ein solches Ritual?

Ich rasiere mich zum Beispiel gerne mit diesem ganz altmodischen Rasiermesser. Das dauert richtig lange und man muss höllisch vorsichtig sein. Aber das ist ein wunderschönes Ritual, um ruhiger in den Tag zu gehen.

Wie sprechen Sie Menschen darauf an, mal einen Gang zurückzufahren?

Das ist überall ein großes Thema. Insbesondere bei jungen Menschen, mit den ganzen durchgestylten Studiengängen und Zukunftsängsten. Dazu kommt die mediale Getriebenheit. Es ist aber eher so, dass ich inzwischen selbst angesprochen werde. Da wo ich bin, kennen mich die meisten Leute und mein Engagement im ›Verein zur Verzögerung der Zeit‹. So entwickeln sich gute Gespräche.

Ist Ihr Umfeld manchmal nicht damit einverstanden, dass Sie sich bewusst Zeit nehmen?

Ja sicher. Denn es sind tatsächlich solche Muster: Eine E-Mail kommt quasi mit der Erwartungshaltung, dass sie innerhalb kürzester Zeit beantwortet wird. Alles ist nicht nur wichtig, sondern auch superdringend.

Wie gehen Sie damit um?

Ansprechen! Den Menschen, mit denen ich regelmäßig kommuniziere, sage ich, dass ich mir lieber Zeit nehme zum Antworten. Ich möchte die Antwort gerne mit Gewissenhaftigkeit schreiben, mit Fokus und Intensität. Dieses Ansprechen, das Etablieren einer anderen Kultur, halte ich für einen guten Weg. Nicht nur für den Gesprächspartner, sondern auch für einen selbst entsteht eine ganz andere Aufmerksamkeit, wenn man sich Zeit nimmt.

Nicht nur für den Gesprächspartner, sondern auch für einen selbst entsteht eine ganz andere Aufmerksamkeit, wenn man sich Zeit nimmt.

Gibt es denn noch Momente, in denen auch Sie sich mal gehetzt fühlen?

Klar. Ich habe zwar schon ein paar Jahre auf dem Buckel, aber ich bin nicht der alte, weise Philosoph, der sich nie aus der Ruhe bringen lässt. Ich bin ein ganz normaler Mensch, der auch oft angetrieben wird und hier und da mal hektisch ist. Ich kann es jedoch besser als früher. Dass mehr Gelassenheit da ist, ist ein Geschenk des Alters und der Erfahrung, was ich sehr genieße.

Wahrscheinlich ist es auch Teil des Schlüssels, zu wissen, wie wir aus solchen Situationen wieder herauskommen.

Genau, es gibt ja auch Situationen im Leben, da muss man schnell handeln und anpacken, auch wenn ich ein Verfechter der Muße und des Müßiggangs bin. Letztendlich glaube ich, dass es oft um eine Ausgeglichenheit geht. Immer nur im Schneckentempo zu leben, ist sicherlich auch nicht unbedingt erfüllend. Aber nur mit Vollgas durch das Leben zu sausen, ist sehr gesundheitsschädigend und für die persönliche Freiheit, das persönliche Glück sehr hinderlich.

Was passiert, wenn wir immer weiter Gas geben?

Der Punkt ist das Dauertempo. Es nimmt uns das, was ein Leben gelingen lässt: gute Beziehungen. Gute Beziehungen zu anderen Menschen, zu sich selbst, zur Natur, zu Dingen. Gute Beziehungen brauchen Zeit. Wenn wir immer im Vollgas sind, dann lässt sich keine Intensität aufbauen, sondern alles rauscht nur vorbei und verliert an Wert.

Wenn wir immer im Vollgas sind, dann lässt sich keine Intensität aufbauen, sondern alles rauscht nur vorbei und verliert an Wert.

Warum?

Es ist ein bisschen wie bei Drogen, die haben ja einen ähnlichen Effekt. Sie berauschen einen, aber man braucht immer mehr, wird abhängig und zerstört damit seinen Körper. Die Droge der Geschwindigkeit: möglichst viele Ereignisse in möglichst kurzer Zeit erleben. Dabei verhält es sich ein bisschen wie beim Essen: Auch da brauchen wir Zeit, um Dinge zu genießen und zu verdauen. Die Erfahrungen, die wir machen, müssen auch verdaut werden.

Aber Zeit maßlos zu verschwenden ist auch nicht die Lösung.

Ich glaube, dass man die Langsamkeit nicht um ihrer selbst willen macht, sondern dass jede Erfahrung, jede Aktion, jede Intervention ihre eigene Zeit hat. Die Kunst ist, das ist zumindest meine Erkenntnis, diese eigenen Zeiten zu erspüren. Aber nur Schnelligkeit macht die Welt kaputt. Nicht nur auf individueller, auch auf gesellschaftlicher Ebene ist das ein fürchterlicher Ressourcenverbrauch. Hierhin und dorthin jetten, ganz viel kaufen und konsumieren – all das verbraucht Energie und Ressourcen und so können wir nicht weiterleben.

Das bewusst Langsame, das Mußevolle verbraucht überhaupt keine Ressourcen. Ein gutes Konzept ist es, wenn der Verzicht kein Versäumnis, sondern ein Gewinn ist.

Wie können wir dann weiterleben?

Insofern ist die Beschäftigung mit der Zeit auch kulturell ein wichtiges Thema, um mit Herausforderungen wie der Erderwärmung umgehen. Die meisten Antworten darauf sind leider nur technisch. Das Auto zum Beispiel jetzt einfach elektrisch zu machen, ändert nichts daran, dass weiter Autos gebaut werden. Und dafür muss die Energie auch irgendwie entstehen und unsere Städte werden weiter zugeparkt. Das bewusst Langsame, das Mußevolle verbraucht überhaupt keine Ressourcen. Ein gutes Konzept ist es, wenn der Verzicht kein Versäumnis, sondern ein Gewinn ist. Es ist ein Gewinn für mich, wenn ich weniger tue und das dann intensiv. Ich habe eine ganz andere Freiheit im Kopf und im Geist, da ich dabei nicht abhängig bin vom Materiellen.

In der Pandemie erleben viele Menschen vermeintlich weniger, machen gefühlt weniger Erfahrungen und haben gleichzeitig den Eindruck, dass die Zeit schneller vergeht. Warum?

Es gibt dieses Zeitparadoxon: In diesen ganzen Wartesituationen, in denen nichts passiert, dehnt sich die Zeit unfassbar. Eine Minute wird gefühlt zu zwei Stunden. In der Erinnerung ist dann aber alles weg. Da nehmen die Wartezeiten überhaupt nichts mehr ein. Aber da, wo man viel erlebt, viele Eindrücke bekommt, im Urlaub zum Beispiel, denkt man sich nach zwei Wochen, dass das erst ein paar Tage waren. Wie wir das Tempo erleben, ist meist das Gegenteil von dem, wie wir uns daran erinnern.

Text: Hannah Prasuhn

Bild: Zhigang Zhang

Zur Person

Interviewpartner:in

Martin Liebmann, Jahrgang 1966, hält als Obmann des Vereins zur Verzögerung der Zeit die Menschen zu einem bewussten Umgang mit der Zeit an. In seinem Buch »Faul zu sein ist harte Arbeit« erzählt er, warum und wie sich das Leben derart beschleunigt und lädt zum Müßiggang ein, einer Kultur, die seiner Meinung nach völlig zu Unrecht in Verruf geraten ist. Wenn Liebmann mal nicht nichts tut, spielt er Gitarre, erfreut sich an dem sonnigen Gemüt seiner Enkelin, schreibt Bücher, hält Vorträge und ist ein leidenschaftlicher Moderator.

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Faul zu sein ist harte Arbeit. Eine Ode an den Müßiggang
Martin Liebmann, Komplett-Media, 2019.
komplett-media.de

Verein zur Verzögerung der Zeit
Das Netzwerk der Zeit-Interessierten hilft Menschen, wieder in die Zeit-Balance zu kommen.
zeitverein.com

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