Im Parlament der Spinnen und Würmer

Ein Kunstprojekt demokratisiert eine Brache und stellt existenzielle Fragen zu den Rechten der Natur

»Jenseits der Natur« steht in schnörkellosen roten Lettern über dem Eingang zur Brache. Es gibt einen kleinen Pfad, der zwischen Fläche und Häuserblock entlangführt. Georg Reinhardt geht vor, öffnet das Metalltor in eine Welt, in der andere Regeln gelten als draußen.

Was liegt dort jenseits der Natur? Auf den ersten Blick nicht viel. Ein paar Bäume ragen in den diesigen Winterhimmel. In Bodennähe Sträucher, bunte Blätter, Gestrüpp und Gras. Pflanzen, die wir selten aufmerksam betrachten. Nun aber sind unsere Schritte zaghaft. Als wollten wir nicht versehentlich auf einen der kleinen Würdenträger treten.

Wie können die Anliegen von nicht menschlichen Organismen, von Taube, Baum, Wurm oder Pilz vertreten und durchgesetzt werden? Wie können sie geschützt werden vor Klimawandel und Artensterben? In vielen Ländern diskutieren Fachkreise solche Fragen unter dem Stichwort »Rechte der Natur«. Die Idee: Statt bloßes Objekt menschlicher Ideen, Begierden und Ignoranz zu sein, sollen der Natur subjektive Rechte zugesprochen werden.

Dieselben Rechte für alle Lebewesen

Wie kann das funktionieren? Rechte für nicht menschliche Organismen? In Berlin-Wedding sind wir Gäste eines Experiments, das genau das radikal zugespitzt in der Praxis probiert. Denn, so die Idee: Auf der kleinen, unscheinbaren Fläche an der Osloer Straße haben alle Lebewesen dieselben Rechte.

»Wir können nach unserer Verfassung keine Bäume ausreißen. Wir können sie höchstens beschneiden, damit sie nicht die ganze Fläche beschatten«, sagt Reinhardt, während wir durchs Grün-Gelb-Rot der Blätter stapfen. Der aus Österreich stammende Künstler ist einer der Gründer*innen der Gruppe Club Real, die 2019 die etwa 800 Quadratmeter große Brachfläche als »Staatsgebiet« der darauf lebenden Organismen etabliert hat.

Herzstück der Brachflächen-Utopie ist ein Parlament. Es kommt einmal jährlich zusammen, diskutiert Gesetzesvorschläge und trifft Entscheidungen. Die Parlamentarier*innen sind Künstler*innen, Aktivist*innen oder Leute aus der Nachbarschaft. Jede*r kann mitmachen und einen Pat*innen-Organismus im Parlament vertreten.

Weil es auf der Brache sehr viele Organismen gibt – zu viele, um sie alle zugleich zu vertreten -, werden in jeder Legislaturperiode Spezies ausgelost, die dann ein Jahr lang von einem Menschen vertreten werden. Konkret waren 2021 die Rötliche Glanzschnecke, die Zerfließende Gallertträne, die gepunktete Nesselwanze und zwölf andere Organismen vertreten. Rund 300 stehen aktuell auf der Liste der Staatsbürger*innen. Die Pilzkundliche Arbeitsgemeinschaft Berlin-Brandenburg hat geholfen, Pilze, Moose und Flechten zu kartieren, und für die Wirbeltiere wurden Anwohner*innen gefragt, was sie gesichtet haben. Bei den Bakterien, Einzellern, Viren und Mikrovielzellern hat die Gruppe einige der unzähligen wahrscheinlich vorkommenden Arten ausgewählt.

Es gibt acht Organismenfraktionen: »Kräuter, Gräser, Stauden«, die »Gliederfüßer«, »Wirbeltiere«, »Weichtiere und Würmer«, »Bakterien, Einzeller, Viren«, »Gehölze und Kletterer«, die »Pilze, Moose und Flechten« und »Neobiota«, also alle Spezies, die in Berlin früher nicht heimisch waren, aber vom Menschen hierher gebracht wurden. Neubürger*innen haben ihren festen Platz im Parlament.

In der »Natur« gelten normalerweise die Prinzipien der Evolution: Weniger gut angepasste Arten werden verdrängt, sie müssen sich neue Lebensräume suchen oder sterben aus. »Jenseits der Natur« aber liegt ein politischer Raum. Nicht wer stärker ist, gewinnt. Sondern diejenigen, die besser argumentieren und überzeugen können. »Das bedeutet, hier in der Organismendemokratie gibt es keine Natur mehr. Bei uns gibt es nur noch Politik«, sagt Reinhardt.

Die Spinnen reichen Klage ein

Klar, was so ein Einzeller oder eine Spinne eigentlich »will«, lässt sich gar nicht so leicht beantworten. Und was gut für eine Spezies ist, kann einer anderen Probleme bereiten. In der hintersten Ecke der Brache, direkt vor einer Backsteinmauer, zeigt Reinhardt auf eine kleine Bodenvertiefung. Es handele sich um einen »gärtnerisch nicht sehr ansehnlichen«, aber ökologisch gesehen interessanten Tümpel, der sich mit jedem Regen neu füllt. »Mit dem feuchten Lehm baut die Orientalische Mörtelwespe ihre Brutkammern.« Das Pikante ist, dass sie in jede dieser Brutkammern bis zu 30 Spinnen einträgt. Die Tiere werden gelähmt und dienen den Wespenlarven als Futter. Das wollen die Spinnen im Parlament der Organismen nicht hinnehmen und Klage einreichen. »Mit dem Tümpel kann sich die Wespe hier ausbreiten und für die Spinnen ist das ein viel höherer Raubdruck. So könnte man argumentieren. Also aus Sicht der Spinnen«, sagt Reinhardt.

Ein Stück entfernt von uns lichtet sich das Gestrüpp, hier ragen bis auf Kniehöhe runde weiße Scheiben auf roten Metallpfählen aus dem Boden, ein wenig wie Pilze. Auf diesen im Halbrund angeordneten Sitzgelegenheiten tagen die Abgeordneten. Auch in Gelsenkirchen, Wien, Düsseldorf, Leipzig und Paris gab es bereits Parlamente oder andere Aktionen der Organismendemokratie.

Die städtische Grünfläche an der Osloer Straße sei früher Teil eines Brauereigeländes gewesen, sagt Reinhardt und hält ein paar Zweige hoch, damit wir darunter durchschlüpfen können. »Es ist ein Glücksfall, dass diese Fläche sich hier so ungestört entwickeln konnte.«

Durch das Geäst schimmert das Logo des Lidl-Supermarktes, der an die Brachfläche grenzt. Gerne hätte der Discounter die Brache gekauft und eine Einfahrt daraus gemacht, erzählt Reinhardt. Im Gegenzug wurde dem Verein eine weniger bewachsene Ausgleichsfläche angeboten. Ein Fall für eine Parlamentsabstimmung, dachte sich Reinhardt und lud einen Lidl-Vertreter zur Sitzung.

Die Kräuter, Gräser und Stauden stimmten für den Tausch: Die neue, baumfreie Fläche versprach mehr Licht und weniger Konkurrenz durch holzige Pflanzen. Doch andere Spezies formulierten einen Gegenvorschlag: »Das Projekt wirbt für die Firma Lidl, wenn diese ihre sämtlichen Ausgleichsflächen in ganz Europa zur Verfügung stellt für Organismendemokratien«, fasst Reinhardt zusammen. »Aber da ist der Immobilienmanager dann abgerauscht. Wortlos.«

Rechte für die Natur – mehr als ein Kunstprojekt?

Spinnen kontra Tümpel, Stauden pro Lidl: Das bewegt sich irgendwo zwischen Performance-Kunst, Theater und politischer Bildungsarbeit. Doch das Nachdenken darüber, wie die Anliegen anderer Spezies in unserem vom Menschen dominierten Zeitalter, dem Anthropozän, vertreten werden können, ist mehr als eine Spielerei. Denn auf der Suche nach einer Antwort auf den Klimawandel und das massive Artensterben könnten die Rechte der Natur eine Schlüsselrolle einnehmen.

Ein Wald als Beschwerdeführer vor Gericht? In einigen Ländern ist das schon Realität. Vorreiter ist das kleine lateinamerikanische Land Ecuador, wo die Rechte der Natur seit 2008 von der Verfassung garantiert werden. Dort könne jeder Mensch, egal ob Bürger*in oder nicht, in ihrem Namen Klage erheben, sagt Andreas Gutmann, der zu Rechten der Natur in Ecuador promoviert hat. »Das Verfahren ist supereinfach. Man kann einfach zum nächsten Gericht gehen und dort vorsprechen«, sagt der Rechtswissenschaftler. Das Gericht könne dann entscheiden, verschiedene Interessenvertreter*innen zu dem Fall anzuhören.

In Ecuador gilt die ganze Natur als Rechtssubjekt. Zur Wahrung ihrer Rechte wurde hier kürzlich die Rodung eines Nebelwalds durch ein Bergbauunternehmen abgewendet. Auch die Rechte einzelner Tierindividuen lassen sich in Ecuador einklagen. In Kolumbien, wo nicht der ganzen Natur Rechte zugesprochen werden, gibt es einzelne Flüsse, Berge und Naturschutzgebiete, die exklusiv über Rechte verfügen. Einer dieser Flüsse ist der Río Atrato, dem Kolumbiens Verfassungsgericht 2016 ein Recht auf »Schutz, Konservierung, Instandhaltung und Restaurierung« eingeräumt hat. Das allerdings, erklärt Gutmann, führe zu schwierigen Abgrenzungsfragen: »Wo hört der Fluss auf? Gehört das Ufer dazu? Und die Tiere, die dort leben?«

Es ist also kein Novum, dass vor Gericht Anliegen von Personen behandelt werden, die keine Menschen sind. Und in Deutschland? Im deutschen Recht gelten zwar Unternehmen wie Lidl als Rechtspersonen, aber Brennnesselwanzen nur als Objekte. Natur- und Tierschutz sind als Staatsziel im deutschen Grundgesetz verankert, konnten aber bisher nicht individuell eingeklagt werden. Klagen kann in Deutschland normalerweise nur, wer selber betroffen ist. Eine Ausnahme bildet das Verbandsklagerecht, das bestimmten Verbänden die Möglichkeit gibt, im Namen Dritter zu klagen. Doch Verbandsklagen, sagt Gutmann, sind mit hohen Hürden verbunden. Nur wer anerkannt ist, darf klagen. 2019 hatte die Tierrechtsorganisation Peta probiert, erstmals im Namen von Ferkeln Verfassungsbeschwerde einzulegen. Es ging der Tierrechtsorganisation um Einspruch gegen die Fristverlängerung für die betäubungslose Kastration männlicher Ferkel. Im Juni 2021 wurde die Beschwerde ohne Begründung abgelehnt.

Auch andere Initiativen setzen sich dafür ein, dass Menschen im Namen der Natur vor Gerichten klagen können. Seit September sammelt zum Beispiel in Bayern die Initiative »Rechte der Natur« Unterschriften für ein Volksbegehren, um der Natur Rechte zu verleihen. Aber auf der bundespolitischen Agenda ist das Thema laut Gutmann noch nicht angekommen.

Ein Argument gegen die Ausstattung der Natur mit Rechten sei in Deutschland die Furcht vor Klagewellen. Würde dann jeder Hausbesitzer für den Baum im eigenen Vorgarten vor Gericht ziehen? In Ecuador sieht es nicht so aus. Dort habe es in den rund 14 Jahren seit der Verfassungsreform nur wenige Fälle gegeben, sagt Gutmann. Er vermute, es brauche Zeit, bis sich die Gerichte auf die Verfassungsänderung eingestellt hätten. Währenddessen schreiten das Artensterben, die Rodung von Wäldern und die Vernichtung natürlicher Lebensräume weltweit in Windeseile voran. Die Klimakrise verschärft sich. Der letzte Bericht des Weltklimarats IPCC mahnt Alarmstufe Rot für die Menschheit an.

Zurück im Wedding: Wir verlassen den Garten und stehen an der viel befahrenen Osloer Straße. »Wir Menschen wirken nicht als Partner*innen innerhalb der Ökosysteme, sondern autoritär von oben herab. Das fällt auf uns zurück«, sagt Reinhardt. Der Organismendemokratie gehe es darum, den Menschen nicht länger als außerhalb der Natur stehend zu betrachten, sondern als Teil von ihr. Was aber will die Natur? Und was brauchen Zerfließende Gallertträne und Gepunktete Nesselwanze eigentlich?

»Das ist eine der Gretchenfragen in der Debatte«, sagt Andreas Gutmann. Denn in einem von Menschen gemachten Rechtssystem, auch in der Osloer Straße, sind es am Ende doch wieder Menschen, die entscheiden, ob und in welchem Grad Eingriffe in Naturräume gerechtfertigt sind.

Text: Inga Dreyer und David Schmidt

Foto: Vinit Srivastava on Unsplash

Zuerst erschienen im Neuen Deutschland

Die Autor:innen

Inga Dreyer

ist Redakteurin beim Portal Wissenschaftskommunikation.de und freiberufliche Journalistin in Berlin. Früher düste sie als Lokalreporterin durch die Gegend, heute schreibt sie über Gesellschaftspolitisches, Kulturthemen und Naturfragen. 

Foto: Malte Seidel

David Schmidt

ist freiberuflicher Journalist und befasst sich mit Antworten auf den Klimawandel und das Artensterben. Er war Herausgeber der Zeitschrift fool on the hill in Siegen und Redakteur bei Zeit Online. Er lebt und schreibt in Berlin.

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