Schriftzug "Democracy for Future" auf der Wiese vor dem Reichstag in Berlin. Foto: Mehr Demokratie e.V.

Wir wollen mehr Demokratie! Aber was heißt das?

Unsere Demokratie steckt in einer Krise und wir müssen sie verteidigen, heißt es immer wieder. Doch haben wir es überhaupt verdient, Demokratie genannt zu werden und wie kann unser politisches System in Zukunft aussehen?

»Du kannst die Leute doch nicht selbst enscheiden lassen, die haben doch gar keine Ahnung von so komplexen Themen«.

Forderungen nach mehr Demokratie in Form von Volksentscheiden oder Bürgerräten wird oft ein negatives Menschenbild entgegengestellt. Hier gelten Menschen von Natur aus als faul, passiv, dumm und leicht manipulierbar. Wohlgemerkt sind damit immer die anderen gemeint. Solche Argumente kommen ausgerechnet dann hoch, wenn wir mit unserer Meinung in der Minderheit sind. Wir halten uns oft selbst gerne für klüger, als wir sind und andere für dümmer, als sie sind.

Natürlich müssen wir ehrlich mit uns sein: Die Art, wie unser Hirn funktioniert, hat Nachteile, auch im politischen Raum. Wir sortieren schnell in Schubladen, weil wir ansonsten wegen Reizüberflutung gar nicht funktionieren würden. Wir lassen uns locken von Versprechen, Emotionen und Sensation, um es bei ein paar wenigen Beispielen zu belassen. Menschen sind definitiv anfällig für Manipulation.

Allerdings können wir uns dieser Schwächen auch bewusst sein und uns nicht alleine davon leiten lassen. Jeder Mensch ist grundsätzlich in der Lage, vernünftige Entscheidungen zu treffen. Dieser Grundsatz stammt aus der Zeit der Aufklärung und sollte uns ermutigen, die Fähigkeit der Vernunft all unseren Mitmenschen zuzugestehen – egal wie fremd uns ihre Meinung vorkommt.

Demokratie: Was ist das überhaupt?

In der Zeit der Aufklärung findet sich auch ein ziemlich klares Verständnis von Demokratie. Heutzutage ist der Begriff massiv überladen; er wird in politischen Debatten so häufig benutzt, dass wir gar nicht mehr darüber nachdenken, was er konkret bedeutet. In den Politikwissenschaften denken hingegen sehr viele Menschen schon sehr lange darüber nach und bis heute können sie sich nicht auf eine eindeutige Definition einigen.

Die Herausforderung: Eine Demokratie kann sehr viele Eigenschaften haben. Parlament, Wahlen, Gerichte und so weiter. Aber wenn eine dieser Eigenschaften alleine vorliegt, ist ein Staat nicht automatisch eine Demokratie. Nordkorea hat ein Parlament, Russland hat Wahlen und Ungarn hat Gerichte.

Dieser Text ist erschienen in transform No. 9 – Juhu! Diese Welt geht unter (Bestellen)

Marius Krüger vom Verein Democracy Deutschland bricht es in einem Vortrag herunter. Er arbeitet aus der Menschheitsgeschichte eine einzige Eigenschaft heraus – wenn die vorliegt, ist ein Staat automatisch eine Demokratie. Diese Eigenschaft ist laut ihm Volkssouveränität, das heißt, politische Selbstbestimmung. Die Basis dafür bilden Menschenrechte und die Idee, dass wir alle gleich geboren werden und von Natur aus ein Bedürfnis nach Freiheit haben.

Der Zweck des Ganzen: Macht begrenzen und Frieden sichern. Denn je mehr Macht aufgeteilt wird, desto schwerer ist es, sie zu missbrauchen – zum Beispiel, indem man Krieg führt, um die eigene Macht zu erhalten. Die Frage, wie genau die Selbstbestimmung aussieht, lässt Krüger offen. Aber seine Definition im Hinterkopf zu haben ist hilfreich, wenn wir unser aktuelles politisches System betrachten.

55 Männer und ein wichtiger Wisch

Denn was soll das ganze Vorgeplänkel? Ist doch alles selbstverständlich: Wir haben in Deutschland Menschenrechte und Selbstbestimmung. Wir leben in einer repräsentativen Demokratie, wie jeder Fünftklässler bestätigen würde. Dabei ist wissenschaftlich gar nicht klar, ob es so etwas wie eine repräsentative Demokratie überhaupt geben kann, oder es nicht ein Widerspruch in sich selbst ist.

Es waren einmal 55 alte weiße Männer, die haben einen Wisch unterschrieben. Ein wichtiger Wisch, die Unabhängigkeitserklärung der USA. Das war die erste repräsentative Demokratie der Welt. Die 55 Gründerväter waren allerdings keine Demokraten, völlig egal, welche Definition man wählt. Direkt am Anfang der Unabhängigkeitserklärung steht zwar, dass »alle Menschen gleich erschaffen worden sind«; mit der Realität der USA im Jahre 1776 hatte das aber wenig zu tun.

Vor der Unterzeichnung der Unabhängigkeitserklärung gab es viele Debatten unter den Gründervätern. Darin ging es zum Beispiel darum, wie genau das neue politische System aussehen soll. Dabei warnte James Madison:

»Wenn in England Wahlen für Menschen aus allen Klassen offen wären, wäre der Besitz der Grundstückseigentümer gefährdet. […] Sie müssen an der Regierung beteiligt werden und die Minderheit der Reichen gegen die Mehrheit verteidigen.« Die Gründerväter waren sich nicht in allen Punkten einig, deshalb gab es solche Debatten. Doch an dem politischen System, für das sie sich entschieden haben, ist eine klare Handschrift erkennbar – eine zitternde. Sie hatten Angst vor der Bevölkerung, und davor, ihre Macht mit ihr zu teilen. Sie sahen die repräsentative Demokratie von Anfang an als Mittel zum Zweck, um die wirtschaftliche und politische Macht bei der Elite zu behalten.

An diesem Zeitpunkt wurde die Bedeutung von Demokratie um 180 Grad gedreht – von Selbstbestimmung zu Fremdbestimmung. Auf Macht verzichten, statt sie selbst auszuüben.

Denn Repräsentation bedeutet, dass Andere für uns über uns entscheiden. Das ist ein großer Schritt weg vom Ursprung der Demokratie, selbst wenn wir diese Anderen selbst wählen. Jetzt könnten wir sagen: »Ist mir doch latte, wie wir den Bums nennen, ich finds gut so wie es ist.« Denn wenn wir andere damit beauftragen, müssen wir uns weniger mit Politik beschäftigen. Aber ist das ein Vorteil?

Wer D sagt muss auch K sagen

Wie wir auf diese Frage antworten, hängt wohl von unserem politischen Interesse ab. Das ist aber weder genetisch festgelegt noch für immer in Stein gemeißelt. Wer 40 Stunden die Woche arbeitet, hat danach nur begrenzt Zeit und Energie, sich mit Politik zu beschäftigen.

Diese Erfahrung hat auch Irland gemacht, wo Bürger:innenräte unter anderem die gleichgeschlechtliche Ehe und die Aufhebung des Abtreibungsverbots durchgesetzt haben. Das Gremium hat monatelang an Wochenenden getagt, im Laufe dieses Prozesses sind bis zu 40 Prozent der Teilnehmer:innen abgesprungen.

Das liegt aber nicht daran, dass diese Menschen von Natur aus faul sind oder keinen Bock auf Politik haben. Es ist nicht unsere Menschlichkeit, die einer Demokratie-Revolution im Weg steht. Es sind die Zwänge unseres Wirtschaftssystems.

Wenn wir in Zukunft mehr Demokratie haben wollen, müssen wir ehrlich über die Lebensrealität unseres Alltags sprechen. Für eine derart durchgehende, nachhaltige politische Bildung und Beteiligung fehlen uns einfach die Kapazitäten.

Wer Demokratie sagt, muss also auch Kapitalismus sagen; das heißt nicht unbedingt, dass wir diesen abschaffen müssen, um mehr Demokratie zu erreichen. Es braucht aber sozial- und arbeitspolitische Anpassungen. Technischer Fortschritt gibt uns die Chance, in bestimmten Branchen Arbeitszeiten zu reduzieren. Unsere Angst, von Robotern ersetzt zu werden, wird hinfällig, wenn wir an dem daraus entstehenden Profit beteiligt werden. Das heißt: Auch die Wirtschaft selbst braucht eine Demokratisierung.

Mit weniger finanziellem Stress und weniger Druck, viel arbeiten zu müssen, werden die Tageund die Köpfe frei. Das wird Interesse und Beteiligung steigern – wenn wir nicht glauben, unsere Zeit und Energie zu verschwenden. Das Gefühl, mit der eigenen Stimme wirklich etwas verändern zu können, ist hier ein Faktor mit starkem Einfluss, wie Studien gezeigt haben. Wir brauchen also echte Entscheidungsmacht.

Baby steps

Doch auch wenn die erwähnten Bedingungen gegeben sind, wird es ein langer und schwieriger Weg. Die Vision für eine demokratischere Zukunft steht. Aber was ist im Moment realistisch? Wo fangen wir an? Am besten schärfen wir erstmal die Werkzeuge, die wir schon haben.

Viele deutsche Kommunen veranstalten regelmäßig Bürger:innenhaushalte. Hier können Einwohner:innen selbst Ideen dafür einbringen, wofür die Kommune Geld ausgeben soll. Die Vorschläge werden dann bei der Haushaltsplanung berücksichtigt und die Politiker:innen beziehen dazu Stellung. Dieses Instrument sollte weiter verbreitet und gleichzeitig geschärft werden; etwa, indem die Menschen nicht nur Vorschläge machen, sondern über einen Teil des Haushalts oder eine bestimmte Idee durcheine Abstimmung selbst entscheiden können.

Außerdem braucht es hier große Informationskampagnen und gute, nutzer:innenfreundliche Online-Portale für die Umsetzung. Ein bundesweites Instrument, das in Deutschland ebenfalls schon existiert: Bürger:innenräte. Hier werden Bürger:innen zufällig per Los eingeladen, in mehreren Sitzungen über ein Thema zu diskutieren, Expert:innen anzuhören und am Ende ein Gutachten mit Empfehlungen an den Bundestag auszustellen. Ende September 2023 hat der Bürger:innenrat zum Thema »Ernährung im Wandel« die Arbeit aufgenommen. In dem Moment, in dem das Gutachten an die Politik übergeben wird, kann es allerdings ignoriert und ausgesessen werden.

Auf der anderen Seite sprechen auch Argumente dagegen, den Bürger:innenräten selbst die finale Entscheidung zu überlassen. Schließlich bestehen sie aktuell aus nur 160 ausgelosten Personen. Deshalb ist die Kombination mit einem Volksentscheid auf Bundesebene eine elegante Lösung. Hier wäre das Gutachten des Büger:innenrates eine unabhängige Grundlage für die finale Entscheidung durch alle Bürger:innen.

Vom »Ob« zum »Wie«

Nicht nur bei Politiker:innen, die um ihre Macht fürchten, herrschen Skepsis und Vorurteile gegenüber Volksentscheiden. Das Ganze kann allerdings auch schrittweise ausgeweitet werden. So können wir die Themenfelder erstmal begrenzen, zum Beispiel auf Innenpolitik. Wir können auch einschränken, wann das Verfahren angewendet wird – nur bei Verfassungsfragen, oder wenn ein bestimmter Anteil des Parlamentes oder des Volkes es wünscht.

Solche Details können in Diskussionen um das »Wie« geklärt werden, sobald es Einigkeit in der Frage nach dem »Ob« gibt. Die kleinsten Schritte haben im Moment die größte Chance, umgesetzt zu werden. Denn sie gefährden nicht die Macht der Politiker:innen, die über die Umsetzung entscheiden. Aber wenn wir abwarten, bis unsere Politiker:innen diese und weitere Schritte einleiten, wird die am Anfang gezeichnete Vision eine entfernte Utopie bleiben.

Tatsächliche Entscheidungsmacht wird niemals freiwillig abgegeben. Wir müssen sie uns nehmen. Wir können die begrenzten Möglichkeiten zur Mitbestimmung nutzen, die wir auf Kommunal-, Landes-, und Bundesebene haben. Wir können uns in Diskussionen mit Freund:innen oder auf der Straße für Demokratie einsetzen. Wir können Vereine unterstützen oder Repräsentant:innen wählen, die sich für Demkratie einsetzen. Wir können uns für eine demokratischere Zukunft entscheiden.

Transparenzhinweis: Der Autor ist Mitglied im Verein Democracy Deutschland.

Foto: Mehr Demokratie e.V. auf Flickr

Weiterlesen

“Systematisch verzerrte Entscheidungen? Die Responsivität der deutschen Politik von 1998 bis 2015”: Eine Begleitstudie zum Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, laut dem die Politik in diesem Zeitraum die Interessen der reichsten 10 Prozent abgebildet hat, nicht aber die der ärmsten 10 Prozent. (Zur Studie)

“Representation and Democracy: Uneasy Alliance”: Die Politikwissenschaftlerin Hannah Pitkin skizziert, wie Demokratie und Repräsentation eine Art Zwangsehe eingingen und wie sich so das Verständnis von Demokratie wandelte. (Zum Essay)

Handeln

“Abstimmung 21”: Die Initiative organisiert selbst bundesweite Volksabstimmungen. Im Jahr 2021 haben 160.000 Menschen über die Widerspruchsregelung bei Organspenden, Profit mit Krankenhäusern, eine 1,5-Grad-gerechte Klimapolitik und die Einführung eines bundesweiten Volksentscheides abgestimmt. (Zur Website)

“Democracy App”: User:innen können über die gleichen Gesetze und Anträge abstimmen wie der Bundestag. Das Abstimmungsverhalten wird verglichen, die prozentuale Übereinstimmung liefert eine Wahlhilfe, die auf echten Entscheidungen basiert. (Zur App)

Futurium: Das Futurium oder das Haus der Zukünfte ist eine Ausstellung, ein Lab zum Ausprobieren und ein Dialogforum in Berlin. Eintritt frei. (Zur Website)

Media

“Demokratie zwischen Innen und Außen”: Online-Vortrag von Demokratieaktivist Marius Krüger über Einstellungen zu Direkter Demokratie. (Zum Vortrag bei YouTube)

Quellen

“Denken hilft zwar, nützt aber nichts” (2015): Dan Ariely liefert eine Vielzahl an Beispielen dafür, wie unser Gehirn uns im Weg steht und warum wir unvernünftige Entscheidungen treffen. (Zum Buch)

“Demokratie contra Kapitalismus” (2010). Die marxistische Theoretikerin Ellen M. Wood hat ein Buch über die Widersprüche der beiden Konzepte geschrieben. (Zum Buch)

Notizen aus den geheimen Debatten der ,Federal Convention’ 1787: Das englische Zitat aus dem Text findest du, wenn du etwa nach dem Wort “opulent” suchst. (Zur Website)

“Verbreitung der Mitarbeiterkapitalbeteiligung in Deutschland und Europa – Entwicklungsperspektiven” (2020) Eine Studie im Auftrag des Bundeswirtschaftsministeriums zu der Frage, in welcher Form Arbeiter:innen in Deutschland und Europa am Kapital der Firma beteiligt werden, bei der sie arbeiten. (Zur Studie)

“The embarrassment of riches? A meta-analysis of individual-level research on voter turnout” (2013) Welche Faktoren entscheiden darüber, ob Menschen wählen gehen? Ein Überblick. (Zur Studie)


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