Die Klimaanlagen der Stadt

Bäume bieten Schatten und kühlen ihre Umgebung. Doch was ist mit baumlosen Straßen baumlos? Bäume wandern lassen! Im besten Fall sorgen die neuen Schatteninseln für Austausch und vielleicht sogar eine autofreiere Stadt.

Meine Stadt hat Fieber / sie tropft und klebt«, rappte Peter Fox 2007 über die Sommerhitze in Berlin. Im Song »Fieber« steht die Luft, die Mülltonnen qualmen und die Straße zum Brandenburger Tor heißt nicht mehr Unter den Linden sondern Unter den Palmen. Sein Fazit damals: »Wir ham’s verzockt / verbockt / der Doktor kommt zu spät.«

Über zehn Jahre ist das Lied alt und unsere Sommer sind seitdem noch heißer geworden. In Wien gehen Menschen jetzt kreativ gegen die Hitze vor und erobern sich gleichzeitig den öffentlichen Raum zurück. Kräutergärten und Sprachcafés statt Parkplätze für SUV genannte Lifestyle-LKWs. Mit dem Aktionsprogramm »Grätzloase« will die Stadt Wien 2019 gemeinsam mit dem »Verein Lokale Agenda 21 Wien« städtische Freiräume in Oasen verwandeln. Die Initiative sammelt kreative Ideen von Stadtbewohner und unterstützt deren Umsetzung mit bis zu 4.000 Euro. In vier Jahren haben die Wiener so 215 urbane Interventionen umgesetzt. Mit dem neuesten Projekt, »Wanderbäume«, soll die Stadt gekühlt werden. Betonierte Straßen und gepflasterte Plätze heizen sich im Sommer ungebremst auf. Die Lösung: Bäume, die keine Wurzeln schlagen.

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Feldahorn, chinesische Wildbirne, mährische Eberesche und virginische Traubenkirsche – diese exotischen Baumarten sind robust genug, um Hundeurin, Streusalz und steigenden Temperaturen in der Stadt standzuhalten. In den Sommermonaten wandern sie von Grätzl zu Grätzl, also von Stadtteil zu Stadtteil, und spenden Schatten. Mit Lastenfahrrädern und kleinen Transportern werden sie zum jeweiligen Standplatz gebracht. Dort stehen sie dann für einige Wochen bis sie weiter wandern. Die Stadt Wien stellt für alle urbanen Interventionen im Rahmen der »Grätzloasen« öffentliche Parkplätze zur Verfügung. Auf den besetzten Parkplätzen finden dann Nachbarschaftsfeste, Diskussionsrunden und Workshops statt.

»Es gibt immer wieder Anwohner, die davon nicht begeistert sind, da braucht es oft ein wenig Zeit«, sagt Claudia Degold vom Verein Lokale Agenda 21. Sie hat schon erlebt, dass sich Anwohner auf dem Weg zum Einkaufen über die blockierten Parkplätze beschweren und sich dann auf dem Rückweg zum Nachbarschaftstreffen dazugesellen.

Wandernde Bäume sollen die Stadt abkühlen

Die mobilen Bäume kommen direkt besser an, denn sie brauchen weniger Platz und werden zwischen den Parkplätzen aufgestellt. »Manche fragen, ob wir nicht andere Probleme hätten, aber die meisten finden es gut«, sagt Nadine Adrian. Sie ist die Initiatorin der Wiener Wanderbäume. Im Februar 2014 ist sie nach Wien gezogen und hat dort ihr graues Wunder erlebt. »Es war ein Frühlingsanfang ohne Grün. In Wien gibt es einfach viel zu wenig Bäume.« Stattdessen gibt es viele betonierte Flächen, die sich im Sommer ungebremst aufheizen. Durch die dichte Bebauung kann der Wind nicht zirkulieren. Die zusätzliche Abwärme von Fahrzeugen und Gebäuden vermindert die Abkühlung der Straßen in der Nacht. Wie viele Großstädte verwandelt sich Wien daher in den Sommermonaten in eine Wärmeinsel. 2018 waren es bereits 36 Tage mit über 30 Grad. Die fortschreitende Klimaerwärmung wird dieses Problem verschärfen. Kühlt es in der Nacht nicht auf unter 20 Grad ab, spricht man von »Tropennächten«. 2018 gab es bereits 41 Tropennächte in Wien – ein Rekord, der sicher bald wieder gebrochen wird.

Höchste Zeit für mehr Bäume in der Stadt, denn die können je nach Größe ihre Umgebung um mehrere Grade herunterkühlen. Nadine Adrian hat nach ihrem ersten heißen Sommer in Wien beschlossen, dass sie sich in ihrem Praxisprojekt für die Weiterbildung zur Kulturmanagerin um dieses Problem kümmern wird. Was sie aus München schon kennt, soll jetzt auch in Wien klappen: Das Konzept der Wanderbäume. Seit April 2019 stehen die ersten Wiener Wanderbäume im Stadtbezirk Währing. Fünf Stunden lang haben die Bewohner des Stadtteils die Bäume in spezielle Gefäße gepflanzt: Grüne, wasserdurchlässige Säcke aus Filtervlies, die mit Substrat und torffreier Erde gefüllt werden. Das ist nur konsequent bei einer Maßnahme zur Klimakrisen-Anpassung, schließlich vernichtet Torfabbau Lebensräume und setzt Treibhausgase frei.

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Ein Wanderbaum soll dadurch bis zu sieben Jahre halten. Zehn der Bäume stehen auf halbierten Holzpaletten in der Antonigasse in Wien-Währing. Sie sind mit rot-weißen Reflektoren ausgestattet, denn sie müssen mobil und verkehrssicher sein. Daneben stehen Tafeln mit Informationen über die positiven Effekte der Bäume, von denen leider nicht jeder überzeugt ist. »Es wurden auch schon Bäume ausgerissen, deshalb werden sie jetzt zusätzlich gesichert«, sagt Nadine Adrian. Mit Gurten sind die Bäume an den Paletten befestigt, doch das geht der Initiatorin noch nicht weit genug. »Es ist wichtig, die Anwohner mit einzubeziehen.« In jedem Stadtteil gibt es deshalb »Baumpaten«, die sich um die Bewässerung kümmern und sich für die Bäume verantwortlich fühlen. Die Anwohner bieten den Bäumen Schutz und Wasser, dafür bekommen sie Schatten und Sauerstoff. So ausgeglichen ist das Geben-Nehmen-Verhältnis zwischen Mensch und Pflanze selten.

Statt ihr Auto abzustellen sollen Anwohner einen kühlen Drink nehmen

Neben den mobilen Bäumen steht in der Antonigasse auch ein zehn Meter langes Parklet, eine hölzerne Terrasse mit Tischen und Bänken. Dort sollen Aktionen stattfinden, die sich mit dem Thema »Mehr Grün in der Stadt« auseinandersetzen. Die Parklets für Grätzloasen nehmen häufig die Fläche mehrerer Parkplätze ein, deshalb sind die Organisation und der Aufbau oft sehr mühsam. »Manche Initiatoren machen einen Rückzieher, weil ihnen die Arbeit damit zu viel wird oder es Konflikte mit den Anwohnern gibt«, berichtet Claudia Degold vom Verein Lokale Agenda 21. Ihrer Erfahrung nach verstehen Anwohner die Funktion von Parklets nicht immer auf Anhieb. Viele halten die Aktionen für private Veranstaltungen, die nicht für die Öffentlichkeit bestimmt sind. »Es gibt aber auch den umgekehrten Fall, dass ein Parklet sehr stark genutzt wird und sich dann Anwohner schon mal beschweren.« Um das zu verhindern, suchen die Initiatoren immer persönlichen Kontakt. »Deshalb sind Nachbarschaftsfeste am Parklet auch ein wichtiger Schritt, um die Anwohner kennenzulernen und mit ins Boot zu holen.« Wer sich verstanden und gehört fühlt, lässt sich eher auf Veränderungen ein.

Nadine Adrian hat sich vom Aufwand und den möglichen Konflikten nicht entmutigen lassen: »Es gibt immer Leute, denen der Parkplatz vor der Haustüre wichtiger ist, aber denen kann man es eh nicht recht machen – mit keiner Aktion.« Doch bei über 30 Grad im Schatten könnten auch diese Menschen überzeugt werden. Mit einem kühlen Getränk auf einer Bank im Schatten direkt vor der eigenen Haustür.

Das Aktionsprogramm Grätzloasen läuft noch bis Ende 2020, danach entscheidet die Stadtregierung über eine mögliche Weiterführung. Nadine Adrian hofft, dass durch die Wanderbäume dauerhaft mehr Bäume gepflanzt werden, es künftig mehr Grünflächen gibt und dadurch mehr Feuchtigkeit in die Stadt kommt. Claudia Degold und der Verein Lokale Agenda 21 möchten die momentane Nutzung des öffentlichen Raums weiter umverteilen, denn für sie steht fest: »Der öffentliche Raum gehört uns allen, nicht nur den Autofahrern.«

Die neue Stadt Unsere Städte brauchen ein neues Design. Sie müssen wieder für Menschen und nicht für Autos und Bürogebäude gestaltet werden. Oder, wie der dänische Stadtplaner und Architekt Jan Gehl es formuliert: »First life, then spaces, then buildings – the other way around never works.« Brot-Back-Workshops, Nachbarschaftsfeste und mobile Bäume auf öffentlichen Parkplätzen sind urbane Interventionen, die uns zeigen, wie eine lebenswertere Stadt aussehen könnte.

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Sie lassen Visionen kurzzeitig Realität werden und machen sie für uns erfahrbar. Wenn wir mit den Fingerkuppen die Oberfläche der Rinde ertasten, wenn wir das Rauschen der Blätter hören und auf unserer Haut den kühlenden Schatten spüren, erst dann wachen wir auf und stellen fest, dass wir Bäume zum Leben brauchen.

»Brauch kein Testament / der Westen pennt / bis der ganze verpestete Hexenkessel brennt.« So pessimistisch wie Peter Fox es in seinen Texten formuliert, müssen unsere Städte in Zukunft nicht aussehen – weil wir es in der Hand haben. Wir dürfen kreativ werden, wir können mitgestalten. Und wir sollten heute damit anfangen.

Text: Felix Strohbach
Illustration: Chiara Marquart-Tabel

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